Als Joona Linna mit schnellen Schritten den Bragevägen hinaufgeht, dringt aus der Deutschen Schule das Lachen und Johlen von Kindern zu ihm heraus.
Er klingelt an Axel Riessens Tür und hört leise die Töne einer wohlklingenden Glocke im Inneren des Hauses. Nachdem er einen Moment gewartet hat, beschließt er, um das Haus herumzugehen. Plötzlich hört er einen kreischenden Misston auf einem Streichinstrument. Jemand befindet sich im Schatten unter einem Laubbaum. Joona bleibt in einiger Entfernung stehen. Auf den Marmorplatten der Terrasse steht ein Mädchen mit einer Geige. Sie ist ungefähr fünfzehn Jahre alt. Ihre Haare sind sehr kurz, und sie hat auf ihren Armen gezeichnet. Neben ihr steht Axel Riessen, der nickt und neugierig zuhört, als sie den Bogen über die Saiten zieht. Es sieht aus, als würde sie das Instrument zum ersten Mal in der Hand halten. Vielleicht ist es Axel Riessens Tochter, oder ein Enkelkind, denn er sieht sie unablässig warmherzig und neugierig an.
Der Bogen streicht mit einem schlurfenden, quietschenden Laut schräg über die Saiten.
»Sie ist bestimmt ganz verstimmt«, schlägt das Mädchen als Erklärung für den schiefen Ton vor.
Sie lächelt und gibt das Instrument behutsam zurück.
»Wenn man Geige spielt, geht es ums Gehör«, sagt Axel freundlich. »Man lauscht, hört die Musik in sich und überführt sie anschließend in die Wirklichkeit.«
Er setzt die Geige an und spielt die Anfangsmelodie von »La seguidilla« aus Bizets Oper »Carmen«, hält inne und zeigt ihr die Geige.
»Jetzt stimme ich die Saiten mal so, mal so um«, sagt er und dreht die Wirbel viele Male in verschiedene Richtungen.
»Warum willst …«
»Jetzt ist die Geige völlig verstimmt«, fährt er fort. »Und wenn ich das Stück nur mechanisch gelernt hätte, mit exakten Fingerpositionen, wie ich es gerade gespielt habe, dann klingt es so.«
Er spielt erneut »La seguidilla«, und es klingt grauenhaft, ist kaum wiederzuerkennen
»Wundervoll«, scherzt sie.
»Aber lauscht man stattdessen den Saiten«, sagt er und schlägt die E-Saite an. »Hörst du? Sie ist natürlich viel zu tief gestimmt, aber das heißt nichts, man muss es nur ausgleichen, indem man den Ton an einer höheren Stelle auf dem Hals spielt.«
Joona sieht Axel Riessen die Geige ansetzen und das Stück noch einmal auf der völlig verstimmten Geige spielen, mit einem höchst seltsamen Fingersatz, aber den exakt richtigen Tönen. »La seguidilla« ertönt plötzlich wieder perfekt.
»Du kannst zaubern«, ruft das Mädchen lachend und klatscht in die Hände.
»Hallo«, sagt Joona Linna, geht zu den beiden und gibt erst Axel Riessen und dann dem Mädchen die Hand.
Er sieht Axel an, der die ungestimmte Geige in der Hand hält.
»Beeindruckend.«
Axel folgt seinem Blick auf die Geige und schüttelt den Kopf:
»Ehrlich gesagt habe ich seit vierunddreißig Jahren nicht mehr gespielt«, sagt er in einem seltsamen Tonfall.
»Glaubst du ihm das?«, fragt Joona das Mädchen.
Sie nickt und meint anschließend:
»Siehst du nicht den Lichtschein?«
»Beverly«, sagt Axel leise.
Sie sieht ihn lächelnd an und geht anschließend zwischen den Bäumen davon.
Joona nickt Axel Riessen zu:
»Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Ich muss mich bei Ihnen dafür entschuldigen, dass ich einfach verschwunden bin«, sagt Axel und beginnt, die Geige zu stimmen. »Aber ich musste in einer dringenden Angelegenheit fort.«
»Kein Problem – ich bin zurückgekommen.«
Joona sieht Axel Riessen das Mädchen beobachten, das einige Blumen vom Unkraut in dem schattigen Rasen pflückt.
»Gibt es drinnen irgendwo eine Vase?«, fragt sie.
»In der Küche«, antwortet er.
Sie trägt den kleinen Strauß aus Pusteblumen durch die Tür.
»Ihre Lieblingsblume«, erläutert Axel Riessen und lauscht der G-Saite, dreht am Wirbel und legt die Geige auf dem Mosaiktisch ab.
»Ich möchte, dass Sie sich dieses Foto anschauen«, sagt Joona und zieht das Bild aus der Plastikhülle.
Sie setzen sich an den Tisch. Axel Riessen zieht eine Brille aus der Brusttasche und mustert die Aufnahme eingehend.
»Wann ist dieses Bild entstanden?«, fragt er.
»Das wissen wir nicht genau, aber wahrscheinlich im Frühjahr 2008«, antwortet Joona.
»Aha«, sagt Axel und sieht sofort entspannter aus.
»Sie erkennen die Personen?«, fragt Joona ruhig.
»Natürlich«, antwortet Axel. »Palmcrona, Pontus Salman, Raphael Guidi und … Agathe al-Haji.«
»Aber ehrlich gesagt bin ich hier, weil ich möchte, dass Sie sich die Musiker im Hintergrund anschauen.«
Axel sieht Joona fragend an und betrachtet anschließend erneut das Foto.
»Das Tokyo String Quartet … es ist sehr gut«, sagt er.
»Ja, aber ich frage mich … also ich habe überlegt, ob es einer kundigen Person möglich sein könnte … anhand des Bilds zu erkennen, welches Stück das Streichquartett spielt.«
»Interessante Frage.«
»Ist es überhaupt möglich, zu einer begründeten Vermutung zu kommen? Kaj Samuelsson meinte Nein, und als Ihr Bruder Robert sich das Bild ansah, hielt er es auch für unmöglich.«
Joona lehnt sich vor, seine Augen werden im lauschigen Schatten sanft.
»Für Ihren Bruder stand fest, dass es niemand kann – wenn Sie es nicht schaffen.«
Plötzlich spielt ein Lächeln in Axels Mundwinkel.
»Das hat er gesagt?«
»Ja«, antwortet Joona. »Aber ich verstehe nicht, was er gemeint hat …«
»Ich auch nicht«, sagt Axel.
»Ich möchte trotzdem, dass Sie sich das Bild mit einer Lupe ansehen.«
»Sie denken, dass man auf diese Art den Zeitpunkt des Treffens bestimmen kann«, sagt Axel ernst.
Joona nickt, zieht eine Lupe aus der Tasche und reicht sie Axel.
»Jetzt müssten Sie ihre Finger sehen können«, sagt Joona.
Er schweigt, sieht Axel das Foto studieren. Wenn das Bild vor der Anklage gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Bashir entstanden ist, hat ihn seine Intuition in die Irre geleitet. Sollte es dagegen nach dem Haftbefehl gemacht worden sein, hätte er recht damit gehabt, dass es um kriminelle Machenschaften ging.
»Richtig, ich sehe ihre Finger«, erwidert Axel.
»Können Sie erraten, welche Töne die Musiker spielen?«, fragt Joona.
Axel seufzt, gibt Joona Foto und Lupe zurück und singt unvermittelt vier Töne. Relativ leise, aber ganz klare Töne. Er lauscht einen Moment in sich hinein, nimmt anschließend die Geige vom Mosaiktisch und schlägt zwei relativ hohe, vibrierende Töne an.
Joona Linna ist aufgestanden.
»Machen Sie Witze?«
Axel Riessen begegnet seinem Blick:
»Martin Beaver spielt ein dreigestrichenes C, Kikuei spielt ein zweigestrichenes C. Kazuhide Isomura hat eine Pause, und Clive spielt ein vierstimmiges Pizzicato. Das war es, was ich gesungen habe, großes E, großes A, kleines A und das eingestrichene Cis.«
Joona macht sich Notizen und fragt:
»Wie genau ist Ihre Vermutung?«
»Das ist keine Vermutung«, antwortet Axel.
»Glauben Sie, dass es diese Kombination von Tönen in vielen Stücken gibt? Ich meine … könnte sich mithilfe dieser Töne einkreisen lassen, welches Stück das Tokyo String Quartet auf dem Bild spielt?«
»Diese Töne gibt es so nur an einer Stelle«, antwortet Axel.
»Woher wissen Sie das?«
Axel wendet den Blick zum Fenster. Das große zitternde Laubwerk spiegelt sich im Glas.
»Sprechen Sie bitte weiter«, sagt Joona.
»Ich habe sicher nicht alle Stücke gehört, die sie gespielt haben …«
Axel zuckt entschuldigend mit den Schultern.
»Aber Sie meinen, dass man diese Töne in einem bestimmten Stück finden kann?«
»Diese Kombination gibt es meines Wissens nur an einer Stelle«, sagt Axel. »In Takt 156 im ersten Satz von Béla Bartóks zweitem Streichquartett.«
Wieder greift er zur Geige und setzt sie an.
»Tranquillo … die Musik wird ganz wundersam still, wie ein Wiegenlied. Hören Sie sich die erste Stimme an«, sagt er und beginnt zu spielen.
Seine Finger bewegen sich zärtlich, die Töne vibrieren, wiegen sich sanft, hell und ganz weich. Nach nur vier Takten hört er auf zu spielen.
»Die beiden Geigen folgen einander, es sind die gleichen Töne, aber in verschiedenen Oktaven«, erläutert er. »Es ist fast schon zu schön, aber zum A-Dur-Akkord des Cellos bilden die Geigen Dissonanzen … auch wenn man sie nicht so wahrnimmt, weil sie eine Art Überleitungstöne sind, die …«
Er bricht ab, verstummt und legt die Geige fort.
Joona sieht ihn an.
»Sie sind ganz sicher, dass die Musiker auf dem Bild Bartóks zweites Streichquartett spielen?«, fragt er leise.
»Ja.«
Joona geht ein paar Schritte quer über die Terrasse, bleibt bei den Fliederdolden stehen und überlegt, dass er wahrscheinlich alles gehört hat, was er benötigt, um den Zeitpunkt des Treffens ermitteln zu können.
Er lächelt in sich hinein, verbirgt das Lächeln hinter seiner Hand, dreht sich um, nimmt sich einen roten Apfel aus der Schüssel auf dem Mosaiktisch und begegnet anschließend Axels fragendem Blick.
»Sie sind sich wirklich absolut sicher?«, fragt er erneut.
Axel nickt, und Joona gibt ihm den Apfel, entschuldigt sich, zieht das Handy aus seiner Jacketttasche und ruft Anja an.
»Anja, ich habe es gerade ziemlich eilig …«
»Wir wollten doch am Wochenende in die Sauna gehen.«
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Ich weiß«, kichert Anja.
Joona versucht die Aufregung in seiner Stimme zu beherrschen.
»Kannst du das Repertoire des Tokyo String Quartetts in den letzten zehn Jahren ermitteln?«
»Ich habe ihr Repertoire schon ermittelt.«
»Kannst du herausfinden, was sie in diesem Zeitraum in der Alten Oper in Frankfurt gespielt haben?«
»Ja, sie sind dort jedes Jahr aufgetreten, manchmal sogar mehrmals.«
»Haben sie irgendwann Béla Bartóks zweites Streichquartett gespielt?«
Nach etwas Bedenkzeit antwortet sie:
»Ja, ein einziges Mal, Opus siebzehn.«
»Opus siebzehn«, wiederholt Joona und sieht Axel Riessen an, der bestätigend nickt.
»Was ist?«, fragt Anja.
»Wann?«, erkundigt sich Joona. »Wann haben sie Bartóks zweites Streichquartett gespielt?«
»Am dreizehnten November 2009.«
»Bist du sicher?«, fragt Joona.
Die Personen auf dem Foto haben sich acht Monate nach der Ausstellung des Haftbefehls gegen den sudanesischen Präsidenten getroffen, denkt er. Pontus Salman hat uns angelogen. Sie haben sich im November 2009 getroffen. Deshalb ist das alles geschehen. Menschen sind tot, und weitere werden unter Umständen sterben.
Joona streckt die Hand aus und berührt die violetten Fliederblüten, riecht den Rauch von einem Grill in einem benachbarten Garten und denkt, dass er Saga Bauer erreichen und ihr von diesem Durchbruch erzählen muss.
»War das alles?«, fragt Anja am Telefon.
»Ja.«
»Darf man auch das kleine Zauberwort hören?«
»Ja, entschuldige … Kiitokseksi saat pusun«, sagt Joona, »als Dank bekommst du einen Kuss.« Er beendet das Gespräch.
Pontus Salman hat uns angelogen, denkt er erneut. Als er sich mit Palmcrona, Raphael Guidi und Agathe al-Haji traf, gab es ein Waffenembargo. Alle Geschäfte dieser Art waren verboten, es gab keine Ausnahmen oder Schlupflöcher. Aber Agathe al-Haji wollte Munition kaufen, und die anderen wollten Geld verdienen. Die Menschenrechte oder internationales Recht waren ihnen völlig egal.
Pontus Salman hat mit eiskalter Stimme den falschen Zeitpunkt angegeben. Er dachte, ein paar überraschende Wahrheiten in seinen Ausführungen würden seine Lüge verbergen. Weil er ohne Umschweife gestand, dass er auf dem Bild zu sehen war, glaubte er, dass wir uns zufrieden geben und seine Lüge über den Zeitpunkt des Treffens schlucken würden.
Joona sieht Salman vor sich, sein regungsloses Gesicht, graublass und mit tiefen Falten. Seine gespielte Aufrichtigkeit, als er sich selbst identifiziert und den Zeitpunkt nennt.
Waffenschmuggel, flüstert es in seinem Kopf. Bei all dem, dem Foto, der Erpressung und den getöteten Menschen, geht es um Waffenschmuggel.
Er sieht vor sich, wie Saga Bauer nach Salmans Zeugenaussage aufsteht und ihre fünf Fingerabdrücke wie blasse Denkmäler auf dem Schreibtisch zurückbleiben.
Im März 2009 stellte der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wegen direkter Beteiligung am Völkermord von drei Volksstämmen in Darfur einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Bashir aus. Seither sind alle Munitionslieferungen aus der restlichen Welt eingestellt worden. Die sudanesische Armee hat zwar noch ihre Waffen, Maschinengewehre und Sturmgewehre, aber relativ schnell geht ihr die Munition aus. Die Ersten, die den fehlenden Nachschub zu spüren bekommen, sind natürlich die Milizen in Darfur. Aber Carl Palmcrona, Pontus Salman, Raphael Guidi und Agathe al-Haji stellen sich über internationales Recht. Sie treffen sich im November, obwohl die Beteiligung des Präsidenten am Völkermord acht Monate vorher publik geworden ist.
»Was haben Sie erfahren?«, fragt Axel und steht auf.
»Bitte?«
»Ließ sich der Zeitpunkt bestimmen?«
»Ja«, antwortet Joona kurz.
Axel Riessen sucht Joonas Blick.
»Was stimmt nicht?«, fragt er.
»Ich muss gehen«, murmelt Joona.
»Haben die vier sich etwa nach dem Haftbefehl gegen al-Bashir getroffen? Das können sie doch nicht getan haben. Ich muss wissen, ob es so war!«
Joona blickt auf und sieht Axel Riessen in die Augen, sie sind ganz ruhig und leuchten.