41 Ohne Schlaf

Zehn Monate ist es mittlerweile her, dass Axel Riessen Beverly Andersson zum ersten Mal begegnet ist. Alles hat sich wegen seiner akuten Schlafstörungen ergeben. Seit einem Vorfall vor mehr als dreißig Jahren hat er Probleme zu schlafen. Sein Leben funktionierte, solange er Schlaftabletten nahm und in einen chemischen Schlaf ohne Träume, vielleicht auch ohne wirkliche Erholung sank.

Aber er schlief.

Er musste die Dosis kontinuierlich erhöhen, um Schlaf zu finden. Die Tabletten erzeugten ein einschläferndes Rauschen, das seine Gedanken übertönte. Er liebte sein Medikament und mischte es mit altem, teurem Whisky. Nach mehr als zwanzig Jahren regelmäßigen Konsums fand ihn sein Bruder jedoch bewusstlos und aus beiden Nasenlöchern blutend im Flur.

Im Karolinska-Krankenhaus diagnostizierte man eine schwere Leberzirrhose.

Der chronische Zellschaden in der Leber war so umfassend, dass er unmittelbar nach der obligatorischen Kontrollzeit auf die Warteliste für eine Lebertransplantation gesetzt wurde. Da er jedoch die Blutgruppe 0 und einen sehr ungewöhnlichen Gewebetyp hat, verringerte sich die Zahl möglicher Spender katastrophal.

Sein jüngerer Bruder hätte einen Teil seiner Leber spenden können, wenn er nicht an solch gravierenden Herzrhythmusstörungen litte, dass sein Herz die Belastung einer großen Operation unter Umständen nicht überstehen würde.

Es gab kaum Hoffnung, eine Spenderleber zu finden, aber wenn Axel auf Alkohol und Schlaftabletten verzichtete, würde er nicht sterben. Durch die regelmäßige Einnahme von Konakion, Inderal und Spironolakton war die Leberfunktion gewährleistet, und er konnte ein relativ normales Leben führen.

Das Problem war der Schlafmangel, er schlief nie mehr als eine Stunde pro Nacht. Er wurde in eine Schlafklinik in Göteborg aufgenommen und unterzog sich einer Polysomnographie, aufgrund derer bei ihm chronische Schlaflosigkeit diagnostiziert wurde. Da sich eine medikamentöse Behandlung jedoch verbot, konnte man ihm nur zu diversen Einschlaftechniken raten, zu Meditation, Hypnose und Autosuggestion, aber nichts von alldem half.

Vier Monate nach dem Leberkollaps hatte er eine neun Tage währende Wachphase und erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Daraufhin ließ er sich freiwillig in die private psychiatrische Anstalt Sankta Maria Hjärta einliefern.

Dort begegnete er Beverly, die damals erst vierzehn Jahre alt war.

Axel hatte wie üblich schlaflos in seinem Zimmer gelegen, es war ungefähr drei Uhr nachts und vollkommen dunkel gewesen, als sie seine Tür öffnete. Sie war ein unseliger Geist, ein Walker, nachts lief sie durch die Anstaltsflure. Vielleicht suchte sie nur jemanden, bei dem sie bleiben konnte.

Als das Mädchen hereinkam, lag er schlaflos und verzweifelt in seinem Bett. Sie stand regungslos vor ihm, ihr langes Nachthemd hing bis auf den Fußboden herab.

»Ich habe es hier leuchten sehen«, flüsterte sie. »Von dir geht ein Licht aus.«

Nach diesen Worten war sie einfach zu ihm gegangen und hatte sich in sein Bett gelegt. Er war vor Schlafmangel noch immer ganz krank gewesen und wusste nicht, was er tat, er packte sie fest, viel zu fest, und presste sie an sich.

Sie sagte nichts, lag einfach nur da.

Er klammerte sich an ihren kleinen Körper, presste sein Gesicht in ihren Nacken und schlief plötzlich ein.

Er fiel in Träume und die Wasser des Schlafs.

Beim ersten Mal währte es nur ein paar Minuten, aber danach kam sie jede Nacht zu ihm.

Er griff nach ihr, hielt sie fest an sich gedrückt und schlief schweißgebadet ein.

Seine psychische Instabilität verschwand wie Wasserdampf von Glas, und Beverly hörte auf, durch die Korridore zu wandeln.

Axel Riessen und Beverly Andersson beschlossen, das Sankta Maria Hjärta zu verlassen, und was danach geschah, war eine stille und verzweifelte Übereinkunft zwischen den beiden.

Sie waren sich im Klaren darüber, dass die wahre Natur ihres Arrangements ein Geheimnis bleiben musste, aber offiziell erhielt Beverly die Erlaubnis ihres Vaters, so lange zur Untermiete in einer Einliegerwohnung bei Axel Riessen zu wohnen, bis sie ein eigenes Zimmer finden würde.

Beverly Andersson ist inzwischen fünfzehn Jahre alt, und bei ihr ist eine Borderline-Störung diagnostiziert worden. In ihren Beziehungen zu anderen Menschen ist sie maßlos, ihr fehlt die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen. Sie verfügt über keinen normal entwickelten Selbsterhaltungstrieb. Früher wurden Mädchen wie Beverly in Irrenanstalten gesteckt und aus Angst vor ungezügelter Sexualität und Unsittlichkeit zwangssterilisiert oder lobotomiert.

Nach wie vor sind es Mädchen wie Beverly, die immer mit den falschen Leuten nach Hause gehen und ihr ganzes Vertrauen in jene setzen, die ihnen nichts Gutes wollen. Doch Beverly hat das Glück, Axel Riessen gefunden zu haben. Das sagt er sich regelmäßig selbst, denn er ist kein Pädophiler, er hat nicht vor, ihr wehzutun oder mit ihr Geld zu verdienen. Er braucht sie nur, um Schlaf zu finden, um nicht unterzugehen. Sie spricht oft davon, dass er sie heiraten wird, wenn sie groß genug dafür ist.

Axel Riessen lässt sie ihre Fantasien rund um die Hochzeit spinnen, weil es sie ruhig und zufrieden macht. Er redet sich ein, dass er sie so vor ihrer Umwelt schützt, weiß aber natürlich, dass er sie gleichzeitig ausnutzt. Er schämt sich, findet aber keinen Ausweg, weil er sich davor fürchtet, erneut in der großen Schlaflosigkeit zu landen.

Mit der Zahnbürste in der Hand kommt Beverly aus dem Badezimmer. Sie nickt zu den drei Geigen, die an der Wand hängen.

»Warum spielst du nicht auf ihnen?«

»Ich kann nicht.« Er lächelt.

»Sollen die da einfach nur rumhängen? Dann gib sie doch lieber jemandem, der spielt.«

»Ich mag die Geigen, weil ich sie von Robert bekommen habe.«

»Du sprichst fast nie über deinen Bruder.«

»Das ist kompliziert …«

»Er baut Geigen in seiner Werkstatt«, sagt sie.

»Ja, Robert baut seine Geigen … und spielt in einem Kammerorchester.«

»Könnte er nicht auf unserer Hochzeit spielen?«, fragt sie und streicht sich Zahncreme aus den Mundwinkeln.

Axel sieht sie an und hofft, dass sie nicht wahrnimmt, wie starr sein Gesicht ist.

»Was für eine tolle Idee.«

Er spürt die Müdigkeit seinen Körper und sein Gehirn überfluten. Also geht er an ihr vorbei ins Schlafzimmer und lässt sich auf die Bettkante fallen.

»Ich bin ziemlich müde, ich …«

»Du tust mir leid«, sagt sie ernst.

Axel schüttelt den Kopf.

»Ich muss nur schlafen«, sagt er und ist auf einmal den Tränen nahe.

Er steht auf und sucht ein Nachthemd aus einem rosa Baumwollstoff heraus.

»Hier Beverly, bitte zieh das an.«

»Wenn du willst.«

Sie hält inne und betrachtet das große Ölgemälde von Ernst Billgren, das einen bekleideten Fuchs zeigt, der in einem großbürgerlichen Ambiente im Sessel sitzt.

»Ein unheimliches Bild«, sagt sie.

»Findest du?«

Sie nickt und fängt an, sich auszuziehen.

»Kannst du dich nicht im Bad umziehen?«

Sie zuckt mit den Schultern, und als sie ihr rosa Top auszieht, steht er auf, um sie nicht nackt sehen zu müssen. Er geht zu dem Gemälde mit dem Fuchs, mustert es, hebt es herab und stellt es mit dem Motiv zur Wand auf den Fußboden.


Axel schläft steif und schwer, mit verzerrtem Gesicht und knirschenden Kiefern. Er hält das Mädchen fest an sich gedrückt. Plötzlich wacht er auf, lässt es los und schnappt nach Luft wie ein Ertrinkender. Er ist verschwitzt, und sein Herz pocht vor Angst. Er schaltet die Nachttischlampe an. Beverly schläft entspannt wie ein kleines Kind, mit offenem Mund und feuchter Stirn.

Axel muss erneut an Carl Palmcrona denken. Das letzte Mal begegnet sind sie sich bei der Standessitzung des Adels im Riddarhuset, Palmcrona war betrunken und leicht aggressiv aufgetreten, hatte sich über die verschiedenen Waffenembargos der UN ausgelassen und seine Ausführungen mit den verblüffenden Worten beendet: »Wenn alles zum Teufel geht, wird man es wohl wie Algernon machen müssen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie der eigene Albtraum in Erfüllung geht.«

Axel schaltet das Licht aus, legt sich bequem hin und grübelt weiter über Palmcronas Worte nach, man müsse es wie Algernon machen. Was hatte er damit gemeint? Was war das für ein Albtraum, auf den er anspielte? Hatte er das wirklich so gesagt?

»Um nicht mit ansehen zu müssen, wie der eigene Albtraum in Erfüllung geht.«

Carl-Fredrik Algernons Schicksal ist in Schweden immer ein Mysterium geblieben. Bis zu seinem Tod war Algernon Kriegswaffeninspekteur beim Außenministerium. An einem Januartag hatte er eine Besprechung mit Anders Carlberg, dem Konzernchef von Nobel Industries. Dort hatte er berichtet, seine Untersuchungen würden darauf hindeuten, dass eine Tochterfirma des Konzerns Waffen in Länder am Persischen Golf geschmuggelt habe. Noch am selben Tag stürzte Carl-Fredrik Algernon in der Station T-Centralen in Stockholm vor eine heranrauschende U-Bahn.

Axels Gedanken lösen sich auf, kreisen immer undeutlicher um den gegen die Aktiengesellschaft Bofors gerichteten Vorwurf des Waffenschmuggels und der Bestechung. Er sieht einen Mann in einem Trenchcoat rücklings vor eine heranschießende U-Bahn fallen.

Langsam fällt der Mann mit flatterndem Mantel.

Beverlys sanfte Atemzüge fangen Axel ein und beruhigen ihn. Er wendet sich ihr zu und legte die Arme um ihren zarten Körper.

Sie seufzt auf, als er sie an sich zieht.

Axel hält sie ganz fest, und der Schlaf sammelt sich in wolkenartigen Formationen, die Gedanken werden zäher und spärlicher.

Die restliche Nacht schläft er nur leicht und wird gegen fünf davon geweckt, dass er krampfhaft ihre schmalen Oberarme umklammert. Er spürt ihre stoppeligen Haare, die seine Lippen kitzeln, und wünscht sich intensiv, seine Tabletten nehmen zu können.

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