77 Der Einsatz

Im Erker einer Wohnung im dritten Stock in der Nybrogatan 4a sitzt Einsatzleiterin Jenny Göransson und wartet. Die Stunden vergehen, aber niemand meldet etwas. Alles ist ruhig. Sie blickt auf den Platz hinunter, zum Dach über Penelopes Wohnung hinüber, zum Dach von Sibyllegatan 27, von wo einige Tauben auffliegen.

Dort ist Sonny Jansson postiert. Wahrscheinlich hat er sich bewegt und so die Vögel aufgeschreckt.

Jenny nimmt Kontakt zu ihm auf, und er bestätigt, dass er seine Position gewechselt hat, um in eine Wohnung hineinsehen zu können.

»Ich dachte, ich hätte eine Schlägerei gesehen, aber sie spielen nur Wii und stehen fuchtelnd vor dem Fernseher.«

»Zurückkehren«, bemerkt Jenny trocken.

Sie greift nach ihrem Fernglas und sucht erneut das dunkle Gelände zwischen Kiosk und Ulme ab, das sie als unsichere Zone betrachtet.

Blomberg, der braune Joggingkleidung trägt und die Sibyllegatan hinaufläuft, meldet sich bei ihr.

»Ich sehe etwas auf dem Friedhof«, sagt er.

»Was sehen Sie?«

»Jemand bewegt sich zwischen den Bäumen, ungefähr zehn Meter vom Zaun zur Storgatan entfernt.«

»Sehen Sie nach, Blomberg, aber seien Sie vorsichtig«, sagt sie.

Er läuft an der Pferdetreppe vorbei, die vor der Fassade des Militärmuseums steht, und begibt sich langsam auf das Friedhofsgelände. Die Sommernacht ist lau und üppig grün. Lautlos geht er neben dem Kiesweg über das Gras, überlegt, dass er bald irgendwo stehen bleiben und vermeintlich Dehnübungen machen könnte, schleicht aber weiter. Es raschelt leise zwischen den Blättern. Der helle Himmel wird von Ästen verdeckt, und zwischen den Grabsteinen ist es dunkel. Plötzlich sieht er, nahe dem Erdboden, ein Gesicht. Es ist eine Frau Anfang zwanzig. Sie hat kurze, rot gefärbte Haare, und ihr olivgrüner Rucksack liegt neben ihrem Kopf. Sie lächelt glücklich, während eine zweite Frau ihr lachend das T-Shirt auszieht und anfängt, ihre Brüste zu küssen.

Blomberg zieht sich vorsichtig zurück, ehe er Jenny Göransson Bericht erstattet:

»Falscher Alarm, ein Liebespaar.«

Drei Stunden sind vergangen, Blomberg schaudert, es wird allmählich kühl, der Tau tritt aus dem Boden, und die Temperatur fällt. Er umrundet den kurvigen Kiesweg und steht plötzlich vor einer Frau mittleren Alters mit verlebten Gesichtszügen. Sie scheint sehr betrunken zu sein, steht mit zwei Pudeln an der Leine wankend vor ihm. Die Hunde schnüffeln eifrig, wollen weiter, aber sie reißt die Tiere wütend zurück.

Am Rand des Friedhofs geht eine Frau vorbei, die wie eine Stewardess gekleidet ist, die Räder ihrer marineblauen Kabinentasche rattern über den Asphalt. Sie wirft Blomberg einen teilnahmslosen Blick zu, und er scheint sie nicht einmal zu bemerken, obwohl sie seit mehr als sieben Jahren Kollegen sind.

Maria Ristonen setzt mit der Kabinentasche ihren Weg zum Eingang der U-Bahn-Station fort, um die Person zu kontrollieren, die verdeckt im Türeingang daneben steht. Sie hört ihre Absätze zwischen den Wänden widerhallen. Die Kabinentasche stößt gegen den Bordstein und hängt schief, was sie zwingt, stehen zu bleiben, und ihr gleichzeitig ermöglicht, die Person zu mustern. Der Mann ist recht gut gekleidet, macht aber ein seltsames Gesicht. Er scheint nach etwas zu suchen und sieht sie gestresst an. Maria Ristonens Herz schlägt schneller, sie dreht sich um und hört im nächsten Moment Einsatzleiterin Jenny Göransson in ihrem Ohrhörer sprechen.

»Blomberg sieht ihn auch, er ist unterwegs«, teilt Jenny Göransson ihr mit. »Warten Sie auf Blomberg, Ristonen. Warten Sie auf Blomberg.«

Maria rückt die Tasche zurecht, kann aber nicht länger einfach stehen bleiben und geht weiter. Sie versucht, sich langsamer zu bewegen, und nähert sich dem Mann mit dem gestressten Blick. Sie wird an ihm vorbeilaufen müssen, und dann wird sie ihn im Rücken haben. Als sie näher kommt, zieht der Mann sich weiter in den Hauseingang zurück. Maria Ristonen spürt das Adrenalin in ihren Adern pochen, als der Mann unvermittelt zwei Schritte auf sie zukommt und einen Gegenstand hervorzieht, den er unter seinem Mantel verborgen gehalten hat. Über seine Schulter hinweg sieht Maria, dass Blomberg seine Waffe gehoben hat, um zu schießen, aber innehält, als Jenny Göransson über Funk ruft, dass es falscher Alarm ist, der Mann ist unbewaffnet und hält nur eine Bierdose in der Hand.

»Fotze«, faucht der Mann und verspritzt Bier in ihre Richtung.

»Großer Gott«, seufzt Jenny Göransson in Maria Ristonens Ohrhörer. »Gehen Sie einfach zur U-Bahn-Station weiter.«

Die Nacht verstreicht ohne besondere Vorkommnisse, die letzten Clubs schließen, und danach sieht man vereinzelte Hundebesitzer und Dosensammler vorbeiziehen, den Zeitungsboten und neue Hundebesitzer und Jogger. Jenny Göransson freut sich allmählich darauf, gegen acht abgelöst zu werden. Sie wirft einen Blick auf die Hedvig-Eleonora-Kirche und danach auf die undurchsichtigen Fenster von Penelope Fernandez’ Wohnung, blickt auf die Storgatan hinunter bis zu dem Haus mit der Pfarrerswohnung, in dem der Regisseur Ingmar Bergman aufgewachsen ist. Sie nimmt sich einen Nikotinkaugummi und studiert den Platz, die Parkbänke, die Bäume, die Skulptur mit der Frau mit den gespreizten Beinen und dem Mann mit dem riesigen Fleischstück auf der Schulter.

Plötzlich erahnt Jenny Göransson eine Bewegung in dem Eingang, der mit einem hohen Stahlgitter verschlossen ist und in die Östermalm-Markthalle führt. Es ist dunkel, aber der schwache Widerschein des Lichts im Glas wird von schnellen Bewegungen unterbrochen. Jenny Göransson ruft Carl Schwirt. Er sitzt mit zwei Müllsäcken voller Dosen auf einer Parkbank zwischen den Bäumen, wo früher der Eingang zum Volkstheater lag.

»Nein, ich sehe nichts«, antwortet er.

»Bleib sitzen.«

Vielleicht, überlegt sie, sollte sie Blomberg bitten, seine Position an der Kirche zu verlassen und zum Park Humlegården zu joggen, um der Sache nachzugehen.

Jenny Göransson schaut erneut zu dem Eingang hinüber, und es sieht aus, als würde dort jemand in der Dunkelheit hinter dem schwarzen Gitter knien. Ein Schwarztaxi hat sich verfahren und wendet in der Nybrogatan. Jenny Göransson greift schnell nach dem Fernglas und wartet, während das Licht der Autoscheinwerfer über die rote Backsteinwand der Markthalle schwenkt. Das Licht streicht am Eingang vorbei, aber diesmal sieht sie nichts. Der Wagen hält und legt den Rückwärtsgang ein.

»Tollpatsch«, murmelt sie, als er mit einem Rad auf den Bürgersteig fährt.

Plötzlich fällt das Licht der Autoscheinwerfer jedoch in ein etwas entfernt liegendes Schaufenster und wird von dort direkt in den Eingang reflektiert.

Jemand hält sich hinter dem hohen Gitter auf.

Jenny Göransson benötigt nur eine Sekunde, um ihre blitzschnellen Eindrücke zusammenzufügen. Ein Mann justiert das Visier einer Waffe.

Schnell setzt sie das Fernglas ab und ruft über Funk die Zentrale.

»Achtung, ich sehe eine Waffe«, sagt sie fast ein wenig zu laut. »Es ist eine Militärwaffe mit Zielfernrohr, ein Mann im Eingang zur Markthalle … Ich wiederhole: ein Scharfschütze auf Bodenniveau an der Ecke des Häuserblocks, an der Kreuzung Nybrogatan und Humlegårdsgatan!«

Der Mann im Eingang befindet sich hinter dem Gittertor. Er hat den leeren Platz eine Weile beobachtet, darauf gewartet, dass der Dosensammler auf der Parkbank abhauen würde, ihn jedoch ignoriert, als ihm klar wurde, dass der Mann beabsichtigte, an diesem Ort zu übernachten. Im Schutz der Dunkelheit klappt er den Kolben mit der gepolsterten Schulterstütze einer Modular Sniper Rifle aus, ein sandfarbenes halbautomatisches Gewehr für Entfernungen von bis zu zwei Kilometern mit Präzisionsmunition. Gelassen montiert er einen Feuerdämpfer aus Titan vor die Mündung, drückt anschließend das Magazin fest und klappt das vordere Zweibein aus.

Kurz vor Ladenschluss ist er am Vortag in die Markthalle gegangen, hat sich in einem Lagerraum versteckt und die Putzkolonne und den Kontrollgang des Wachdienstes abgewartet. Sobald in allen Räumen das Licht gelöscht wurde und Stille einkehrte, ist er in die Markthalle gegangen.

Von innen hat er die Alarmanlage an den großen Eingangstüren deaktiviert und ist anschließend zum äußeren Tor hinausgegangen, das zur Straße hin durch ein massives Eisengitter geschützt wird.

Hinter dem Gitter ist der tiefe Eingang wie ein kleiner Raum, eine Schießscharte. Er ist von allen Seiten geschützt, hat nach vorn aber freie Sicht. Wenn er sich nicht bewegt, ist von ihm nichts zu sehen. Sollte jemand in die Nähe des Eingangs kommen, wendet er sich einfach ab, in die Dunkelheit hinein.

Er richtet sein Gewehr auf das Haus, in dem sich Penelope Fernandez aufhält, sucht die Zimmer mit dem elektrooptischen Zielfernrohr ab, geht langsam und systematisch vor. Er hat lange gewartet, der Morgen rückt näher, und schon bald wird er gezwungen sein, seinen Platz zu verlassen und die nächste Nacht abzuwarten. Er weiß, dass sie irgendwann in dem Glauben auf den Platz hinausschauen wird, dass die laminierte Scheibe sie schützt.

Er justiert das Visier, wird vom Licht eines Autos getroffen, wendet sich kurz ab und geht anschließend erneut dazu über, die Wohnung in der Storgatan 1 zu beobachten. Im nächsten Moment entdeckt er die Wärmestrahlung hinter einem dunklen Fenster. Das Bild ist schwach und körnig, beeinträchtigt durch die Entfernung und das Panzerglas. Schlechter als von ihm erwartet. Er versucht, die verschwommenen Ränder des Wärmebilds zu fixieren und ein Zentrum zu finden. Ein blassrosa Schatten bewegt sich im gesprenkelten Lila, wird dünner, verdichtet sich erneut.

Plötzlich passiert direkt vor ihm auf dem Platz etwas. Zwei Polizeibeamte in Zivil, die gezogene Pistolen an ihren Körpern verbergen, laufen auf ihn zu.

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