Joona geht neben Axel Riessen über die Marmorplatten an der Rückseite des Hauses. Es duftet intensiv nach Flieder. Sie erreichen das Atelier und klopfen an. Das Geigenspiel verstummt, und die Tür wird von einem Mann mittleren Alters geöffnet. Er hat schütteres Haar, ein schönes, intelligentes Gesicht und einen Körper, der einmal schlank war, mit den Jahren jedoch immer fülliger geworden ist.
»Die Polizei möchte mit dir sprechen«, sagt Axel Riessen ernst. »Du stehst unter dem dringenden Verdacht, dich ungebührlich benommen zu haben.«
»Ich gestehe alles«, sagt Robert.
»Wie schön«, sagt Joona.
»War sonst noch was?«
»Es gibt da in der Tat einige Fälle, die schon länger auf meinem Schreibtisch liegen«, erklärt Joona.
»Ich bin mit Sicherheit der Täter.«
»Hervorragend«, sagt Joona und gibt Robert Riessen die Hand. »Joona Linna, Landeskriminalpolizei.«
»Worum geht es?«, fragt Robert lächelnd.
»Wir sind dabei, einen plötzlichen Todesfall unter die Lupe zu nehmen. Es geht um den früheren Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde, deshalb unterhalte ich mich mit Ihrem Bruder.«
»Über Palmcrona weiß ich nur, was in den Zeitungen gestanden hat.«
»Dürfte ich kurz hereinkommen?«
»Selbstverständlich.«
»Ich gehe dann mal zu Ihrer Kollegin zurück«, sagt Axel Riessen und schließt hinter Joona die Tür.
Das Dach des Ateliers ist flach und schräg wie in einem Dachgeschoss. Es scheint in einen bereits vorhandenen Keller eingebaut worden zu sein, in den eine schön lackierte Holztreppe führt. Eine intensive Duftmischung aus frisch zugesägtem Holz, Harz und Terpentin schlägt ihnen entgegen. Überall hängen Geigenteile, ausgewählte Holzstücke, geschnitzte Schnecken, Spezialwerkzeuge, Hobel so klein wie Weinkorken und gebogene Messer.
»Ich habe Sie durchs Fenster spielen hören«, sagt Joona.
Robert nickt und deutet auf eine schöne Geige.
»Sie musste nur ein wenig justiert werden.«
»Haben Sie die selbst gebaut?«, fragt Joona.
»Ja.«
»Wunderschön.«
»Danke.«
Robert greift nach der Geige und reicht sie Joona. Das glänzende Instrument wiegt fast nichts. Joona dreht die Geige um und riecht an ihr.
»Der Lack ist das Geheimnis«, kommentiert Robert und legt das Instrument in einen weinrot gefütterten Kasten.
Joona öffnet seine Tasche, zieht die Plastikhülle heraus und gibt Robert die Aufnahme, die Björn Almskog an Carl Palmcrona geschickt hat.
»Palmcrona«, sagt Robert.
»Ja, aber erkennen Sie die Personen im Hintergrund, die Musiker?
Robert betrachtet erneut das Bild und nickt.
»Das da ist Martin Beaver«, sagt er und zeigt auf einen der Männer. »Kikuei Ikeda … Isomura und Clive Greensmith am Cello.«
»Bekannte Musiker?«
Robert muss über die Frage schmunzeln:
»Sie sind fast schon Legenden … es ist das Tokyo String Quartet.«
»Das Tokyo String Quartet – das sind immer dieselben vier Personen?«
»Ja.«
»Immer?«
»Seit sehr langer Zeit – sie sind ziemlich erfolgreich gewesen.«
»Fällt Ihnen an dem Foto irgendetwas auf?«
Robert betrachtet aufmerksam das Bild.
»Nein«, sagt er nach einer Weile.
»Sie spielen nicht nur in Tokio?«, fragt Joona.
»Sie spielen in der ganzen Welt, aber ihre Instrumente gehören einer japanischen Stiftung.«
»Ist das üblich?«
»Ja, wenn es sich um wirklich besondere Instrumente handelt«, antwortet Robert. »Und diese hier, die Sie auf dem Bild sehen, gehören zweifellos zu den außergewöhnlichsten der Welt.«
»Ich verstehe.«
»Das Paganiniquartett«, sagt Robert.
»Das Paganiniquartett«, wiederholt Joona und betrachtet erneut die Musiker auf dem Bild. Das Holz der Instrumente glänzt dunkel, die schwarzen Kleider der Musiker spiegeln sich im Lack.
»Es sind Stradivari«, erzählt Robert. »Das älteste Instrument ist Desaint, eine Geige aus dem Jahre 1680 … Kikuei Ikeda spielt sie. Martin Beaver hat die Geige, die der Graf Cozio de Salabue Paganini überließ.«
Robert verstummt und wirft Joona einen fragenden Blick zu, aber Joona gibt ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er weitersprechen soll:
»Alle vier Instrumente waren im Besitz von Nicolò Paganini, ich weiß nicht, wie viel Sie über Paganini wissen, er war ein Virtuose, ein Geiger und Komponist … er schrieb Stücke, die als vollkommen lächerlich betrachtet wurden, weil man dachte, niemand könnte sie spielen, bis Paganini persönlich zur Geige griff. Nach seinem Tod dauerte es hundert Jahre, bis jemand seine Stücke spielen konnte … manche seiner Techniken werden selbst heute noch als unspielbar betrachtet … tja, es gibt viele Anekdoten über Paganini und seine Geigenduelle.«
Es wird still. Joona sieht sich erneut das Foto an, die vier Männer, die im Hintergrund auf der Bühne sitzen. Er betrachtet ihre Instrumente.
»Dann spielt das Tokyo String Quartet also oft zusammen auf diesen Instrumenten?«
»Oh ja, sie geben ungefähr acht oder neun Konzerte im Monat.«
»Wann könnte dieses Bild Ihrer Meinung nach entstanden sein?«
»Es dürfte nicht älter als zehn Jahre sein, denke ich, wenn ich mir Martin Beaver ansehe, dem ich ein paar Mal begegnet bin.«
»Könnte man den genauen Zeitpunkt feststellen, wenn man den Ort wüsste?«
»Das ist die Alte Oper in Frankfurt am Main.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich weiß, dass sie dort jedes Jahr spielen«, erklärt Robert Riessen. »Manchmal auch mehrmals im Jahr.«
»Perkele«, murmelt Joona.
Es musste einen Weg geben, herauszufinden, wann dieses Foto entstanden war, um Pontus Salmans Version zu widerlegen oder zu bestätigen.
Joona öffnet die Plastikhülle, um das Foto hineinzulegen, und denkt, dass Penelope wahrscheinlich die Einzige ist, die Licht in das Dunkel bringen kann.
Erneut mustert er das Foto, einen der Geiger, die Bewegung des Bogens, den hohen Ellbogen, dann blickt er auf und sieht Robert Riessen mit seinen hellgrauen Augen an.
»Spielen sie immer dieselben Stücke, wenn sie auf Tournee gehen?«, fragt Joona.
»Dieselben? Nein, mal sehen … sie haben alle Quartette Beethovens gespielt, und das allein sorgt ja schon für ziemlich viel Abwechslung. Aber sie spielen natürlich auch eine Menge anderer Stücke, zum Beispiel von Schubert und Bartók. Und Brahms. Die Liste der Komponisten ist lang … Debussy, Dvorák, Haydn, jede Menge Mozart und Ravel und so weiter und so weiter.«
Joona starrt ins Leere, steht auf, geht ein paar Schritte durchs Atelier, bleibt stehen und dreht sich zu Robert Riessen um.
»Mir ist da eine Idee gekommen«, sagt er mit plötzlichem Eifer in der Stimme. »Könnte man ausgehend von diesem Bild, also wenn man sich die Hände der Musiker anschaut … wäre es dann möglich zu erkennen, welches Stück sie spielen, indem man das Foto studiert?«
Robert Riessen öffnet und schließt den Mund, schüttelt den Kopf, wirft aber trotzdem nochmals einen Blick auf die Aufnahme: Im Scheinwerferlicht auf der Bühne der Alten Oper sieht er das Tokyo String Quartet spielen. Clive Greensmith’ schmales Gesicht ist eigentümlich entrückt, seine hohe Stirn glänzt. Und Kikuei Ikeda spielt mit dem kleinen Finger der linken Hand auf dem Griffbrett der Geige einen hohen Ton.
»Tut mir leid, das ist unmöglich … es könnte sich um … alle möglichen Töne handeln, hätte ich fast gesagt, aber …«
»Und wenn man eine Lupe benutzt … immerhin sieht man ihre Finger, die Saiten, die Hälse der Instrumente …«
»Sicher, theoretisch schon, aber …«
Er seufzt und schüttelt den Kopf.
»Kennen Sie jemanden, der mir helfen könnte?«, fährt Joona fort. »Einen Musiker oder Dozenten am Konservatorium, der dieses Foto für uns analysieren könnte?«
»Ich wünschte, ich …«
»Es wird nicht gehen – oder?«, fragt Joona.
»Ehrlich gesagt, nein«, antwortet Robert Riessen und zuckt mit den Schultern. »Wenn nicht einmal Axel es erkennen konnte, halte ich es für unmöglich.«
»Axel? Ihr Bruder?«
»Hat er sich das Foto nicht angesehen?«, fragt Robert Riessen.
»Nein«, antwortet Joona.
»Aber Sie haben doch mit ihm gesprochen?«
»Ja, aber nicht über Musik – Sie sind doch hier der Musiker«, erwidert Joona lächelnd.
»Sprechen Sie trotzdem mit ihm«, sagt Robert.
»Aber warum sollte ich …«
Als es an die Tür des Ateliers klopft, verstummt Joona. Im nächsten Moment tritt Saga Bauer ein. Das Sonnenlicht fällt durch ihre blonden Haare.
»Ist Axel Riessen hier?«, fragt sie.
»Nein«, antwortet Joona.
»Noch mehr Kriminalpolizisten?«, erkundigt sich Robert Riessen lächelnd.
»Staatsschutz«, erklärt Saga kurz.
Es wird ein bisschen zu lange still, Robert Riessen scheint den Blick nicht von ihr abwenden zu können. Er kann sich nicht sattsehen an ihr, an ihren großen, unwirklich blauen Augen und dem niedlichen hellrosa Mund.
»Ich wusste gar nicht, dass der Staatsschutz eine Abteilung für Elfen hat«, sagt er, lächelt breit und versucht anschließend, wieder ernst zu werden:
»Entschuldigen Sie bitte, es war nicht so gemeint, aber Sie sehen nun wirklich aus wie eine Elfe oder so eine Prinzessin von Bauer.«
»Der Schein trügt«, erwidert sie trocken.
»Robert Riessen«, stellt er sich vor und streckt die Hand aus.
»Saga«, erwidert sie.