106 Der Vater

In einer Holzküche in Schonen schreckt ein Mann auf, als das Telefon klingelt. Er ist gerade erst hereingekommen, nachdem er über eine Stunde damit verbracht hat, eine junge Kuh zu befreien, die entlaufen war und sich im Stacheldraht des Nachbarn verfangen hatte. Evert Andersson hat Blut an den Fingern, Blut, das er an seiner blauen Arbeitskleidung abgewischt hat.

Als es klingelt, hindern ihn nicht nur seine schmutzigen Kleider daran, an den Apparat zu gehen, sondern auch das Gefühl, dass es in diesem Moment niemanden gibt, mit dem er gerne sprechen würde. Er beugt sich vor, wirft einen Blick auf das Display und sieht, dass die Rufnummer unterdrückt wird, wahrscheinlich wieder so ein Verkäufer mit affektierter Stimme.

Er wartet, bis es nicht mehr klingelt, aber kurz darauf beginnt das Telefon von Neuem zu klingeln. Evert Andersson schaut noch einmal auf das Display und meldet sich schließlich.

»Andersson.«

»Hallo, ich heiße Saga Bauer«, hört er eine gestresste Frauenstimme sagen. »Ich bin Polizistin, Kommissarin beim Staatsschutz. Eigentlich suche ich Ihre Tochter, Beverly Andersson.«

»Was ist passiert?«

»Sie hat nichts angestellt, aber ich glaube, dass sie über wichtige Informationen verfügt, die uns helfen könnten.«

»Und jetzt ist sie verschwunden?«, fragt Andersson schwach.

»Ich habe mir gedacht, dass Sie mir vielleicht ihre Telefonnummer geben können«, erwidert Saga.

Evert denkt, dass er seine Tochter früher als seine Nachfolgerin betrachtet hat, die den Hof in der nächsten Generation weiterführen würde, die hier in seinem Haus, seinen Scheunen und Wirtschaftsgebäuden und auf seinen Äckern arbeiten und sich auf dem Hof bewegen würde, wie ihre Mutter es getan hat, in einem Ledermantel, die Haare in einem Zopf auf der Schulter.

Aber Beverly hatte schon als Kind etwas Fremdes, das ihm Angst machte.

Sie wurde älter und immer eigener. Sie war anders als er, anders als ihre Mutter. Als sie noch ein Kind von acht oder neun Jahren war, hatte er sie einmal im Stall überrascht. Sie saß in einer leeren Box auf einem umgedrehten Eimer und sang mit geschlossenen Augen vor sich hin. Sie hatte sich im Klang ihrer eigenen Stimme verloren. Eigentlich hatte er sie anschreien wollen aufzuhören, nicht so albern zu sein, aber die heitere Miene auf dem Gesicht des Kindes hatte ihn verwirrt. Von jenem Moment an wusste er, dass es in ihr etwas gab, was er niemals verstehen würde. Daraufhin hörte er auf, mit ihr zu sprechen. Sobald er etwas zu sagen versuchte, verschwanden die Worte.

Nach dem Tod ihrer Mutter herrschte auf dem Hof vollkommene Stille.

Beverly begann, sich herumzutreiben, war manchmal stundenlang verschwunden, gelegentlich auch einen ganzen Tag. Die Polizei brachte sie von irgendwoher nach Hause, ohne dass sie hätte sagen können, wie sie dort gelandet war. Sie ging mit jedem mit, wenn man nur freundlich mit ihr sprach.

»Es gibt nichts, was ich ihr sagen möchte. Was soll ich da mit einer Telefonnummer?«, sagt er in seinem rauen und abweisenden schonischen Dialekt.

»Sind Sie sicher, dass …«

»Leute aus Stockholm verstehen so etwas nicht«, unterbricht er sie und legt auf.

Er betrachtet seine Finger auf dem Hörer, sieht das Blut auf den Knöcheln, den Schmutz unter den Nägeln, entlang des Nagelbetts, in jeder Furche der rauen Haut. Langsam geht er zu einem grünen Sessel, greift nach der glänzenden Beilage der Zeitung und beginnt, darin zu lesen. Am Abend wird eine Sendung zum Gedenken an den Fernsehstar Ossian Wallenberg ausgestrahlt. Evert lässt die Zeitung zu Boden fallen, als er von seinen eigenen Tränen überrascht wird. Ihm ist plötzlich eingefallen, dass Beverly oft neben ihm auf der Couch gesessen und über den Klamauk in »Der goldene Freitag« gelacht hat.

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