62 Der süße Schlaf

Der Johan-Fredrik-Berwald-Wettbewerb war zweifellos Nordeuropas prestigeträchtigster Wettbewerb für junge Geiger. Diverse weltweit bekannte Virtuosen wurden dort entdeckt und auf einen Schlag ins große, blendende Scheinwerferlicht gerückt. Für das Finale hatten sich drei Solisten qualifiziert, in sechs Durchgängen hatten immer weniger Teilnehmer vor einer Jury gespielt. Das Finale sollte anlässlich eines live im Fernsehen übertragenen Konzerts unter der Leitung von Herbert Blomstedt vor großem Publikum stattfinden.

In Musikerkreisen galt es als Sensation, dass zwei der Finalisten, Axel Riessen und Greta Stiernlood, am Königlichen Konservatorium in Stockholm studierten. Der dritte Finalist war Shiro Sasaki aus Japan.

Für Alice Riessen, die selbst eine Berufsmusikerin gewesen war, die den großen Durchbruch nicht geschafft hatte, waren die Erfolge ihres Sohnes Axel ein großer Triumph. Insbesondere nachdem sie eine Reihe von Verwarnungen vom Rektor der Hochschule erhalten hatte, weil Axel Vorlesungen fernblieb und bisweilen den ganzen Tag über unkonzentriert und nachlässig war.

Nachdem sie die dritte Runde erreicht hatten, wurden Axel und Greta vom Unterricht befreit, um all ihre Zeit den Proben für den nächsten Durchgang widmen zu können. Im Laufe des Wettbewerbs hatten sie einander näher kennengelernt, freuten sich über die Erfolge des anderen. Vor dem Finale begannen sie, sich bei Axel zu treffen, um sich gegenseitig zu unterstützen.

Der letzte Wettbewerbsbeitrag war ein Stück, das der Geiger selbst oder in Absprache mit seinem Lehrer auswählte.

Axel und seinem jüngeren Bruder Robert standen die sieben Zimmer in der obersten Etage des großen Hauses im Stadtteil Lärkstaden zur Verfügung. Axel übte im Prinzip nie auf seinem Instrument, liebte es aber zu spielen, sich neue Stücke zu erarbeiten, Klänge auszuloten, die er noch nie gehört hatte. Manchmal blieb er bis tief in die Nacht auf, spielte auf seiner Geige und erforschte ihr Wesen, bis seine Fingerkuppen am Ende brannten.

Es blieb ihnen nur noch ein Tag. Am nächsten Abend würden Axel und Greta im Konzerthaus in der Finalrunde spielen. Axel betrachtete die LP-Cover, die auf dem Fußboden vor seinem Plattenspieler verstreut lagen. Es waren drei Alben von David Bowie, »Space Oddity«, »Alladin Sane« und »Hunky Dory«.

Seine Mutter klopfte an die Tür und trat mit einer Flasche Coca-Cola und zwei Gläsern mit Eiswürfeln und Zitronenscheiben ein. Axel bedankte sich leicht erstaunt, nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf den Couchtisch.

»Ich dachte, ihr würdet üben«, sagte Alice und schaute sich um.

»Greta musste zum Essen nach Hause.«

»Aber du kannst doch in der Zwischenzeit weitermachen.«

»Ich warte auf sie.«

»Du weißt, dass morgen das Finale ist«, sagte Alice und setzte sich neben ihren Sohn. »Ich übe mindestens acht Stunden am Tag, manchmal habe ich zehn Stunden täglich gearbeitet.«

»Ich bin nicht einmal zehn Stunden am Tag wach«, scherzte Axel.

»Axel, du hast Talent.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es einfach. Aber das reicht nicht, das reicht bei niemandem«, erklärte sie.

»Mama, ich übe wie verrückt«, log er.

»Spiel mir vor«, bat sie ihn.

»Nein«, entgegnete er schroff.

»Ich verstehe ja, dass du deine Mutter nicht als Lehrerin haben willst, aber jetzt, wo es darauf ankommt, könntest du es ruhig zulassen, dass ich dir helfe«, fuhr Alice geduldig fort. »Als ich dich das letzte Mal gehört habe, was immerhin schon zwei Jahre her ist, auf einem Weihnachtskonzert, hat keiner begriffen, was du da gespielt hast …«

»Bowies ›Cracked Actor‹.«

»Das war unreif … aber für einen Fünfzehnjährigen ziemlich beeindruckend«, gestand sie und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. »Aber morgen, da …«

Axel entzog sich der Hand seiner Mutter:

»Kritisier mich nicht immer.«

»Darf ich erfahren, für welches Stück du dich entschieden hast?«

»Für etwas Klassisches«, antwortete er mit einem breiten Grinsen.

»Gott sei Dank.«

Er zuckte mit den Schultern und wich ihrem Blick aus. Als es an der Tür klingelte, verließ er den Raum und eilte die Treppen hinunter.

Es dämmerte bereits, aber der Schnee hatte im Freien ein indirektes Licht geschaffen, eine Dunkelheit, die sich nicht weiter verdichtete. Greta stand mit einer Baskenmütze auf dem Kopf und in einem Dufflecoat auf der Eingangstreppe. Der gestreifte Schal war um ihren Hals geschlungen. Ihre Wangen leuchteten rot von der Kälte, und die Haare, die auf ihre Schultern fielen, hingen voller Schneeflocken. Sie legte den Geigenkasten auf die Kommode im Flur, hängte ihren Mantel sorgsam auf, schnürte die schwarzen Stiefel auf und holte ihre flachen Hausschuhe aus der Umhängetasche.

Alice Riessen kam herunter und begrüßte Greta. Sie war aufgekratzt, und ihre Wangen hatten sich vor Freude gerötet:

»Es ist gut, dass ihr euch gegenseitig beim Üben helft«, sagte sie. »Du musst streng sein mit Axel, sonst faulenzt er nur.«

»Das habe ich gemerkt«, erwiderte Greta lachend.

Greta Stiernlood war die Tochter eines Industriellen, der Großaktionär bei Saab Scania, der Enskilda Banken und anderen Unternehmen war. Greta war alleine bei ihrem Vater aufgewachsen – ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie noch sehr klein war, und sie hatte ihre Mutter seither nie wieder gesehen. Sehr früh – vielleicht schon vor ihrer Geburt – hatte ihr Vater beschlossen, dass sie Geigerin werden sollte.

Als sie Axels Musikzimmer betraten, ging Greta zum Flügel. Die glänzenden lockigen Haare fielen offen auf ihre Schultern herab. Sie trug eine weiße Bluse und einen Rock im Schottenmuster, einen dunkelblauen Pullunder und eine gestreifte Strumpfhose.

Sie packte ihre Geige aus, befestigte die Kinnstütze, strich mit einem Baumwolllappen das Harz fort, das auf den Saiten haftete, spannte den Bogen und platzierte die Noten auf dem Ständer. Rasch überprüfte sie, dass die Geige sich durch die Kälte und die Feuchtigkeitsunterschiede nicht verstimmt hatte.

Dann begann sie zu üben. Sie spielte wie immer mit halb geschlossenen Augen und in sich gekehrtem Blick. Ihre langen Wimpern warfen zitternde Schatten auf ihr errötendes Gesicht. Das Stück war Axel vertraut: die erste Stimme aus Beethovens fünfzehntem Streichquartett. Ein ernstes und suchendes Thema.

Er lauschte, lächelte und dachte, dass Greta ein Gespür für Musik hatte, eine Ehrlichkeit in ihren Interpretationen, die seinen Respekt weckte.

»Schön«, sagte er, als sie aufhörte.

Sie tauschte die Noten aus und pustete auf ihre wunden Finger.

»Aber ich kann mich nicht entscheiden … weißt du, Vater wollte von mir wissen, was ich spielen will, er sagt, dass ich Tartini spielen soll, die Violinsonate in G-Moll.«

Sie verstummte, sah auf die Noten, folgte ihnen mit den Augen, zählte Sechzehntel und verinnerlichte komplizierte Legato-Stellen.

»Aber ich bin mir nicht sicher, ich …«

»Darf ich es hören?«, fragte Axel.

»Es klingt furchtbar«, erwiderte sie und errötete.

Sie spielte mit angespanntem Gesicht den letzten Satz. Das Stück war schön und traurig, aber gegen Ende, wo die höchsten Töne der Geige emporschießen müssen wie ein loderndes Feuer, wurde sie langsamer.

»Mist«, flüsterte sie und nahm die Geige in Ruheposition unter ihren Arm. »Ich bin nicht mehr mitgekommen, ich habe wirklich gerackert wie eine Blöde, aber ich muss noch mehr Wert auf die Sechzehntel und die Triolen legen, die …«

»Also mir hat dieses Schwanken gefallen, als würdest du einen großen Spiegel biegen, sodass …«

»Ich habe falsch gespielt«, unterbrach sie ihn und errötete noch heftiger. »Entschuldige, ich weiß, du versuchst nur, nett zu sein, aber so geht das nicht, ich muss richtig spielen. Es ist doch verrückt, dass ich hier am Vorabend sitze und mich nicht entscheiden kann, ob ich das leichte nehmen oder auf das schwere Stück setzen soll.«

»Du kannst doch beide, also …«

»Nein, kann ich nicht, es wäre ein Wagnis«, entgegnete sie. »Aber gib mir ein paar Stunden, drei Stunden, dann traue ich mich vielleicht, morgen auf Tartini zu setzen.«

»Du kannst das doch nicht nur tun, weil dein Vater findet, dass …«

»Aber er hat ja recht.«

»Nein«, widersprach Axel und rollte langsam einen Joint.

»Ich kann das Leichtere«, fuhr sie fort, »aber das reicht möglicherweise nicht, es kommt ganz darauf an, für was ihr zwei, du und der japanische Junge, euch entscheidet.«

»So kann man nicht denken.«

»Wie soll man denn dann denken? Ich habe dich nicht ein einziges Mal üben sehen. Was wirst du spielen – hast du dich überhaupt schon entschieden?«

»Ravel«, antwortete er.

»Ravel? Ohne zu üben?«

Sie lachte.

»Im Ernst?«, fragte sie.

»Ravels ›Tzigane‹ – und nichts anderes.«

»Axel, entschuldige, aber das ist eine völlig irrsinnige Wahl, das weißt du, das Stück ist zu kompliziert, zu schnell, zu übermütig und …«

»Ich will es wie Perlman spielen, aber ohne Hast … denn eigentlich ist es gar nicht schnell.«

»Axel, es ist schrecklich schnell«, sagte sie und lächelte.

»Ja, für den Hasen, der gejagt wird … aber dem Wolf geht es zu langsam.«

Sie warf ihm einen müden Blick zu.

»Wo hast du denn das gelesen?«

»Das soll Paganini gesagt haben.«

»So so, dann muss ich mir also nur noch Sorgen wegen meines japanischen Kontrahenten machen«, erklärte sie und legte die Geige an die Schulter. »Du übst nicht, Axel, du kannst Ravels ›Tzigane‹ nicht spielen.«

»Es ist gar nicht so schwer, wie alle sagen«, sagte er und zündete seinen Joint an.

»Nein«, sagte sie lächelnd und begann wieder zu spielen.

Dann unterbrach sie ihr Spiel und sah ihn mit ernster Miene an.

»Du willst Ravel spielen?«

»Ja.«

Sie wurde ernst.

»Hast du mich angelogen? Übst du das Stück seit vier Jahren, oder was ist hier los?«

»Ich habe mich eben erst entschieden – als du gefragt hast.«

»Wie kannst du nur so dumm sein?«, sagte sie.

»Es ist mir egal, ob ich den letzten Platz belege«, sagte er und legte sich auf die Couch.

»Mir ist es nicht egal«, erwiderte sie.

»Ich weiß, aber es wird noch mehr Chancen geben.«

»Nicht für mich.«

Sie begann erneut, das schwere Stück von Tartini zu spielen, das jetzt besser lief, dennoch stoppte sie vorzeitig, spielte noch einmal die komplizierte Partie und danach noch einmal.

Axel klatschte in die Hände, legte David Bowies »The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars« auf und führte den Tonarm über die LP. Er legte sich hin, schloss die Augen und sang den Song mit.

»Ziggy really sang, screwed up eyes and screwed down hairdo. Like som cat from Japan, he could lick’em by smiling. He could leave’em to hang.«

Greta zögerte, legte die Geige ab, ging zu ihm und nahm ihm den Joint aus der Hand. Sie rauchte ein paar Züge, hustete und gab ihn zurück.

»Wie kann man nur so dumm sein wie du?«, fragte sie und strich ihm plötzlich über die Lippen.

Sie beugte sich vor und versuchte, ihn auf den Mund zu küssen, der Kuss landete daneben, sie küsste ihn auf die Wange, flüsterte Entschuldigung und küsste ihn noch einmal. Sie küssten sich weiter, vorsichtig, tastend. Er zog ihr den Pullunder aus, und ihre Haare knisterten vor statischer Elektrizität. Er bekam einen Schlag, als er ihre Wange berührte, und zog hastig die Hand zurück. Sie lächelten sich nervös an und küssten sich wieder. Er knöpfte ihre weiße gebügelte Bluse auf und spürte die kleinen Brüste durch ihren schlichten BH. Sie half ihm, das T-Shirt auszuziehen. Ihre langen, gelockten Haare rochen nach Schnee und Winter, aber ihr Körper war so warm wie frisch gebackenes Brot.

Sie gingen ins Schlafzimmer und sanken auf sein Bett. Mit zitternden Händen knöpfte sie den gefütterten Wickelrock auf und hielt anschließend ihren Slip fest, damit er nicht mitrutschte, als er ihre dicke gestreifte Strumpfhose herunterzog.

»Was ist?«, flüsterte er. »Willst du aufhören?«

»Ich weiß nicht – willst du aufhören?«

»Nein«, antwortete er lächelnd.

»Ich bin nur ein bisschen nervös«, sagte sie aufrichtig.

»Aber du bist doch älter als ich.«

»Stimmt, du bist erst siebzehn − das ist ja fast ein bisschen unanständig.«

Axels Herz schlug bis zum Hals, als er ihren Slip herabzog. Sie lag vollkommen still, als er ihren Bauch, die kleinen Brüste, den Hals, das Kinn, die Lippen küsste. Sie spreizte vorsichtig die Beine, und er legte sich auf sie, spürte, wie sie langsam ihre Schenkel gegen seine Hüften presste. Als er in sie hineinglitt, liefen ihre Wangen feuerrot an. Sie zog ihn an sich, streichelte seinen Nacken und Rücken und seufzte jedes Mal leise, wenn er in sie hineinsank.

Als sie schließlich keuchend zur Ruhe kamen, hatte sich zwischen ihren nackten Körpern eine dünne Schicht aus warmem Schweiß gebildet. Eng umschlungen lagen sie mit geschlossenen Augen in seinem Bett und schliefen schon bald ein.

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