Lautlos verlässt der grauhaarige Leibwächter den Speisesaal, schiebt sich zwischen den Türen hinaus und läuft, die sandfarbene Waffe im Anschlag, schnell an der Glasfront des Decks entlang. Seine Brille blitzt in der Sonne auf. Joona sieht, dass der Leibwächter auf Niko zuläuft und in wenigen Sekunden bei ihm sein wird.
Auf dieser Seite ist Niko nicht gedeckt.
Der Leibwächter hebt sein Sturmgewehr und legt den Finger auf den Abzug.
Joona steht blitzschnell auf, zielt, tritt einen Schritt vor, um eine bessere Schusslinie zu haben, und schießt dem Leibwächter zwei Mal in die Brust. Der grauhaarige Mann taumelt zurück, hebt unwillkürlich die Hand und stützt sich auf das Geländer, um nicht über die Reling zu fallen. Er schaut sich um, sieht Joona auf sich zukommen und hebt sein Gewehr.
Jetzt sieht man, dass er unter seiner schwarzen Jacke eine Schutzweste trägt.
Joona ist bereits bei ihm, schlägt ihm den Gewehrlauf aus der Hand und gleichzeitig die Pistole ins Gesicht. Es ist ein kräftiger Schlag auf Nasenwurzel und Brille. Die Beine des Leibwächters geben nach, sein Hinterkopf schlägt mit einem dumpfen Knall gegen die Reling, Schweiß und Schleim spritzen, und sein Körper sackt in sich zusammen.
Joona und Niko eilen an beiden Seiten des Speisesaals entlang zum Bug der Jacht. Die Rotorblätter des Hubschraubers knattern schneller und schneller.
»Nun kommt schon! Steigt ein«, ruft jemand.
Joona läuft so nahe an der Wand wie möglich. Er wird langsamer, bewegt sich auf dem letzten Stück noch vorsichtiger und schaut auf das offene Vordeck hinaus. Raphael Guidis Sohn sitzt bereits im Hubschrauber. Die Schatten der Rotorblätter flattern über Boden und Geländer.
Joona hört Stimmen von der oberhalb gelegenen Kommandobrücke. Als er einen Schritt vortritt, merkt er jedoch, dass Guidis zweiter Leibwächter ihn gesehen hat. Der blonde Mann steht fünfundzwanzig Meter entfernt, und seine Pistole ist direkt auf Joona gerichtet. Es bleibt keine Zeit mehr zu reagieren, ehe der Schuss fällt. Ein kurzer Knall ertönt, und es ist, als hätte ein Peitschenhieb Joonas Gesicht getroffen, danach wird alles vollkommen weiß. Er fällt haltlos über einige Liegestühle, schlägt auf dem Metallboden auf, stürzt mit dem Hals gegen das Geländer der Terrasse, und die Hand mit der Pistole prallt gegen die Gitterstäbe. Sein Handgelenk bricht beinahe, und die Waffe löst sich aus seinem Griff. Es klirrt hallend, als die Pistole durch das Geländer rutscht und parallel zum Steven fällt.
Joona blinzelt, sein Sehvermögen kehrt zurück, während er sich zusammenkauert. Seine Hände zittern, er weiß nicht, wie ihm geschehen ist. Warmes Blut läuft sein Gesicht herab, und er versucht, auf die Beine zu kommen, braucht jetzt Nikos Hilfe, muss herausfinden, wo sich der Leibwächter befindet.
Schnell streicht er sich über die Wange. Als er mit den Fingern tastet, spürt er einen brennenden Schmerz und stellt fest, dass die Kugel seine Schläfe gestreift hat.
Sie hat nur eine Fleischwunde hinterlassen, das ist alles.
In seinem linken Ohr hört er einen seltsam klingelnden Ton.
Sein Herz schlägt schnell, pocht in der Brust.
Als er sich im Schutz der Metallwand aufrichtet, wird er von heftigen Kopfschmerzen übermannt. Der schrillende Ton der Migräne steigert sich.
Joona presst zwischen den Augenbrauen einen Daumen auf die Stirn, schließt die Augen, zwingt den blitzenden Schmerz zurück.
Er blickt zum Hubschrauber hinüber und versucht, Niko zu entdecken, seine Augen schweifen suchend über Vordeck und Reling.
Das bewaffnete Schiff der Marine nähert sich auf der spiegelglatten See von hinten wie ein dunkler Schatten.
Joona dreht eine lange Metallsprosse von einem zerbrochenen Liegestuhl los, um sich verteidigen zu können, falls der Leibwächter kommen sollte.
Er schmiegt sich an die Wand und sieht plötzlich, dass Raphael Guidi und Axel Riessen auf dem Vordeck sind. Sie stehen dicht zusammen und bewegen sich rückwärts auf den Hubschrauber zu. Der Waffenhändler hat seinen rechten Arm um Axel gelegt. In der Hand hält er ein Messer, dessen Klinge an Riessens Kehle liegt. In der anderen Hand hält er eine Geige. Kleider und Haare flattern im Luftzug der Rotorblätter.
Der Leibwächter, der Joona angeschossen hat, bewegt sich seitlich, um ihn hinter der Wand ins Blickfeld zu bekommen. Er weiß nicht, ob er den Eindringling getroffen hat, es ging zu schnell.
Joona weiß, dass der Leibwächter nach ihm sucht, er will sich zurückziehen, aber die Kopfschmerzen machen ihn langsam.
Schließlich muss er stehen bleiben.
Nicht jetzt, denkt er und spürt den Schweiß am Rückgrat herablaufen.
Der Leibwächter biegt um die Ecke, hebt seine Waffe, erblickt Joonas Schulter, seinen Hals und Kopf.
Plötzlich rennt Niko Kapanen mit angelegtem Sturmgewehr auf ihn zu. Der Leibwächter reagiert schnell, fährt herum und feuert seine Pistole ab. Vier Schüsse. Niko spürt nicht einmal, dass die erste Kugel seine Schulter trifft, aber die zweite, die in seinen Bauch eindringt und den Dünndarm durchschlägt, hält ihn auf. Die dritte pfeift vorbei, aber die vierte schlägt in seine Brust. Seine Beine geben nach, und Niko fällt auf die Seite, hinter das Fundament des Hubschrauberlandeplatzes. Er ist schwer verletzt und merkt wahrscheinlich nicht einmal, dass er im Fallen den Abzug seiner Schnellfeuerwaffe betätigt. Ziellos schießen die Kugeln umher. Er leert das gesamte Magazin innerhalb von zwei Sekunden, direkt aufs Meer hinaus, bis die Waffe klickt.
Niko stöhnt auf, dreht sich auf den Rücken, hinterlässt eine blutige Spur auf der Bande und lässt die Waffe los. Er hat starke Schmerzen in der Brust, schließt kurz die Augen, blickt dann mit trüben Augen hoch und sieht die kräftigen Bolzen an der Unterseite der Hubschrauberplattfom. Ihm fällt auf, dass Rost durch die weiße Farbe rund um die großen Muttern gedrungen ist, dagegen bemerkt er nicht, dass sich sein rechter Lungenflügel mit Blut füllt.
Er hustet schwach, ist kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, entdeckt plötzlich jedoch Joona, der mit einer Metallsprosse in den Händen hinter der Wand zum Speisesaal steht. Ihre Blicke begegnen sich, und Niko mobilisiert seine letzten Kräfte, um das Sturmgewehr zu Joona hinüberzutreten.
Axel Riessen hat Angst, sein Herz pocht, die vier Schüsse klingeln in seinen Ohren, sein Körper zittert. Raphael Guidi benutzt ihn als Schutzschild. Sie stolpern gemeinsam, und die Klinge schneidet ein wenig in seinen Hals. Axel spürt, dass Blut seine Brust herabläuft. Er sieht, dass sich der letzte Leibwächter Joona Linnas Versteck nähert, kann aber nichts tun.
Joona streckt sich, erreicht das heiße Gewehr mit der Hand und zieht es an sich. Der Leibwächter vor dem Hubschrauberlandeplatz feuert zwei Schüsse auf ihn ab. Sie schießen als Querschläger zwischen Wänden, Boden und Geländer hin und her. Joona nimmt das leere Magazin heraus und sieht, dass Niko in seinen Taschen nach mehr Munition sucht. Er stöhnt auf, ist sehr schwach, presst die Hand auf den blutigen Bauch, muss sich kurz erholen. Der Leibwächter ruft Raphael Guidi zu, einzusteigen. Der Hubschrauber steht zum Abflug bereit. Niko wühlt in einer Hosentasche und zieht die Hand heraus. Ein Schokoladenpapier fliegt im Wind davon, aber in seiner Handfläche liegt eine Patrone. Niko hustet schwach, betrachtet diese eine Patrone und rollt sie über den Boden Joona zu.
Das Vollmantelgeschoss dreht sich klirrend auf dem Metallboden, die Messinghülse und die Spitze aus Kupfer flimmern glänzend.
Joona hält sie auf und presst sie rasch ins Magazin.
Nikos Augen sind mittlerweile geschlossen, zwischen seinen Lippen sieht man eine Blutblase, aber seine Brust hebt und senkt sich weiter in flatternden Atemzügen.
Joona hört die schweren Schritte des Leibwächters.
Er legt das Magazin in sein Gewehr ein, lädt durch, hebt die Waffe, wartet einige Sekunden und verlässt sein Versteck.
Raphael Guidi geht mit Axel Riessen vor sich rückwärts. Sein Sohn ruft ihm aus dem Hubschrauber etwas zu, und der Pilot fordert Guidi winkend auf zu kommen.
»Du hättest mir die Hand küssen sollen, als du die Chance dazu hattest«, flüstert Raphael Guidi Axel ins Ohr.
Ein Stoß bringt die Saiten der Geige zum Klingen.
Der Leibwächter nähert sich Niko mit großen Schritten, beugt sich über die Bande und richtet seine Pistole auf dessen Gesicht.
»Jonottakaa«, ruft Joona auf Finnisch.
Er sieht den Leibwächter die Waffe heben, um sie stattdessen auf ihn zu richten, und bewegt sich rasch seitlich, um die richtige Schusslinie zu finden, er muss mit seiner einzigen Kugel treffen.
Es geht um Sekunden.
Direkt hinter dem Leibwächter steht Raphael Guidi und presst das Messer an Axels Kehle. Der Fahrtwind des Hubschraubers zerrt an ihren Kleidern. Blutstropfen fliegen durch die Luft. Joona geht leicht in die Hocke, hebt das Korn einige Millimeter und feuert.
Jonottakaa, denkt er. Stellt euch hinten an.
Es knallt, und er spürt den harten Schlag des Rückstoßes an seiner Schulter. Das Vollmantelgeschoss verlässt die Waffe mit einer Geschwindigkeit von 800 Metern pro Sekunde. Lautlos trifft es die Halsgrube des Leibwächters, tritt am Nacken wieder aus, verliert kaum an Tempo, schießt durch Raphael Guidis Schulter und aufs Meer hinaus.
Der Arm des Waffenhändlers wird durch den Treffer hochgeschleudert, und das Messer rutscht klirrend über die Plattform.
Axel Riessen sinkt zu Boden.
Der Leibwächter sieht Joona erstaunt an, Blut strömt über seine Brust, wankend hebt er die Pistole, aber seine Kräfte versiegen. Er röchelt seltsam und hustet. Blut spritzt auf Mund und Kinn.
Er setzt sich, greift sich mit der Hand an den Hals und blinzelt zwei Mal, dann erstarren seine weit aufgerissenen Augen.
Raphael Guidis Lippen sind blass, er steht im kräftig pulsierenden Wind, presst die Hand mit der Geige auf seine blutende Schulter und starrt Joona an.
»Papa«, ruft sein Sohn aus dem Hubschrauber und wirft ihm eine Pistole zu.
Klappernd schlägt sie auf den Landeplatz, holpert weiter und bleibt vor Guidis Füßen liegen.
Axel sitzt mit trübem Blick an die Reling gelehnt und versucht mit der Hand, die Blutung an seinem Hals zu stoppen.
»Raphael Guidi!«, ruft Joona mit lauter Stimme. »Ich bin gekommen, um Sie zu verhaften.«
Guidi steht fünf Meter vor seinem Hubschrauber, die Pistole zu seinen Füßen. Der Trainingsanzug flattert an seinem Körper. Mühsam bückt er sich und hebt die Pistole auf.
»Sie stehen unter dem Verdacht des Waffenschmuggels in einem schweren Fall, der Freiheitsberaubung und des Mordes«, sagt Joona.
Raphael Guidis Gesicht ist verschwitzt, und die Pistole in seiner Hand zittert.
»Legen Sie die Waffe weg«, ruft Joona.
Guidi hält die schwere Pistole in der Hand, aber als er Joonas ruhigem Blick begegnet, schlägt sein Herz schneller.
Axel Riessen starrt Joona an und versucht, ihm zuzurufen, dass er weglaufen soll.
Joona rührt sich nicht von der Stelle.
Alles geschieht fast gleichzeitig.
Der Waffenhändler hebt die Pistole und drückt ab, aber die Pistole klickt nur. Er versucht es erneut und holt tief Luft, als er begreift, dass sein Sohn nicht wie versprochen das Magazin geladen hat. Raphael Guidi wird von dem Gefühl übermannt, dass eine furchtbare Einsamkeit ihn wie eine kalte Hülle umgibt. Im selben Moment, in dem er erkennt, dass es zu spät ist, die Waffe fallen zu lassen und sich zu ergeben, seufzt sein Körper auf. Drei weiche Stöße kurz hintereinander. Unmittelbar darauf hört man die Schüsse übers Meer hallen. Raphael Guidi kommt es vor, als schlüge ihm jemand fest auf die Brust, gefolgt von einem nagenden Schmerz, als er zurücktaumelt und jegliches Gefühl in den Beinen verliert.
Der Hubschrauber wartet nicht mehr, hebt ohne den Waffenhändler ab und steigt tosend auf.
Das große Flugkörperschnellboot FNS Hanko der finnischen Marine liegt neben der Jacht. Ein zweites Mal feuern drei Scharfschützen ihre Waffen ab. Sämtliche Kugeln treffen Guidis Rumpf. Man hört nur einen Knall. Der Getroffene wankt mehrere Schritte zurück und fällt, versucht sich aufzusetzen, kann sich aber nicht mehr bewegen.
Sein Rücken ist noch warm, aber seine Füße sind bereits eiskalt.
Raphael Guidi starrt zu dem Hubschrauber hinauf, der rasch in den diesigen Himmel aufsteigt.
Peter sitzt in der Kabine und blickt auf die kleiner werdende Luxusjacht hinab. Sein Vater liegt auf dem runden Landeplatz, innerhalb der Ringe wie auf einer Zielscheibe.
In seiner Hand hält er immer noch Paganinis Geige. Die schwarze Blutlache unter ihm wird rasch größer, aber sein Blick ist bereits tot.
Joona ist der Einzige, der auf dem Vordeck des Schiffs noch steht.
Während der weiße Hubschrauber verschwindet, rührt er sich nicht von der Stelle.
Der Himmel leuchtet in einem kristallenen, trostlosen Licht. Auf der spiegelblanken See liegen ruhig drei Schiffe; als wären sie verlassen, treiben sie Seite an Seite.
Bald werden Rettungshubschrauber aus Finnland eintreffen, aber in diesem Moment herrscht eine so eigentümliche Stille wie nach dem letzten verklingenden Ton eines Konzerts, wenn das Publikum, noch von der Musik verzaubert, von der nachfolgenden Stille geblendet ist.