Joona Linna und Saga Bauer sind auf dem Weg zum Firmensitz von Silencia Defence, um mit Pontus Salman zu sprechen. Sie haben das Foto dabei, das die Kriminaltechniker der Landeskriminalpolizei beschädigt haben. Schweigend fahren sie auf der Landstraße 73, die wie eine schmutzige Spur nach Nynäshamn führt, in südliche Richtung.
Zwei Stunden zuvor hatte Joona die scharfe Aufnahme von den vier Personen in der Loge betrachtet: Raphael Guidis ruhiges Gesicht, sein schütteres Haar; Palmcronas schlaffes Lächeln, die Brille mit den stählernen Bügeln; Pontus Salman mit seinem wohlerzogenen, jungenhaften Aussehen und Agathe al-Haji mit den faltigen Wangen und einem schweren, intelligenten Blick.
»Mir ist da eine Idee gekommen«, sagte Joona danach langsam und begegnete Sagas Blick. »Wenn wir die Bildqualität verschlechtern und das Foto so bearbeiten, dass Pontus Salman nicht mehr zu erkennen ist …«
Er verstummte und verfolgte den Gedankengang schweigend weiter.
»Was erreichen wir damit?«, fragte Saga.
»Er weiß nicht, dass wir im Besitz eines scharfen Originals sind, oder?«
»Nein, das kann er nicht wissen, er nimmt garantiert an, dass wir alles getan haben, um die Schärfe zu verbessern und nicht umgekehrt.«
»Genau, wir haben nichts unversucht gelassen, um die vier Personen auf dem Bild zu identifizieren, es aber nur bei dreien geschafft, denn die vierte steht ein wenig abgewandt und das Gesicht ist einfach zu unscharf.«
»Du meinst, dass wir ihm die Möglichkeit geben sollen, uns anzulügen«, sagte Saga. »Zu lügen und zu behaupten, dass er nicht dort war, sich nicht mit Palmcrona, Agathe al-Haji und Raphael Guidi getroffen hat.«
»Denn wenn er leugnet, dass er dort war, ist das Treffen an sich der heikle Punkt.«
»Und wenn er erst einmal anfängt zu lügen, sitzt er in der Falle.«
Kurz hinter der Ortschaft Handen fahren sie ab, nehmen die Straße Richtung Jordbro und kommen in ein Industriegebiet, das von einem stillen Wald umsäumt wird.
Der Firmensitz von Silencia Defence ist ein mattgrauer und anonymer Betonbau mit einem sterilen, nahezu keuschen Aussehen.
Joona betrachtet das riesige Gebäude, lässt den Blick sachte über die schwarzen Fensterreihen und die getönten Scheiben schweifen und denkt nochmals an die Aufnahme von den vier Personen in der Loge, das Foto, das eine Kette von Gewalt ausgelöst hat, an deren Ende eine getötete Frau und eine trauernde Mutter stehen. Möglicherweise sind auch Penelope Fernandez und Björn Almskog wegen dieses Bilds gestorben. Er steigt aus dem Wagen, spürt, wie sich die Muskeln in seinem Kiefer anspannen, als er daran denkt, dass sich Pontus Salman, eine der Personen auf dem rätselhaften Foto, in diesem Augenblick in dem Gebäude vor ihm aufhält.
Die Fotografie ist kopiert und das Original an das Staatliche Kriminaltechnische Labor in Linköping geschickt worden. Tommy Kofoed hat die Kopie so bearbeitet, dass sie alt und abgewetzt aussieht. Eine Ecke fehlt, und an einer zweiten sieht man die Reste eines Klebestreifens. Kofoed hat dafür gesorgt, dass Pontus Salmans Gesicht und eine Hand verwischt sind, er sich scheinbar im Moment der Aufnahme bewegt hat.
Salman wird glauben, dass er – ausgerechnet er – das Glück hatte, verschwommen, unkenntlich zu erscheinen. Nichts deutet auf seine Teilnahme an dem Treffen mit Raphael Guidi, Carl Palmcrona und Agathe al-Haji hin. Er muss nur leugnen, dass er die vierte Person auf dem Foto ist. Es ist nicht einmal strafbar, sich auf einem unscharfen Bild nicht zu erkennen und sich nicht mehr zu erinnern, dass man sich mit gewissen Personen getroffen hat.
Joona geht zum Eingang.
Aber wenn er es leugnet, wissen wir, dass er lügt und uns etwas verheimlichen will.
Die Luft ist drückend heiß und schwül.
Saga nickt Joona zu, ihr Blick ist ernst, als sie durch die schweren, glänzenden Türen treten.
Und fängt Salman erst einmal an zu lügen, denkt Joona, werden wir dafür sorgen, dass er weiterlügt und sich immer mehr in seiner Lüge verstrickt, bis er feststeckt.
Sie haben einen großen, kühlen Empfangsbereich betreten.
Wenn Pontus Salman sich das Bild ansieht und verneint, dass er die Person identifizieren kann, werden wir sagen, wie schade es ist, dass er uns nicht weiterhelfen kann, fährt Joona in Gedanken fort. Wir werden uns darauf vorbereiten zu gehen, dann jedoch innehalten und ihn bitten, sich das Foto noch ein letztes Mal mit einer Lupe anzusehen. Der Kriminaltechniker hat dafür gesorgt, dass an der herunterhängenden Hand ein Siegelring noch deutlich zu erkennen ist. Wir werden Pontus Salman fragen, ob er vielleicht die Kleider, die Schuhe oder den Ring am kleinen Finger erkennt. Dadurch wird er natürlich gezwungen, auch das zu verneinen, und seine Lügen werden daraufhin Grund genug sein, um ihn zu einer Vernehmung mitzunehmen, Grund genug, ihn unter Druck zu setzen.
Hinter der Rezeption leuchtet ein rotes Emblem mit dem Namen des Unternehmens und einem schlangengleichen Firmensymbol voller Runen.
»Er kämpfte, solange er Waffen hatte«, sagt Joona.
»Du kannst Runen lesen?«, fragt Saga ungläubig.
Joona zeigt auf das Schild mit der Übersetzung und wendet sich anschließend dem Empfang zu, hinter dem ein blasser Mann mit schmalen, trockenen Lippen sitzt.
»Pontus Salman«, sagt Joona kurz.
»Haben Sie einen Termin?«
»Um zwei«, antwortet Saga.
Der Mann am Empfang schaut in seine Unterlagen, blättert und liest etwas.
»Ja, genau«, sagt er leise und blickt auf. »Herr Salman kann den Termin leider nicht wahrnehmen.«
»Das hat uns keiner mitgeteilt«, erwidert Saga. »Wir brauchen seine Hilfe bei …«
»Es tut mir wirklich leid.«
»Rufen Sie ihn an und informieren Sie ihn von dem Missverständnis«, meint Saga.
»Ich kann es versuchen, aber ich glaube eigentlich nicht … er ist nämlich in einer Besprechung.«
»Im vierten Stock«, wirft Joona ein.
»Im fünften«, entgegnet der Mann unwillkürlich.
Saga setzt sich in einen der Sessel. Sonnenstrahlen fallen durch die großen Fensterscheiben herein und verbreiten sich wie ein Feuer in ihrem Haar. Joona bleibt stehen, während der Rezeptionist den Hörer an sein Ohr hält und eine Nummer im Computer markiert. Es klingelt viele Male, und der Mann schüttelt bedauernd den Kopf.
»Legen Sie auf«, sagt Joona. »Wir überraschen ihn einfach.«
»Überraschen«, wiederholt der Rezeptionist mit unsicherem Blick.
Joona geht ohne Umschweife zu einer Glastür, die zu einem Korridor führt, und öffnet sie.
»Sie brauchen nicht Bescheid zu sagen, dass wir kommen«, sagt er lächelnd.
Die Wangen des jungen Rezeptionisten sind von hektischen roten Flecken übersät. Saga steht von der Couch auf und folgt Joona.
»Warten Sie«, versucht der Mann sie aufzuhalten. »Ich will mal schauen, ob ich …«
Sie gehen den Korridor hinunter, betreten den wartenden Aufzug und drücken auf die Fünf. Die Türen schließen sich hinter ihnen, und sie fahren lautlos nach oben.
Als sich die Aufzugtüren öffnen, erwartet Pontus Salman sie bereits. Er ist ein Mann um die vierzig mit einem etwas erschlafften Gesicht, oder vielmehr Mienenspiel.
»Willkommen«, sagt er ziemlich leise.
»Danke«, erwidert Joona.
Pontus Salmans Augen mustern die beiden Polizisten.
»Ein Kommissar und eine Märchenprinzessin«, stellt er fest.
Während sie ihm durch einen langen Korridor folgen, geht Joona in Gedanken noch einmal ihre Falle durch.
Joona spürt, dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken läuft – als würde Viola Fernandez in ihrem Kühlfach in der Pathologie in diesem Moment die Augen öffnen und ihn erwartungsvoll ansehen.
Die Fensterscheiben im Flur sind dunkel getönt und erzeugen ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Es ist ein sehr großes Büro mit einem Schreibtisch aus Ulmenholz und einer hellgrauen Sitzgruppe um einen schwarzen Glastisch.
Sie nehmen in den Sesseln Platz. Pontus Salman lächelt freudlos, presst die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander und fragt:
»Worum geht’s?«
»Ist Ihnen bekannt, dass Carl Palmcrona von der Staatlichen Waffenkontrollbehörde tot ist?«, fragt Saga.
Salman nickt zweimal.
»Selbstmord, habe ich gehört.«
»Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen«, erklärt Saga freundlich. »Wir sind dabei, ein Foto zu untersuchen, das wir gefunden haben, und es liegt uns viel daran, die Personen darauf zu identifizieren.«
»Drei von ihnen sind deutlich zu erkennen, aber die vierte ist leider sehr unscharf«, ergänzt Joona.
»Wir möchten, dass Sie Ihre Belegschaft einen Blick auf die Aufnahme werfen lassen, vielleicht erkennt ja jemand den Mann. Eine Hand ist zum Beispiel scharf.«
»Verstehe«, sagt Salman und spitzt die Lippen.
»Eventuell kann jemand aus dem Kontext erschließen, wer es sein könnte«, fährt Saga fort. »Einen Versuch ist es jedenfalls wert.«
»Wir sind bei Patria und Saab Bofors Dynamics gewesen«, sagt Joona. »Aber dort kannte keiner die Person.«
In Pontus Salmans abgekämpftem Gesicht lassen sich keine Gefühle ablesen. Joona fragt sich, ob er Tabletten nimmt, die dafür sorgen, dass er sich ruhig und selbstsicher fühlt. Sein Blick hat etwas eigenartig Lebloses, als gäbe es keine Beziehung zwischen Mimik und Emotionen, es gibt einen ausweichenden Kern, der den Eindruck völliger Abgewandtheit erweckt.
»Sie scheinen der Meinung zu sein, dass es wichtig ist«, sagt Salman und legt ein Bein über das andere.
»Ja«, antwortet Saga.
»Darf ich dieses seltsame Foto mal sehen?«, fragt Pontus Salman in seinem leichten, unpersönlichen Tonfall.
»Außer Palmcrona haben wir den Waffenhändler Raphael Guidi identifiziert«, erläutert Joona, »sowie Agathe al-Haji, die Sicherheitsberaterin von Präsident al-Bashir … die vierte Person hat bisher keiner erkannt.«
Joona hält Salman die Plastikhülle mit dem Foto hin. Saga zeigt auf die verschwommene Person am Logenrand. Joona sieht ihren wachen Blick, wie sie sich konzentriert, um jedes Nervenzucken, jedes Zittern bei Salman zu registrieren, falls er lügen sollte.
Salman befeuchtet erneut seine Lippen, seine Wangen erblassen, dann aber lächelt er, tippt auf das Foto und sagt:
»Das bin ja ich!«
»Sie?«
»Ja«, bestätigt er lachend, sodass seine kindlichen Schneidezähne sichtbar werden.
»Aber …«
»Wir haben uns in Frankfurt getroffen«, fährt er mit einem zufriedenen Lächeln fort. »Haben uns ein wunderbares Konzert … Ich weiß nicht mehr, was sie gespielt haben, Beethoven, glaube ich …«
Joona versucht, dieses unerwartete Geständnis zu verarbeiten, und räuspert sich kurz.
»Sie sind sich vollkommen sicher?«
»Ja«, antwortet Salman.
»Dann hätten wir das Rätsel also gelöst«, bemerkt Saga in einem Tonfall, der nicht einmal andeutungsweise ihre Enttäuschung verrät.
»Ich sollte mich vielleicht beim Staatsschutz bewerben«, scherzt Salman.
»Worum ging es bei diesem Treffen?«, sagt Joona. »Darf man das fragen?«
»Aber sicher«, antwortet Salman lachend und sieht Joona an. »Das Foto ist im Frühjahr 2008 entstanden, wir haben eine Lieferung von Munition in den Sudan besprochen. Agathe al-Haji verhandelte für die dortige Regierung. Die Region musste nach dem Friedensabkommen 2005 stabilisiert werden. Die Verhandlungen waren ziemlich weit gediehen, aber angesichts dessen, was im Frühjahr 2009 passiert ist, war dann doch alles für die Katz. Wir waren erschüttert, nun ja, Sie verstehen … Danach haben wir natürlich keinen Kontakt mehr zum Sudan gehabt.«
Joona sieht Saga an, weil er keine Ahnung hat, was im Frühjahr 2009 geschehen ist. Ihr Gesicht ist vollkommen neutral, und er beschließt, nicht zu fragen.
»Wir oft haben Sie sich getroffen?«, erkundigt sich Joona.
»Nur dieses eine Mal«, antwortet Salman. »So gesehen mag man es ein wenig verwunderlich finden, dass der Direktor der Kontrollbehörde eine Einladung zu einem Glas Champagner annimmt.«
»Finden Sie?«, fragt Saga.
»Es gab doch nichts zu feiern … aber vielleicht hatte er ja einfach Durst«, erwidert Salman.