25 Das Kind auf der Treppe

Joona verlässt das Wohnzimmer und wirft einen Blick ins Badezimmer, das gerade detailliert fotografiert wird. Er geht durch den Flur und tritt durch die Wohnungstür ins Treppenhaus, wo er vor dem engmaschigen Gitter des Aufzugs stehen bleibt.

Auf der Wohnungstür neben dem Aufzug steht »Nilsson«. Er klopft an und wartet. Kurz darauf hört man hinter der Tür Schritte. Eine rundliche Frau Anfang sechzig öffnet einen Spaltbreit und schaut hinaus.

»Ja, bitte?«

»Guten Tag, ich heiße Joona Linna, ich bin Kriminalkommissar und …«

»Aber ich habe doch schon gesagt, dass ich sein Gesicht nicht gesehen habe«, unterbricht sie ihn.

»Ist die Polizei schon bei Ihnen gewesen? Das wusste ich nicht.«

Sie öffnet die Tür, und zwei Katzen, die auf dem Telefontischchen gelegen haben, springen auf den Boden und verschwinden in der Wohnung.

»Er hatte eine Draculamaske auf«, sagt die Frau ungeduldig, als hätte sie das bereits unzählige Male erklärt.

»Wer?«

»Wer«, murrt sie und geht zurück in die Wohnung.

Nach einer Weile kehrt sie mit einem vergilbten Zeitungsausschnitt zurück. Joona überfliegt den zwanzig Jahre alten Artikel über einen Exhibitionisten, der sich damals als Dracula verkleidete und im Stadtteil Södermalm Frauen unsittlich berührte.

»Unten herum war er splitterfasernackt …«

»Aber ich dachte eigentlich …«

»Nicht, dass ich hingesehen hätte«, fährt die Frau fort. »Aber das habe ich euch doch alles schon erzählt.«

Joona sieht sie an und lächelt.

»Eigentlich wollte ich Sie nach etwas ganz anderem fragen.«

Die Frau reißt die Augen auf:

»Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?«

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Penelope Fernandez kennen, Ihre Nachbarin, die …«

»Sie ist wie ein Enkelkind für mich«, unterbricht ihn die Frau. »So wunderbar, so nett, so süß und …«

Sie verstummt jäh und fragt dann leise:

»Ist sie tot?«

»Warum fragen Sie das?«

»Weil die Polizei herkommt und unangenehme Fragen stellt«, erwidert sie.

»Ich würde gerne wissen, ob sie in den letzten Tagen ungewöhnlichen Besuch bekommen hat.«

»Nur weil ich alt bin, schnüffele ich noch lange nicht anderen Leuten hinterher und führe Buch über ihr Privatleben.«

»Natürlich nicht, ich dachte nur, Sie hätten vielleicht rein zufällig etwas gesehen.«

»Das habe ich aber nicht.«

»Ist vielleicht irgendetwas anderes Ungewöhnliches vorgefallen?«

»Ganz und gar nicht. Das Mädchen ist gepflegt und fleißig.«

Joona bedankt sich für das Gespräch, teilt ihr mit, dass er möglicherweise noch einmal mit weiteren Fragen vorbeischauen wird, und tritt wieder nach draußen, damit die Frau ihre Tür schließen kann.

In der dritten Etage gibt es keine weiteren Wohnungen. Er steigt die Stufen weiter hinauf. Auf halber Treppe sieht er ein Kind sitzen. Es scheint ein Junge von etwa acht Jahren zu sein, mit kurzen Haaren, in einer Jeans und einem fadenscheinigen Helly-Hansen-Pullover. Auf seinem Schoß liegt eine Plastiktüte, darin eine Mineralwasserflasche mit abgeschabtem Etikett und ein halbes Baguette.

Joona bleibt vor dem Kind stehen, das ihn scheu ansieht.

»Hallo«, sagt er. »Wie heißt du?«

»Mia.«

»Ich heiße Joona.«

Ihm fällt auf, dass der schlanke Hals des Mädchens unter dem Kinn ganz schmutzig ist.

»Hast du eine Pistole?«, fragt sie.

»Warum fragt du mich das?«

»Du hast Ella gesagt, dass du Polizist bist.«

»Das stimmt – ich bin Kommissar.«

»Hast du eine Pistole?«

»Ja, habe ich«, antwortet Joona. »Möchtest du mal schießen?«

Das Kind sieht ihn verblüfft an.

»Das soll ein Witz sein, oder?«

»Ja«, gesteht Joona lächelnd.

Das Mädchen lacht.

»Warum sitzt du hier auf der Treppe?«

»Es macht mir Spaß, man hört Sachen.«

Joona setzt sich neben das Kind.

»Und was hast du gehört?«

»Jetzt gerade habe ich gehört, dass du Polizist bist und Ella dich angelogen hat.«

»Was war denn gelogen?«

»Dass sie Penelope mag«, antwortet Mia.

»Tut sie das nicht?«

»Ella kippt ihr immer Katzendreck in den Briefschlitz.«

»Warum tut sie das?«

Das Kind zuckt mit den Schultern und fingert an seiner Tüte herum.

»Keine Ahnung.«

»Was hältst du denn von Penelope?«

»Sie sagt immer ›Hallo‹.«

»Aber du kennst sie nicht weiter?«

»Nein.«

Joona schaut sich um.

»Wohnst du hier auf der Treppe?«

Das Mädchen unterdrückt ein Lächeln.

»Nein, ich wohne mit meiner Mama im ersten Stock.«

»Aber du bist oft im Treppenhaus.«

Mia zuckt mit den Schultern.

»Meistens.«

»Schläfst du hier?«

Das Mädchen zupft am Etikett der Wasserflasche.

»Manchmal.«

»Letzten Freitag«, sagt Joona, »hat Penelope am frühen Morgen ihre Wohnung verlassen. Sie hat ein Taxi genommen.«

»Das war totales Pech«, erwidert das Mädchen sofort. »Sie hat Björn nur um ein paar Sekunden verpasst; als er gekommen ist, war sie gerade weg. Ich hab ihm gesagt, dass sie weggefahren ist.«

»Und was hat er gesagt?«

»Das wäre nicht weiter schlimm, er wollte nur was holen.«

»Er wollte was holen?«

Mia nickt.

»Ich leih mir immer sein Handy und spiele ein paar Spiele, aber diesmal hatte er keine Zeit, er ist nur ganz kurz in die Wohnung gegangen, hat die Tür hinter sich abgeschlossen und ist die Treppen runtergelaufen.«

»Hast du gesehen, was er geholt hat?«

»Nein.«

»Was ist danach passiert?«

»Nichts, um Viertel vor neun bin ich in die Schule gegangen.«

»Und nach der Schule, am Abend. Ist da was passiert?«

Mia zuckt mit den Schultern.

»Mama war nicht da, also bin ich zu Hause geblieben, hab Makkaroni gegessen und ferngesehen.«

»Gestern?«

»Da war sie auch weg, also war ich zu Hause.«

»Du hast nicht gesehen, wer gekommen und gegangen ist?«

»Nein.«

Joona zieht eine Visitenkarte heraus und notiert eine Telefonnummer darauf.

»Schau mal, Mia«, sagt er. »Das hier sind zwei richtig gute Telefonnummern. Die eine ist meine eigene.«

Er zeigt ihr die aufgedruckte Rufnummer auf der Karte mit dem Polizeiemblem.

»Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst, wenn jemand gemein zu dir ist. Und die zweite Nummer, die ich hier aufgeschrieben habe, 0200 – 230 230 ist die Nummer des Kinderhilfstelefons. Da kannst du immer anrufen, wenn dir danach ist, und über alles reden.«

»Okay«, flüstert Mia und nimmt die Visitenkarte.

»Wirf die Karte nicht weg, wenn ich gegangen bin«, ermahnt Joona sie. »Denn auch wenn du jetzt nicht anrufen willst, möchtest du es vielleicht ein anderes Mal.«

»Björn hat die Hand so gehalten, als er gegangen ist«, sagt Mia und legt eine Hand auf den Bauch.

»Als hätte er Schmerzen?«

»Ja.«

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