109 Der Vertrag

Axel öffnet die Ledermappe auf dem Tisch, sieht, dass sie alle Unterlagen enthält, die erforderlich sind, um dem Containerfrachtschiff M/S Icelus zu genehmigen, den Hafen von Göteborg mit seiner großen Fracht Munition zu verlassen.

Es fehlt nur noch seine Unterschrift.

Raphael Guidis Sohn Peter betritt den Raum, sein Gesicht ist blass, verschlossen. Er hält eine sehr schöne Geige in der Hand, ein rotbraunes Instrument mit bauchigem Klangkörper. Axel sieht sofort, dass es eine Amati ist, eine wirklich gut erhaltene Amati.

»Ich glaube, ich habe schon erwähnt, dass zu dem, was wir nun tun werden, eine gewisse Musik gehört«, erklärt Guidi sanft. »Die Geige gehörte seiner Mutter … und viele Jahre zuvor spielte Nicolò Paganini auf ihr.«

»Sie wurde 1657 gebaut«, sagt Peter, holt seine Schlüssel und sein Handy aus den Taschen und legt alles auf den Tisch, ehe er die Geige ansetzt.

Der Junge setzt den Bogen auf die Saiten und beginnt zögernd zu spielen. Axel hört sofort, dass es das erste Stück von Paganinis berühmtestem Werk, den »24 Capricen« ist. Es gilt als das schwierigste Werk für Geige überhaupt. Der Junge spielt, als wäre er unter Wasser, viel zu langsam.

»Es ist ein vorteilhafter Vertrag«, sagt Guidi leise.

Es ist immer noch hell draußen, die großen Fensterfronten lassen graues Licht in den Salon.

Axel denkt an Beverly, die sich in der psychiatrischen Klinik in sein Bett legte und flüsterte: »Dich umgibt ein Licht, ich konnte es schon vom Flur aus sehen.«

»Haben Sie lange genug überlegt?«, fragt Raphael Guidi.

Axel erträgt es nicht, in die tristen Augen des Waffenhändlers zu sehen, er weicht dem Blick Guidis aus und greift nach dem Stift, der vor ihm liegt. Er hört sein Herz pochen und versucht zu verbergen, wie schnell er atmet.

Diesmal wird er kein Strichmännchen malen, das Hallo sagt, er wird seinen Namen schreiben und beten, dass Raphael Guidi sich damit zufrieden gibt und ihn nach Schweden zurückkehren lässt.

Axel spürt den Stift in seiner Hand zittern. Er legt die andere Hand auf die erste und führt die Spitze des Stifts vorsichtig zu der leeren Zeile.

»Warten Sie«, sagt Guidi. »Ehe Sie unterschreiben, möchte ich wissen, ob Sie auch wirklich loyal sein werden.«

Axel sieht auf und begegnet Guidis Blick.

»Wenn sie wirklich bereit sind, bei Vertragsbruch ihren Albtraum in Erfüllung gehen zu sehen, müssen Sie mir das zeigen, indem Sie mir die Hand küssen.«

»Wie bitte?«, wispert Axel.

»Sollen wir den Vertrag schließen?«

»Ja«, antwortet Axel.

»Küssen Sie mir die Hand«, sagt Raphael Guidi mit verstellter Stimme, als spiele er einen Idioten in einem alten Theaterstück.

Sein Sohn spielt immer langsamer, versucht, die Finger zu erweichen, ihm zu gehorchen, neue Positionen einzunehmen, spielt in den schwierigen Übergängen jedoch falsch, gerät ins Stocken und gibt plötzlich auf.

»Spiel weiter«, sagt Guidi, ohne ihn anzusehen.

»Es ist zu schwer für mich, es klingt nicht gut.«

»Peter, es ist ein schwaches Bild, einfach aufzugeben, ehe man überhaupt …«

»Spiel doch selbst«, unterbricht ihn sein Sohn.

Das Gesicht des Waffenhändlers wird starr wie eine staubige Felsformation.

»Du tust, was ich dir sage«, erklärt er bemüht ruhig.

Der Junge rührt sich nicht, hat den Blick gesenkt. Raphael Guidi greift sich mit der rechten Hand an den Reißverschluss des Trainingsanzugs.

»Peter, ich fand doch nur, dass es schön klang«, sagt er gefasst.

»Der Steg sitzt schief«, meldet sich Axel fast flüsternd zu Wort.

Peter betrachtet die Geige mit errötenden Wangen.

»Lässt sich das reparieren?«, fragt er.

»Das lässt sich ganz leicht regulieren; wenn du willst, kann ich es für dich tun«, sagt Axel.

»Dauert das lange?«, erkundigt sich Guidi.

»Nein«, antwortet Axel.

Er legt den Stift weg, nimmt die Geige entgegen, dreht sie und spürt, wie leicht sie ist. Er hat noch nie eine echte Amati in den Händen gehalten und nie zuvor ein Instrument, auf dem Paganini gespielt hat.

Raphael Guidis Handy klingelt. Er wirft einen Blick darauf, steht auf, entfernt sich ein wenig und hört jemandem zu.

»Das kann nicht sein«, sagt er mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.

Ein erstauntes Lächeln huscht über seine Lippen, und er sagt mit angespannter Stimme etwas zu seinen Leibwächtern. Sie verlassen daraufhin den Speisesaal und eilen zusammen mit Guidi die Treppe hinauf.

Peter beobachtet Axel, während dieser die Saiten löst. Es knackt in dem Instrument. Die trockenen Geräusche, die seine Finger machen, werden im Resonanzkörper verstärkt. Vorsichtig rückt Axel den Steg gerade und spannt anschließend die Saiten darüber.

»Hat es geklappt?«, fragt Peter flüsternd.

»Ja«, antwortet Axel, während er die Geige stimmt. »Probier sie aus, dann hörst du es.«

»Danke«, sagt Peter, als er die Geige annimmt.

Axel sieht Peters Handy auf dem Tisch liegen.

»Spiel weiter, du hattest gerade den ersten Lauf hinter dir und warst am Anfang des Pizzicato-Abschnitts.«

»Sie machen mich verlegen«, sagt Peter und dreht sich fort.

Axel lehnt sich an den Tisch, streckt hinter sich vorsichtig die Hand aus, erreicht mit den Fingerspitzen Peters Handy und stößt es versehentlich an, sodass es sich auf der Tischplatte einmal lautlos um sich selbst dreht.

Peter hat ihm den Rücken zugekehrt, er setzt die Geige an und hebt den Bogen.

Axel nimmt das Handy, hält es in der Hand verborgen und rückt ein wenig zur Seite.

Peter senkt den Bogen auf die Saiten, hält jedoch inne, dreht sich um und versucht, an Axel vorbeizuschauen.

»Mein Handy«, sagt er. »Liegt es hinter Ihnen?«

Axel lässt das Telefon aus der Hand auf den Tisch zurückgleiten, ehe er sich umdreht und es hochhebt.

»Können Sie bitte nachsehen, ob ich eine SMS bekommen habe?«, fragt Peter.

Axel blickt auf das Display und sieht, dass der Empfang hervorragend ist, obwohl sie mitten auf dem Meer sind, die Jacht muss eine Satellitenverbindung haben.

»Keine Nachricht«, sagt er und legt das Telefon auf den Tisch zurück.

»Danke.«

Axel bleibt am Tisch stehen, während Peter langsam und immer unrhythmischer fortfährt, Caprice Nummer 24 zu spielen.

Peter ist alles andere als unbegabt und hat viel geübt, aber dieses Stück überfordert ihn. Trotzdem ist der Klang der Geige so wunderbar, dass Axel ihn selbst dann noch genossen hätte, wenn ein kleines Kind an den Saiten gezupft hätte. Er lehnt sich gegen den Tisch, lauscht und versucht erneut, an das Telefon heranzukommen. Peter versucht krampfhaft, die richtigen Stellen auf den Saiten zu finden, wird langsamer, bricht ab und setzt noch einmal an, während Axel das Telefon zu erreichen versucht. Er rückt langsam näher, kommt aber nicht heran. Peter spielt falsch, hört auf und wendet sich erneut Axel zu.

»Das ist schwer«, sagt er und macht einen weiteren Versuch.

Er fängt noch einmal an, verspielt sich aber wieder.

»Es geht nicht«, sagt er und lässt die Geige sinken.

»Wenn du den Ringfinger auf der A-Saite liegen lässt, ist es leichter, rechtzeitig mit …«

»Können Sie es mir nicht zeigen?«

Axel schaut auf das Telefon, das auf dem Tisch liegt. Ein Sonnenreflex blitzt auf, und Axels Augen richten sich auf die Fenster. Das Meer liegt seltsam glatt und leer. Es dröhnt aus dem Maschinenraum, ein unablässiges Stampfen, das er erst jetzt wahrnimmt.

Peter gibt ihm die Geige, und Axel legt sie an die Schulter, spannt den Bogen noch ein wenig und beginnt anschließend, das Stück zu spielen. Die fließende, wehmütige Einleitung strömt in einem schnellen Tempo in den Raum. Der Ton der Geige ist nicht kraftvoll, aber wunderbar sanft und rein. Paganinis Musik jagt sich selbst in immer schnelleren und höheren Pirouetten.

»Oh, mein Gott«, flüstert Peter.

Plötzlich ist der Rhythmus atemberaubend schnell, prestissimo. Die Musik ist spielerisch schön und gleichzeitig durchbrochen von abrupten Saitenwechseln und jähen Sprüngen zwischen den Oktaven.

Axel hat die ganze Musik in seinem Kopf und muss sie nur herauslassen. Nicht jeder Ton ist perfekt, aber seine Finger finden immer noch den Weg auf dem Geigenhals, laufen über Holz und Saiten.

Raphael Guidi ruft auf der Kommandobrücke, und dann fällt etwas so zu Boden, dass der Kronleuchter klirrt. Axel spielt weiter – die hellen, perlenden Läufe funkeln wie Sonnenlicht auf Meerwasser.

Plötzlich hört man Schritte auf der Treppe, und als Axel Raphael Guidi mit verschwitztem Gesicht und einem blutigen Militärmesser in der Hand sieht, hört er abrupt auf zu spielen. Der grauhaarige Leibwächter geht neben Guidi und hält ein gelbgrünes Sturmgewehr in den Händen, ein belgisches Fabrique Nationale SCAR.

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