Axel öffnet die Tür und begrüßt den Fahrradkurier. Die dröhnende Musik von der Abschlussfeier in der Hochschule für Architektur weht zusammen mit lauer Abendluft herein.
Er nimmt die Mappe an, und der Gedanke, den Vertrag vor den Augen eines Fahrradkuriers zu unterschreiben, macht ihn aus irgendeinem Grund verlegen, als wäre er ein Mann, der zu allem Möglichen bereit ist, wenn man ihn nur ein bisschen unter Druck setzt.
»Warten Sie bitte kurz«, sagt Axel und lässt den Boten im Flur stehen.
Er geht links den Flur hinunter, an der unteren Bibliothek vorbei und in die Küche. Er passiert die glänzenden Arbeitsflächen aus dunklem Stein, die schwarz glänzenden Schränke und geht zu dem großen Standkühlschrank mit Eisbereiter. Er holt eine kleine Flasche Mineralwasser heraus und leert sie, löst seine Krawatte, setzt sich anschließend an die hohe Theke und öffnet die Mappe.
Die Akten sind säuberlich sortiert, alles scheint in Ordnung zu sein, alle Anlagen sind enthalten, das Gutachten des Exportkontrollrats, die Klassifizierung, der vorläufige Bescheid, die Kopien für den Auswärtigen Ausschuss und die Angebotsankündigung.
Er studiert die Dokumente, in denen es um die Ausfuhrgenehmigung geht, die Entscheidung über den Export, blättert weiter zu der Zeile, in die er als Generaldirektor der Waffenkontrollbehörde seinen Namen setzen soll.
Ein kalter Schauer durchläuft seinen Körper.
Es ist ein großes Geschäft, das für die Handelsbilanz des Landes von Bedeutung ist, eine Routineangelegenheit, die durch Carl Palmcronas Selbstmord verzögert wurde. Ihm ist bewusst, wie schwierig Pontus Salmans Situation ist, möglicherweise verliert sein Unternehmen den Auftrag, falls sich die Angelegenheit noch weiter in die Länge ziehen sollte.
Gleichzeitig merkt er, wie sehr es ihn stresst, einen Export von Munition nach Kenia zu genehmigen, ohne die Richtigkeit seines Beschlusses garantieren zu können.
Axel trifft eine Entscheidung und fühlt sich augenblicklich besser.
In den kommenden Tagen wird er seine gesamte Zeit diesem Vorgang widmen und daraufhin die Ausfuhrerlaubnis unterzeichnen.
Er wird es tun, das weiß er, aber nicht jetzt. Es ist ihm egal, ob sie wütend reagieren. Es ist seine Entscheidung, er ist der Generaldirektor der Waffenkontrollbehörde.
Er greift nach dem Stift und zeichnet in die Zeile, die auf seinen Namenszug wartet, ein fröhliches Strichmännchen, von dessen Mund eine Sprechblase ausgeht.
Axel kehrt mit ernster Miene in den Flur zurück, überreicht dem Boten die Mappe, geht anschließend die Treppe hinauf und in den Salon. Er fragt sich, ob Beverly tatsächlich oben ist oder ob sie sich nicht getraut hat, ihm zu sagen, dass sie sich aus dem Haus geschlichen hat.
Was ist, wenn sie sich hinausschleicht und ein weiteres Mal verschwindet?
Axel nimmt die Fernbedienung von einem Sideboard und legt einen Sampler mit David Bowies frühesten Songs ein.
Die Anlage ähnelt einem schwach leuchtenden Goldbarren. Sie funktioniert kabellos, und die Boxen sind in die Wände eingelassen und nicht zu sehen.
Er tritt zu einem Vitrinenschrank, öffnet die bucklige Glastür und betrachtet die glänzenden Flaschen.
Er zögert kurz, ehe er die nummerierte Whiskyflasche mit einem Hazelburn von der Springbank Distillery herausnimmt. Die Brennerei befindet sich in der Region Campbeltown in Schottland. Axel hat sie besichtigt und erinnert sich an den über hundert Jahre alten Maischebottich, der heute noch benutzt wird. Er war abgenutzt, leuchtend rot lackiert und hatte nicht einmal einen Deckel.
Axel Riessen zieht den Korken heraus und atmet den Whiskyduft ein: tief erdig und so dunkel wie ein Gewitterhimmel. Er drückt den Korken wieder hinein, stellt die Flasche sachte ins Regal zurück und stellt fest, dass die Anlage einen Song von der Platte »Hunky Dory« ausgewählt hat.
»But her friend is nowhere to be seen. Now she walks through her sunken dream, to the seat with the clearest view, and she’s hooked to the silver screen«, singt David Bowie.
Die Tür zur Wohnung seines Bruders wird zugeschlagen. Axel blickt durch die riesigen Fensterfronten in den üppig wachsenden Garten hinaus. Er fragt sich, ob Robert bei ihm vorbeischauen wird, und im selben Moment klopft es an die Tür.
»Komm rein«, ruft er seinem Bruder zu.
Robert öffnet die Tür und betritt mit einem verlegenen Gesichtsausdruck den Salon.
»Mir ist schon klar, dass du diesen Mist hörst, um mich zu ärgern, aber …«
Axel lächelt und singt mit.
»Take a look at the Lawman, beating up the wrong guy. Oh man! Wonder if he’ll ever know: he’s in the best selling show …«
Sein Bruder deutet ein paar Tanzschritte an, geht dann zu dem offenen Vitrinenschrank und wirft einen Blick auf die Flaschen.
»Bitte sehr«, sagt Axel trocken.
»Magst du dir mal meine Strosser ansehen – darf ich kurz ausmachen?«
Axel zuckt mit den Schultern, Robert drückt auf Pause, und die Musik wird leiser und verstummt sanft.
»Hast du sie schon fertig?«
»Ich bin die ganze Nacht auf gewesen«, antwortet Robert. Er lächelt breit. »Heute Morgen habe ich die Saiten aufgezogen.«
Daraufhin schweigen beide. Vor langer Zeit war ihre Mutter sicher gewesen, dass Axel ein berühmter Geiger werden würde. Alice Riessen war selbst Berufsmusikerin gewesen, hatte zehn Jahre lang die zweite Geige in der Hofkapelle der Stockholmer Oper gespielt. Und sie hatte ihren erstgeborenen Sohn ganz offen bevorzugt.
Dann brach alles zusammen. Axel studierte an der Musikhochschule, und es gelang ihm, beim Johan-Fredrick-Berwald-Wettbewerb für junge Solisten, der als das Nadelöhr zur Weltelite betrachtet wird, zusammen mit drei anderen jungen Musikern das Finale zu erreichen.
Nach dem Wettbewerb gab Axel die Musik auf und besuchte die Militärakademie in Karlsborg. Sein jüngerer Bruder Robert durfte den Platz des Musikers in der Familie übernehmen. Wie die meisten, die an der Königlichen Musikhochschule studieren, wurde auch Robert kein Stargeiger. Er spielt in einem Kammerorchester, hat sich aber vor allem zu einem renommierten Geigenbauer entwickelt, bei dem Bestellungen aus aller Welt eingehen.
»Zeig mir die Geige«, sagt Axel.
Robert nickt und holt das Instrument, eine schlanke Violine, feurig rot lackiert und mit einer Resonanzdecke aus getigertem Ahornholz.
Er stellt sich vor seinen Bruder und spielt einen Tremolo-Abschnitt aus einem der Stücke Béla Bartóks, die auf dessen Ungarnreise entstanden sind. Axel hat ihn immer gemocht. Bartók war ein erklärter Gegner des Nationalsozialismus und musste sein Land verlassen. Als Komponist war er ein Grübler, dem es manchmal gelang, kurze Augenblicke des Glücks zu vermitteln. Eine Art wehmütige Volksmusik inmitten all der Trümmer nach einer Katastrophe, denkt Axel, während Robert sein Spiel beendet.
»Sie klingt ziemlich gut«, sagt Axel. »Aber du musst den Stimmstock vorschieben, denn es gibt da eine kleine Stummheit, die …«
Das Gesicht seines Bruders wird sofort verschlossen.
»Daniel Strosser hat gesagt, dass … er will genau diesen Klang haben«, erklärt er. »Er möchte, dass die Geige klingt wie die junge Birgit Nilsson.«
»Dann solltest du den Stimmstock auf jeden Fall vorschieben«, erwidert Axel lächelnd.
»Davon hast du keine Ahnung, ich wollte nur …«
»Ansonsten ist sie ganz wunderbar«, sagt Axel schnell.
»Du hörst doch den Klang – trocken und scharf und …«
»Ich habe nichts Abfälliges über die Geige gesagt«, fährt Axel ungerührt fort. »Ich sage nur, dass es einen Kern in ihrem Klang gibt, der nicht lebt und der …«
»Lebt? Dieses Instrument ist für einen Bartók-Kenner«, fällt Robert ihm ins Wort. »Wir sprechen hier von Bartók – das ist was anderes als Bowie.«
»Vielleicht habe ich mich ja auch nur verhört«, sagt Axel leise.
Robert öffnet den Mund, um ihm zu antworten, hält jedoch inne, als er seine Frau Anette an die Tür klopfen hört.
Sie lächelt, als sie ihn mit der Geige sieht.
»Du hast deine Strosser ausprobiert?«, fragt sie erwartungsvoll.
»Ja«, antwortet Robert schroff, »aber Axel gefällt sie nicht.«
»Das stimmt nicht«, widerspricht Axel. »Ich bin mir ganz sicher, dass dein Kunde mehr als zufrieden sein wird. Wovon ich eben gesprochen habe, existiert vielleicht nur in meiner Einbildung, die …«
»Hör nicht auf ihn, er hat doch keine Ahnung«, unterbricht Anette ihn gereizt.
Robert will gehen, seine Frau mitnehmen, eine Szene verhindern, aber sie tritt zu Axel.
»Gib zu, dass du dir den Fehler nur ausgedacht hast«, sagt sie.
»Es ist kein Fehler, es geht nur um den Stimmstock, der …«
»Und wann hast du das letzte Mal gespielt? Vor dreißig, vierzig Jahren? Du warst damals doch nur ein Kind. Ich finde, du solltest dich entschuldigen.«
»Lass es gut sein«, sagt Robert.
»Entschuldige dich.«
»Okay, Entschuldigung«, sagt Axel und merkt, dass er rot wird.
»Dafür, dass du gelogen hast«, fährt sie fort. »Dafür, dass du gelogen hast, weil du Robert nicht das Lob gönnst, das seine neue Geige verdient hat.«
»Dafür entschuldige ich mich.«
Axel stellt seine Musik wieder an und dreht sie ziemlich laut. Anfangs klingt es, als würde auf zwei ungestimmten Gitarren geklimpert und ein Sänger mit schwacher Stimme nach dem richtigen Ton suchen: »Goodbye love, goodbye love …«
Anette murmelt etwas über Axels fehlendes Talent, und Robert befiehlt ihr aufzuhören und zieht sie aus dem Raum. Axel stellt die Musik noch etwas lauter, und das Schlagzeug und der Bass bringen die in sich gekehrte Musik auf den richtigen Kurs: »Didn’t know what time it was, the lights were low ohoh. I leaned back on my radio oh oh.«
Axel schließt die Augen und spürt sie in der Dunkelheit brennen. Er ist bereits sehr müde. Manchmal schläft er eine halbe Stunde, manchmal macht er selbst mit Beverly neben sich kein Auge zu. Dann hüllt er sich in eine Decke, setzt sich auf die verglaste Veranda und blickt im feuchten Licht des Morgengrauens auf die Bäume des schönen Gartens hinaus. Axel Riessen ahnt natürlich, was der Grund für seine Probleme ist. Er schließt die Augen und kehrt in Gedanken zu jenen Tagen zurück, die sein Leben veränderten.