42 Die Staatliche Waffenkontrollbehörde

Es ist sieben Uhr morgens, als Axel auf die Terrasse hinaustritt, die er sich mit seinem Bruder teilt. Schon um acht wird er sich mit Jörgen Grünlicht in Carl Palmcronas Büro treffen.

Die Luft ist bereits warm, aber noch nicht schwül. Sein jüngerer Bruder Robert hat die Verandatüren zu seiner Wohnung weit aufgerissen und sitzt in einem Liegestuhl. Er hat sich noch nicht rasiert, sitzt bloß mit schlaff hängenden Armen da und starrt in das morgendlich feuchte Laub des Kastanienbaums hinauf. Er hat seinen abgetragenen Seidenmorgenmantel an. Es ist das Kleidungsstück, das ihr Vater immer samstagmorgens trug.

»Guten Morgen«, sagt Robert.

Axel nickt, ohne seinen Bruder anzusehen.

»Ich habe für Charles Greendirk eine Fiorini repariert«, erzählt Robert in dem Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Das wird ihn sicher freuen«, erwidert Axel gedämpft.

Robert blickt zu ihm auf.

»Bist du gestresst?«

»Ein bisschen schon, ehrlich gesagt«, antwortet Axel. »Es sieht ganz danach aus, als bekäme ich einen neuen Job.«

»Ja, warum nicht.«

Axel betrachtet das freundliche Gesicht seines Bruders, die tiefen Falten, den kahlen Schädel. Er denkt daran, wie anders alles zwischen ihnen hätte sein können.

»Wie geht es deinem Herzen?«, fragt er. »Es hat noch nicht aufgehört zu schlagen?«

Robert tastet mit der Hand seine Brust ab, ehe er antwortet.

»Nicht wirklich …«

»Gut.«

»Und deine arme Leber?«

Axel zuckt mit den Schultern und geht zurück.

»Wir spielen heute Abend Schubert«, sagt Robert.

»Schön für euch.«

»Ich dachte, dass du vielleicht …«

Robert verstummt, sieht seinen Bruder an und wechselt das Thema.

»Das Mädchen, das in dem Zimmer oben wohnt …«

»Beverly«, sagt Axel.

»Wir lange wird sie hier wohnen?«, fragt Robert und blinzelt in Axels Richtung.

»Ich weiß es nicht«, antwortet dieser. »Ich habe versprochen, dass sie hier wohnen darf, bis sie ein Zimmer findet.«

»Tja, du hast dich ja schon immer um verletzte Hummeln und Frösche gekümmert, die …«

»Sie ist ein Mensch«, unterbricht Axel ihn.

Er öffnet die hohe Terrassentür und sieht beim Hineingehen sein Gesicht über die unebene Glasfläche gleiten. Hinter dem Vorhang verborgen beobachtet er anschließend seinen Bruder Robert, der aus dem Liegestuhl aufsteht, sich den Bauch kratzt und die Treppenstufen hinuntersteigt, die von der Terrasse auf der Rückseite des Hauses zu dem kleinen Garten und Roberts Atelier führen. Sobald sein Bruder verschwunden ist, kehrt Axel ins Schlafzimmer zurück und weckt behutsam Beverly, die mit offenem Mund schläft.


Die Staatliche Waffenkontrollbehörde wurde 1996 gegründet. Sie übernahm die Verantwortung für alle Angelegenheiten, die den Waffenexport und Produkte mit doppeltem Verwendungszweck betreffen. Die Behörde hat ihren Sitz in der fünften Etage eines lachsrosa Gebäudes mit der Adresse Klarabergsviadukten 90.

Als Axel im fünften Stockwerk aus dem Aufzug tritt, sieht er, dass Jörgen Grünlicht vom Außenministerium ihn bereits hinter großen Glastüren erwartet. Er nickt ungeduldig, obwohl es zwei Minuten vor acht ist, zieht seine Passierkarte durch ein Lesegerät, tippt einen Zahlencode ein und lässt Axel eintreten. Grünlicht ist ein hoch aufgeschossener Mann mit großen Pigmentveränderungen im Gesicht, weißen Flecken, die unregelmäßige Muster auf seinem rötlichen Teint bilden.

Sie gehen zu Carl Palmcronas Büro, einem Eckzimmer mit zwei riesigen Fenstern, von dem aus man eine Aussicht auf das Gewimmel der südlich verlaufenden Straßen hinter dem Hauptbahnhof und über das Wasser bis zur dunklen Kantigkeit des Stadthauses hat.

Ungeachtet der exklusiven Adresse wirken die Räumlichkeiten der Behörde asketisch. PVC-Böden, einfache, neutrale Möbel, weiß oder aus Kiefernholz. Als wollte man sich in Erinnerung rufen, dass Waffenexporte moralisch immer problematisch sind, denkt Axel, und es schaudert ihn.

Er findet es makaber, sich so kurz nach Palmcronas Tod in dessen Büro aufzuhalten.

Axel fällt auf, dass von der Neonröhre an der Decke ein hoher Ton ausgeht, ähnlich dem disharmonischen Nebenton eines Klaviers. Plötzlich erinnert sich Axel, dass er den gleichen Oberton einmal in einer Aufnahme der ersten Sonate von John Cage gehört hat.

Grünlicht schließt die Tür und bittet Axel Riessen, Platz zu nehmen. Er lächelt freundlich, wirkt aber angespannt.

»Hervorragend, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagt er und überreicht seinem Gegenüber die Mappe mit dem Arbeitsvertrag.

»Das war doch selbstverständlich«, sagt Axel und lächelt.

»Setzen Sie sich und lesen Sie ihn sich durch«, sagt Grünlicht und deutet auf den Schreibtisch.

Axel setzt sich auf den unbequemen Stuhl und legt die Mappe auf den Schreibtisch.

»Ich sehe ihn mir an und melde mich nächste Woche.«

»Es ist ein sehr vorteilhafter Vertrag, aber das Angebot steht nicht ewig«, erklärt Grünlich.

»Sie haben es eilig, ich weiß.«

»Der Vorstand möchte Sie haben. Angesichts Ihrer Karriere, Ihres Rufs gibt es einfach keine bessere Wahl. Aber wir können den Betrieb natürlich nicht ruhen lassen.«

Axel öffnet die Mappe und versucht, ein unangenehmes Gefühl abzuschütteln, eine Ahnung, dass er in eine Falle gelockt wird. Grünlichts Verhalten hat etwas Angestrengtes, Rätselhaftes und Gehetztes.

Wenn er den Vertrag unterzeichnet, ist er Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde. Er allein würde dann über alle schwedischen Waffenexporte entscheiden. Bei den Vereinten Nationen hat sich Axel dafür eingesetzt, Kriegsherde zu entwaffnen, den Zustrom konventioneller Waffen zu verringern, und diesen Posten würde er gerne als eine Fortsetzung dieses Auftrags sehen.

Er liest sich die Vereinbarung gründlich durch, und die Konditionen sind sehr gut, fast zu gut, um wahr zu sein. Während der Lektüre errötet er mehrmals.

»Willkommen an Bord«, sagt Grünlicht lächelnd und reicht ihm einen Stift.

Axel bedankt sich, setzt seine Unterschrift unter den Vertrag und steht auf, kehrt Grünlicht den Rücken zu und schaut aus dem Fenster. Er sieht die drei Kronen auf der Spitze des Stadthausturms, im Sonnendunst sind sie kaum zu erkennen.

»Die Aussicht ist nicht übel«, murmelt Grünlicht, »jedenfalls besser als die in meinem Büro im Außenministerium.«

Axel dreht sich zu ihm um.

»Sie haben momentan drei Vorgänge auf Ihrem Schreibtisch, von denen Kenia am meisten drängt. Es ist ein großes und wichtiges Geschäft. Ich würde Ihnen raten, sich der Sache möglichst schnell anzunehmen, am besten sofort. Carl hat die ganze Vorarbeit schon erledigt, sodass …«

Er verstummt, schiebt Axel die Dokumente hinüber und sieht ihn anschließend mit einem seltsamen Funkeln in den Augen an. Axel hat das Gefühl, dass Grünlicht ihm am liebsten einen Stift in die Hand drücken und ihm die Hand führen würde.

»Ich bin überzeugt, dass Sie ein hervorragender Nachfolger für Carl sein werden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, tätschelt Grünlicht Axels Arm und geht mit schnellen Schritten durchs Zimmer. In der Tür dreht er sich noch einmal um und sagt kurz:

»Sitzung mit dem Beirat heute um fünfzehn Uhr.«

Axel bleibt allein in seinem Büro zurück. Dumpfe Stille umgibt ihn. Er setzt sich wieder an den Schreibtisch und überfliegt die Dokumente, die Carl Palmcrona ohne Unterschrift hinterlassen hat. Die Vorlage ist detailliert und sehr ausführlich. Es geht um den Export von 1,25 Millionen Einheiten 5.56 x 4,45 mm Munition nach Kenia. Der Exportkontrollrat hat eine positive Empfehlung ausgesprochen. Palmcronas vorläufiger Bescheid ist positiv gewesen, und Silencia Defence AB genießt den Ruf, ein etabliertes und seriöses Unternehmen zu sein.

Aber erst wenn der Generaldirektor der Staatlichen Kontrollbehörde seine Entscheidung über die Ausfuhrgenehmigung getroffen hat, kann der Waffenexport durchgeführt werden.

Axel lehnt sich zurück und denkt an Palmcronas rätselhafte Worte darüber, es wie Algernon zu machen und zu sterben, damit er nicht mit ansehen muss, wie ein Albtraum in Erfüllung geht.

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