Es klingt, als würde jemand ein ums andere Mal einen Ball gegen die Fassade unterhalb von Nils Åhléns Fenster werfen. Er und Kriminalkommissar Joona Linna warten schweigend auf Claudia Fernandez, die an diesem frühen Sonntagmorgen in die Pathologie gebeten wurde, um die Identität der getöteten Frau zu bestätigen.
Als Joona sie anrief, um ihr mitzuteilen, dass die Polizei befürchtete, ihre Tochter Viola könnte ums Leben gekommen sein, hatte die Stimme der Frau seltsam ruhig geklungen.
»Nein, Viola ist mit ihrer Schwester in den Schären«, hatte sie gesagt.
»Auf Björn Almskogs Boot?«, hatte Joona gefragt.
»Ja, ich hatte ihr gesagt, dass sie Penelope anrufen und sie fragen soll, ob sie mitkommen darf. Ich fand, dass sie mal rausmusste.«
»Sollte sonst noch jemand mitkommen?«
»Björn natürlich.«
Joona hatte geschwiegen, und einige Sekunden waren verstrichen, in deren Verlauf er versucht hatte, dieses beklemmende Gefühl zu verdrängen. Dann hatte er sich geräuspert und ganz sanft gesagt:
»Frau Fernandez, ich möchte Sie bitten, zur Rechtsmedizin in Solna zu kommen.«
»Warum?«, hatte sie gefragt.
Nun sitzt Joona auf einem unbequemen Stuhl im Zimmer des Chefpathologen. Åhlén hat am unteren Rand des Rahmens seines Hochzeitsfotos ein kleines Bild von Frippe befestigt. Gedämpft hört man den Ball gegen die Fassade prallen. Joona muss daran denken, wie sich Claudia Fernandez’ Atemzüge veränderten, als ihr schließlich dämmerte, dass die Leiche, die man gefunden hatte, tatsächlich ihre Tochter sein könnte. Joona hatte ihr behutsam erläutert, dass die Frau, von der sie annahmen, es könnte ihre Tochter sein, auf einer verlassenen Motorjacht in den Stockholmer Schären tot aufgefunden worden war.
Ein Taxi hat Claudia Fernandez in ihrem Reihenhaus in Gustavsberg vor den Toren Stockholms abgeholt. In wenigen Minuten müsste sie in der Pathologie eintreffen.
Åhlén versucht halbherzig, Konversation zu machen, gibt jedoch nach einer Weile auf, als er merkt, dass Joona sich nicht darauf einlässt.
Beide sehnen sich danach, die Sache hinter sich zu bringen. Eine positive Identifizierung ist jedes Mal ein erschütternder Moment. In einem einzigen Augenblick vermischt sich die Erleichterung darüber, dass jegliche Ungewissheit verflogen ist, mit dem Schmerz darüber, dass man alle Hoffnung fahren lassen muss.
Als sie Schritte auf dem Korridor hören, stehen sie gleichzeitig von ihren Stühlen auf.
Den toten Körper eines Angehörigen zu sehen ist eine unerbittliche Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen. Gleichzeitig ist es jedoch auch ein wichtiger, notwendiger Teil der Trauerarbeit. Joona hat viele Argumente gelesen, die dafür sprechen, dass die Identifizierung auch eine Art Befreiung sein kann. Es bleibt kein Spielraum mehr für wüste Spekulationen, in denen der geliebte Mensch noch lebt, für Fantasien, die nur Leere und Frustration hinterlassen.
Aber das ist alles bloß leeres Gerede, denkt Joona. Der Tod ist einfach nur schrecklich und lässt nie etwas zurück.
Claudia Fernandez steht in der Tür, sie ist eine Frau von etwa sechzig Jahren. Eine ängstliche Frau. Spuren von Tränen und Sorge zeichnen ihr Gesicht, und ihr Körper wirkt verfroren und zusammengekauert.
Joona begrüßt sie behutsam.
»Hallo, ich bin Joona Linna, Kriminalkommissar. Wir haben telefoniert.«
Åhlén stellt sich unhörbar vor, als er der Frau ganz kurz die Hand gibt und ihr unmittelbar darauf den Rücken zukehrt und vorgibt, etwas in einem Ordner zu suchen. Er wirkt ausgesprochen abweisend, aber Joona weiß, dass er in Wahrheit nur extrem verlegen ist.
»Ich habe versucht, meine Mädchen anzurufen, aber ich erreiche sie nicht«, flüstert Claudia Fernandez. »Sie müssten …«
»Wollen wir gehen?«, sagt Åhlén, als hätte er ihre Worte nicht gehört.
Schweigend bewegen sie sich durch den vertrauten Flur. Joona kommt es vor, als würde die Luft mit jedem Schritt dünner. Claudia Fernandez hat es nicht eilig, dem entscheidenden Augenblick näher zu kommen. Sie geht langsam, bleibt mehrere Meter hinter Åhlén zurück, dessen große, scharf geschnittene Gestalt ihnen vorauseilt. Joona Linna dreht sich um und versucht, Claudia zuzulächeln, muss sich jedoch gegen den Blick in ihren Augen wehren. Die Panik, das Flehen, die Gebete, die Versuche, mit Gott zu verhandeln. Es kommt ihm vor, als müssten sie die Frau in den kühlen Raum zwingen, in dem die Leichen verwahrt werden.
Åhlén murmelt etwas in einem wütenden Tonfall, bückt sich, öffnet das Schloss zu der Luke aus rostfreiem Stahl und zieht die Lade heraus. Die junge Frau wird sichtbar, ihr Körper ist von einem weißen Tuch bedeckt. Ihre Augen sind matt, halb geschlossen, die Wangen eingefallen. Ihre Haare liegen in einem schwarzen Kranz um ihren schönen Kopf. An ihrer Hüfte ist eine kleine blasse Hand zu sehen.
Claudia Fernandez atmet schnell. Sie berührt zärtlich die Hand, jammert. Der Laut kommt von tief innen, als ginge ihre Seele in diesem Moment entzwei. Sie beginnt, am ganzen Körper zu zittern, fällt auf die Knie und hält sich die leblose Hand der Tochter an den Mund.
»Nein, nein«, weint sie. »Oh Gott, guter Gott, nicht Viola. Nicht Viola …«
Joona steht einige Schritte hinter Claudia, sieht ihren Rücken, der unter den Schluchzern bebt, hört die Stimme, das verzweifelte Weinen, das sich steigert und dann langsam verebbt.
Claudia Fernandez streicht sich die Tränen aus dem Gesicht, atmet aber immer noch zitternd, als sie vom Boden aufsteht.
»Können Sie uns bestätigen, dass dies Ihre Tochter ist?«, fragt Åhlén kurz angebunden. »Ist das Viola Fernandez, die hier …«
Seine Stimme erstickt, und er räuspert sich schnell und wütend.
Claudia Fernandez schüttelt den Kopf und bewegt vorsichtig die Fingerspitzen über die Wange ihrer Tochter.
»Viola,Violita …«
Zitternd zieht sie die Hand zurück, und Joona sagt langsam:
»Es tut mir wirklich sehr, sehr leid.«
Claudia Fernandez bricht fast zusammen, stützt sich jedoch an der Wand ab, wendet das Gesicht ab und flüstert:
»Am Samstag gehen wir in den Zirkus, ich werde Viola überraschen …«
Gemeinsam betrachten sie die tote Frau, die bleichen Lippen, die Adern am Hals.
»Ich habe Ihren Namen vergessen«, sagt Claudia Fernandez verloren und sieht Joona an.
»Joona Linna«, sagt er.
»Joona Linna«, wiederholt die Frau mit belegter Stimme. »Ich werde Ihnen von Viola erzählen. Sie ist mein kleines Mädchen, mein Nesthäkchen, meine fröhliche kleine …«
Sie wirft einen Blick auf Violas bleiches Gesicht und wankt zur Seite. Åhlén zieht einen Stuhl heran, aber sie schüttelt nur kurz den Kopf.
»Entschuldigen Sie«, sagt sie. »Es ist nur, dass … Meine ältere Tochter, Penelope, musste in El Salvador schreckliche Dinge durchmachen. Wenn ich daran denke, was sie mir dort im Gefängnis angetan haben, wenn ich mich daran erinnere, wie sehr sich Penelope fürchtete, wie sie weinte und nach mir rief … stundenlang, aber ich konnte ihr nicht antworten, sie nicht schützen …«
Claudia Fernandez begegnet Joonas Blick und macht einen Schritt auf ihn zu, und er legt sanft den Arm um sie. Sie lehnt sich schwer an seine Brust, ringt nach Luft. Dann tastet sie nach der Rückenlehne des Stuhls und setzt sich.
»Ich bin immer … stolz darauf gewesen, dass die kleine Viola in Schweden geboren wurde. Sie hatte ein schönes Zimmer mit einer rosa Lampe an der Decke, Spielzeug und Puppen, sie ging in die Schule, guckte Pippi Langstrumpf … Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber ich bin stolz gewesen, dass sie niemals hungern oder Angst haben musste. Nicht wie wir … wie Penelope und ich, wir wachen nachts auf, sind darauf gefasst, dass jemand hereinkommt und schreckliche Dinge tut.«
Sie verstummt und flüstert nach einer Pause:
»Viola ist immer nur fröhlich gewesen und …«
Claudia verbirgt ihr Gesicht in beiden Händen und weint still. Joona legt seine Hand auf ihren Rücken.
»Ich gehe jetzt«, sagt sie immer noch weinend.
»Es besteht keine Eile.«
»Haben Sie mit Penelope gesprochen?«, fragt sie nach einer Weile.
»Wir haben sie noch nicht erreicht«, antwortet Joona leise.
»Sagen Sie ihr, dass sie mich anrufen soll …« Claudia erblasst. »Ich denke, dass sie nicht ans Telefon geht, wenn ich anrufe, weil ich … ich war … ich habe etwas Furchtbares zu ihr gesagt, aber ich habe es nicht so gemeint, ich habe doch nicht gemeint …«
»Wir suchen mit Hubschraubern nach Penelope und Björn Almskog, aber …«
»Bitte, sagen Sie mir, dass sie lebt«, flüstert sie Joona zu, »sagen Sie es, Joona Linna.«
Joona fühlt, wie er verkrampft, während er Claudia Fernandez behutsam über den Rücken streicht.
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um …«
»Sie lebt, sagen Sie es«, unterbricht Claudia ihn. »Sie muss leben.«
»Ich werde sie finden«, sagt Joona. »Ich weiß, dass ich sie finden werde.«
»Sagen Sie, dass Penelope lebt.«
Joona zögert und begegnet Claudias finsterem Blick, Gedanken huschen durch seinen Geist und verknüpfen sich zu flüchtigen Kombinationen, und plötzlich hört er sich sagen:
»Sie lebt.«
»Ja«, flüstert Claudia.
Joona senkt den Blick, bekommt die Gedanken, die noch vor wenigen Sekunden durch sein Bewusstsein zogen und ihn veranlassten, seine Meinung zu ändern und Claudia Fernandez zu bestätigen, dass ihre ältere Tochter noch lebt, nicht mehr zu fassen.