Disa und Joona sitzen sich im Restaurant des Södra-Theaters gegenüber. Die Sonne scheint satt durch die riesigen Fenster, die den Blick zur Altstadt, zu Skeppsholmen und auf das glitzernde Wasser eröffnen. Sie haben gebratene Heringe mit Kartoffelpüree und Preiselbeeren gegessen und schenken sich gerade den letzten Schluck Leichtbier ein. Auf der kleinen Empore sitzt Ronald Brautigam an einem schwarzen Flügel, und Isabelle van Keulens rechter Ellbogen ist angehoben, während sie den Bogenstrich beendet.
Die Musik hält inne, der letzte Geigenton vibriert, wartet auf das Klavier und endet schließlich in einem hohen, bebenden Ton.
Joona und Disa verlassen nach dem Konzert das Restaurant, treten auf den Mosebacke-Platz hinaus, bleiben stehen und sehen sich an.
»Was ist mit Paganini?«, will sie wissen und rückt seinen Hemdkragen gerade. »Du hast zuletzt auch über Paganini gesprochen.«
Er ergreift sanft ihre Hand.
»Ich wollte dich nur treffen …«
»Damit ich mich mit dir streiten kann, weil du deine Tabletten nicht nimmst?«
»Nein«, sagt er.
»Nimmst du sie denn?«
»Ich werde sie bald wieder nehmen«, antwortet er ein wenig ungeduldig.
Sie sagt nichts, ihre hellgrünen Augen begegnen nur kurz seinen grauen. Dann atmet sie tief durch und schlägt vor zu gehen.
»Jedenfalls war es ein sehr schönes Konzert«, sagt Disa. »Die Musik passte irgendwie zu dem Licht, das von draußen hereinfiel, es war ganz sanft. Ich habe gedacht, Paganini wäre immer … du weißt schon, artistisch und schnell … Ich habe Yngwie Malmsteen mal im Vergnügungspark Gröna lund Caprice Nummer 5 spielen hören.«
»Als du mit Benjamin Gantenbein zusammen warst.«
»Nach all den Jahren sind wir heute Freunde bei Facebook.«
Sie spazieren Hand in Hand über Slussen zur Skeppsbron hinunter.
»Müsste man nicht an den Fingern ablesen können, welche Töne jemand auf einer Geige spielt?«, fragt Joona.
»Ohne etwas zu hören, meinst du?«
»Auf einem Foto.«
»In etwa, würde ich denken … wahrscheinlich kommt es ganz darauf an, wie gut man das Instrument beherrscht«, sagt sie.
»Aber wie exakt kann man sein?«
»Wenn es wichtig ist, könnte ich Kaj fragen«, sagt sie.
»Kaj?«
»Kaj Samuelsson am Musikwissenschaftlichen Institut. Ich habe Übungsfahrten mit dem Auto mit ihm gemacht, kenne ihn aber eigentlich über Vater.«
»Könntest du ihn anrufen?«
»Okay«, sagt Disa und hebt die Augenbrauen ein wenig. »Du willst, dass ich ihn jetzt anrufe?«
»Ja«, antwortet Joona.
Sie lässt seine Hand los, holt ihr Handy heraus, sucht in ihrem Telefonbuch und ruft den Professor an.
»Hier spricht Disa«, sagt sie. »Störe ich dich in der Mittagspause?«
Joona hört eine Männerstimme in den Hörer sprechen. Nachdem sie eine Weile geplaudert haben, fragt Disa:
»Du, ich stehe hier mit einem guten Freund, der möchte, dass ich dir eine Frage stelle.«
Sie lacht über etwas, was am anderen Ende gesagt wird, und fragt dann ohne Umschweife:
»Kann man sehen, welche Töne ein Geiger spielt … nein, nicht so … ich meine an den Fingern.«
Joona betrachtet Disa, die mit gerunzelter Stirn lauscht. Irgendwo aus den Gassen der Altstadt ertönt Marschmusik.
»Okay«, sagt Disa nach einer Weile. »Weißt du was, Kaj, ich glaube, es ist besser, wenn du selbst mit ihm sprichst.«
Wortlos reicht sie das Telefon an Joona weiter.
»Joona Linna.«
»Über den Disa so oft spricht«, ergänzt Kaj Samuelsson mit heiterer Stimme.
»Eine Geige hat nur vier Saiten«, beginnt Joona, »im Grunde sollte man nicht so viele unterschiedliche Töne spielen können …«
»Was meinen Sie mit spielen?«, erkundigt sich der Professor.
»Der tiefste Ton muss die G-Saite sein«, sagt Joona mit ruhiger Stimme. »Und irgendwo wird es dann ja wohl auch einen höchsten Ton geben, der …«
»Ein guter Gedanke«, unterbricht der Professor ihn. »Der französische Wissenschaftler Mersenne veröffentlichte 1636 die ›Harmonie Universelle‹. In diesem Werk erwähnt er, dass die besten Geiger bis zu einer Oktave über jeder Saite spielen können. Das bedeutet, der Tonumfang reicht vom tiefen G bis zum dreigestrichenen E … was uns insgesamt vierunddreißig Töne in einer chromatischen Tonleiter beschert.«
»Vierunddreißig Töne«, wiederholt Joona.
»Aber wenn wir über Musiker in etwas modernerer Zeit sprechen«, fährt Samuelsson fort, »hat sich der Umfang dem neuen Fingersatz folgend erweitert … und man rechnet fortan damit, das dreigestrichene A zu erreichen und damit eine chromatische Tonleiter mit neununddreißig Tönen zu bekommen.«
»Sprechen Sie weiter«, sagt Joona und sieht, wie Disa vor einer Galerie mit einigen seltsamen, verwischten Bildern stehen bleibt.
»Aber schon seitdem Richard Strauss Berlioz’ Instrumentenlehre von 1904 revidierte, wird das viergestrichene G als höchstmöglicher Ton für einen Orchestergeiger angegeben, was neunundvierzig Tönen entspricht.«
Angesichts von Joonas abwartendem Schweigen lacht Kaj Samuelsson in sich hinein.
»Die obere Grenze ist bei Weitem noch nicht erreicht«, erläutert der Professor. »Außerdem kann man ein ganzes Register von Flageoletttönen und Vierteltönen hinzufügen.«
Sie kommen an einem neu gebauten Wikingerschiff am Schlosskai vorbei und nähern sich dem Park Kungsträdgården.
»Und bei einem Cello?«, unterbricht Joona ungeduldig.
»Achtundfünfzig«, antwortet der Professor.
Disa wirft ihm einen ungeduldigen Blick zu und zeigt auf ein Straßencafé.
»Eigentlich lautet meine Frage, ob Sie sich ein Foto von vier Musikern, zwei Geigen, eine Bratsche und ein Cello, ansehen könnten«, sagt Joona. »Wäre es anhand einer scharfen Fotografie möglich, nur dadurch, dass man die Finger der Musiker, die Saiten und die Instrumentenhälse betrachtet, zu erraten, welches Stück sie spielen?«
Joona hört Kaj Samuelsson im Hörer vor sich hinmurmeln.
»Das ergibt eine Unmenge von Möglichkeiten, Tausende …«
Disa zuckt mit den Schultern und geht weiter, ohne ihn anzusehen.
»Sieben Millionen denkbare Kombinationen«, sagt Kaj Samuelsson nach einer Weile.
»Sieben Millionen«, wiederholt Joona.
Es wird erneut still am Telefon.
»Aber auf meinem Foto«, sagt Joona, »sind die Finger und die Saiten deutlich zu sehen, und man könnte ziemlich leicht viele Möglichkeiten ausschließen.«
»Ich sehe mir das Bild gerne an«, antwortet der Professor. »Aber ich werde die Töne nicht erraten können, das geht nicht und …«
»Aber …«
»Und stellen Sie sich bitte vor, Joona Linna«, fährt er fort, »stellen Sie sich vor, Sie würden tatsächlich die Töne annähernd bestimmen können … wie wollen sie diese unter all den tausend Streichquartetten finden, Beethoven, Schubert, Mozart …«
»Ich verstehe, es ist also unmöglich«, unterbricht Joona ihn.
»Um ehrlich zu sein, ja«, bestätigt Kaj Samuelsson.
Joona bedankt sich für das Gespräch und setzt sich neben Disa, die auf dem gemauerten Rand eines Brunnens wartet. Sie lehnt sich mit der Wange an seine Schulter. Als er den Arm um sie legt, fallen ihm im selben Moment die Worte Robert Riessens über seinen Bruder ein: »Wenn nicht einmal Axel es erkennen konnte, halte ich es für unmöglich.«