56 Der Hubschrauber

Penelope steht am Fenster. Ein Blitz lässt den Himmel aufleuchten, dann rollt der Donner über das Meer. Es gießt in Strömen. Björn ist an Bord des Polizeiboots gegangen und im Ruderhaus verschwunden. Der heftige Wolkenbruch lässt das Wasser schäumen. Sie sieht Ossian Wallenberg mit einem gelben Regenschirm über dem Kopf zum Meer hinunterstolpern. Die Metalltür zum Ruderhaus des Boots geht auf, und ein uniformierter Polizist tritt auf das Vordeck hinaus, springt auf den Steg und macht das Boot fest.

Erst als der Polizist den Kiesweg hinaufgeht, erkennt Penelope, wer er ist.

Ihr Verfolger erwidert Ossians Gruß nicht einmal, sondern streckt stattdessen sofort seine linke Hand aus und packt Ossians Kinn.

Penelope merkt nicht, dass sie das Handy fallen lässt.

Mit sachlicher Härte dreht der uniformierte Mann Ossians Gesicht zur Seite. Der gelbe Regenschirm fällt auf die Erde und rollt ein Stück die Böschung hinunter. Das Ganze ist binnen weniger Augenblicke vorbei. Der Verfolger bleibt nicht einmal wirklich stehen, als er mit seiner freien Hand einen kurzen Dolch zieht. Er dreht Ossians Gesicht noch ein wenig weiter und sticht ihm anschließend blitzschnell in den Nacken, über dem Atlas, direkt in den Hirnstamm. Wie der Biss einer Schlange. Als Ossian zu Boden fällt, ist er schon tot.

Der uniformierte Verfolger eilt mit großen Schritten auf das Haus zu. Das fahle Licht eines Blitzes beleuchtet plötzlich sein Gesicht, und Penelope begegnet durch den Regen hindurch seinem Blick. Ehe es wieder dunkel wird, sieht sie für Sekundenbruchteile die bekümmerten Züge seines Gesichts. Die müden, traurigen Augen und den Mund mit der tiefen Narbe. Der Donner grollt. Der Mann nähert sich dem Haus. Penelope bleibt am Fenster stehen. Sie atmet schnell, ergreift jedoch nicht die Flucht, ist wie gelähmt.

Regen prasselt auf das Fensterblech und gegen das Glas. Die Welt draußen erscheint ihr seltsam fern. Aber auf einmal taucht hinter dem Mann ein anderes, vollkommen gelbes Licht auf. Der Bootssteg, das Wasser und der Himmel leuchten strahlend. Von dem Polizeiboot steigt eine Flamme in die Höhe wie eine große Eiche aus Feuer. Metallteile werden in die Luft geschleudert. Die Feuerwolke wächst und pulsiert in orangen Farbschattierungen. Die Hitzewelle der Explosion entflammt das Schilf und den Steg, und gleichzeitig erreichen die Druckwelle und der Knall der Explosion das Haus.

Erst als die klappernde Fensterscheibe vor Penelopes Gesicht auf der ganzen Breite springt, reagiert sie. Der Regen fällt und trifft den schwarzen Rauch, der hinter dem Verfolger aus den Überresten des Boots aufwallt. Er eilt zum Haus hinauf. Penelope dreht sich um, rennt durch die Zimmer, steigt über den von Ossian weggerückten Sessel, gelangt in den Flur mit den signierten Porträts, öffnet die Haustür und läuft quer über den nassen, ungepflegten Rasen. Sie rutscht aus, läuft im Regen weiter, entfernt sich auf einem Trampelpfad vom Haus, umrundet ein Birkenwäldchen und gelangt auf eine Wiese, wo sie einer Familie mit Angelruten, orangefarbenen Schwimmwesten und Regenjacken begegnet. Sie läuft durch die kleine Gruppe hindurch zu einem Sandstrand hinunter. Sie ist völlig außer Atem, keucht unkontrolliert, hat das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Sie muss stehen bleiben, weiß nicht, wohin sie sich wenden soll, kauert sich hinter einen kleinen Schuppen, übergibt sich zwischen den Brennnesseln und betet wispernd ein Vaterunser. In der Ferne donnert es. Sie zittert am ganzen Leib, rappelt sich aber trotzdem wieder auf und streicht sich mit dem Ärmel ihres Pullovers Regen aus den Augen. Vorsichtig lehnt sie sich vor und schaut um die Ecke, auf die Wiese hinaus. Ihr Verfolger lässt soeben das Birkenwäldchen hinter sich und bleibt bei der Familie stehen, die unmittelbar darauf in ihre Richtung zeigt. Sie kriecht rückwärts, rutscht den Fels hinunter und läuft am Wasser entlang auf den Sandstrand hinaus. Wo der nasse Sand hochgeschleudert wird, leuchten die Spuren hinter ihr weiß. Sie rennt auf einen sehr langen Pontonsteg und immer weiter hinaus. Plötzlich hört sie die dumpf knatternden Rotorblätter eines Hubschraubers. Penelope läuft weiter auf dem Steg, sieht den uniformierten Verfolger zwischen den Bäumen zum Strand laufen. Aus einem Rettungshubschrauber hat sich ein Mann in oranger Kleidung abgeseilt und landet am äußeren Ende des Stegs, das Wasser um ihn wird zu gewellten Kreisen aufgepeitscht. Penelope rennt auf dem rutschigen Steg zu ihm hin, und er ruft ihr zu, wie sie sich hinstellen soll, koppelt sie an das Rettungsseil und gibt dem Hubschrauberpiloten ein Zeichen. Gemeinsam steigen sie vom Steg auf, fliegen knapp über der Wasseroberfläche, werden dann hoch und zur Seite gehoben. Das Letzte, was Penelope vom Strand sieht, ehe er vom Fichtenwald verdeckt wird, ist ihr Verfolger, der ein Knie auf die Erde gesetzt hat. Vor ihm liegt sein schwarzer Rucksack. Mit routinierten Bewegungen montiert er eine Schusswaffe. Dann sieht sie ihn nicht mehr. Nur dichte grüne Bäume. Die Wasseroberfläche verschwindet unter ihr. Plötzlich hört sie einen kurzen Knall und über ihr ein Knirschen. Es ruckt heftig in dem Stahlseil, und ihr wird flau im Magen. Der Mann hinter ihr ruft dem Hubschrauberpiloten etwas zu. Sie werden in die andere Richtung gerissen, der Hubschrauber trudelt jäh, und Penelope erkennt, was passiert ist. Der Verfolger hat den Piloten von seiner Position am Ufer aus erschossen. Wie aus einem Reflex heraus löst Penelope die Sicherung der Schnalle an dem Rettungsseil, öffnet das Schloss, lockert die Riemen und fällt. Sie stürzt durch die Luft, während der Hubschrauber an Schub verliert, zur Seite kippt und sich überschlägt. Das Stahlseil mit dem daran hängenden Seenotretter verheddert sich in dem großen Rotor. Es knattert ohrenbetäubend, und dann knallt es kurz hintereinander zwei Mal, als die riesigen Rotorblätter von ihrer Achse gerissen werden. Penelope fällt etwa zwanzig Meter, bis sie aufs Wasser aufschlägt. Sie sinkt tief. Tosend führt ihr Weg in dem kalten Wasser lange abwärts, ehe sich die Bewegung umkehrt.

Ihre Beine treten, sie kommt hoch, saugt Luft in ihre Lunge und schwimmt fort von der Insel, aufs offene Meer hinaus.

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