24 Der Gegenstand

In der Küche steht ein Mann in Jeans und hellbraunem Blazer mit Lederflicken an den Ellbogen. Er streicht sich über seinen blonden Schnurrbart, spricht laut und zeigt auf die Mikrowelle. Joona geht weiter und sieht, wie ein Techniker mit Mundschutz und Schutzhandschuhen die ausgebeulte Sprayflasche in eine Papiertüte verfrachtet, sie oben zweimal umklappt, zuklebt und anschließend beschriftet.

»Sie sind Joona Linna, stimmt’s?«, sagt der Mann mit dem blonden Schnurrbart. »Wenn Sie so gut sind, wie alle sagen, sollten Sie zu uns kommen.«

Sie geben sich die Hand.

»Göran Stone, Staatsschutz«, sagt der Mann selbstzufrieden.

»Sie leiten die Ermittlungen?«

»Ja, genau … offiziell übernimmt das allerdings Saga Bauer – aus statistischen Gründen«, sagt Stone grinsend.

»Ich bin Saga Bauer schon einmal begegnet«, sagt Joona. »Sie scheint mir sehr wohl fähig …«

»Nicht wahr?« Göran Stone lacht, verstummt dann abrupt.

Joona sieht aus dem Fenster, denkt an das Motorboot, das auf dem Meer treibend gefunden wurde, und versucht zu verstehen, wie der Auftrag des Mörders lautet, welche Person oder Personen er liquidieren soll. Es ist ihm bewusst, dass die Ermittlungen noch ganz am Anfang stehen und es zu früh ist, Schlussfolgerungen zu ziehen, aber trotzdem ist es immer gut, von hypothetischen Abläufen auszugehen.

Der einzige Mensch, auf den es der Täter höchstwahrscheinlich abgesehen hatte, war Penelope, denkt Joona. Und die Einzige, die er vermutlich nicht töten wollte, war Viola, weil er nicht vorhersehen konnte, dass sie auch auf der Jacht sein würde – ihre Anwesenheit war bloß ein unglücklicher Zufall, sagt Joona sich, verlässt die Küche und begibt sich ins Schlafzimmer.

Das Bett ist gemacht, die sahnefarbene Tagesdecke glatt. Saga Bauer vom Staatsschutz steht vor einem Notebook, das sie auf die Fensterbank gestellt hat, und telefoniert. Joona ist ihr bei einem Antiterror-Seminar begegnet.

Joona setzt sich aufs Bett und versucht, seine Gedanken erneut zu sammeln. Er stellt Viola und Penelope vor sich auf und platziert Björn neben ihnen. Sie können nicht alle an Bord gewesen sein, als Viola ermordet wurde, sagt er sich, denn dann hätte der Killer sich nicht geirrt. Wäre er auf offener See an Bord gegangen, hätte er alle drei ermordet, sie in die richtigen Betten verfrachtet und das Boot versenkt. Sein Irrtum schließt Penelopes Anwesenheit an Bord aus. Also müssen die drei irgendwo angelegt haben.

Joona steht wieder auf, verlässt das Schlafzimmer und geht ins Wohnzimmer. Er lässt den Blick über den Fernseher an der Wand, die Couch mit der roten Decke und den modernen Tisch mit Stapeln linksgerichteter Zeitschriften schweifen. Er geht zum Bücherregal, das eine ganze Wand einnimmt, bleibt stehen und denkt an das Boot und die Schäden an den Kabeln im Maschinenraum, die binnen weniger Minuten einen Lichtbogen hervorrufen sollten. An das Kissen, das entflammt werden sollte, an dieses Stück Schlauch, das zur Treibstoffpumpe führt und herausgezogen worden war. Aber die Jacht wurde nicht versenkt. Wahrscheinlich, weil der Motor nicht lange genug lief.

Das alles können keine Zufälle sein.

Björns Wohnung wird von einem Feuer verwüstet, am selben Tag wird Viola ermordet, und wenn sie das Boot nicht verlassen hätten, wäre der Treibstofftank explodiert.

Anschließend versucht der Mörder, in Penelopes Wohnung eine Gasexplosion herbeizuführen.

Björns Wohnung, das Motorboot, Penelopes Wohnung.

Er sucht nach etwas, das Björn und Penelope haben, denkt Joona. Als Erstes hat er Björns Wohnung durchsucht, und als er dort nicht fand, wonach er suchte, ließ er sie in Flammen aufgehen und verfolgte das Boot, und als er das Boot durchsucht und nicht gefunden hatte, wonach er suchte, versuchte er, Viola zum Sprechen zu bringen, und als er keine Antworten bekam, fuhr er zu Penelopes Wohnung.

Joona nimmt sich ein Paar Schutzhandschuhe aus einem Karton und stellt sich anschließend erneut vor das Bücherregal und betrachtet die dünne Staubschicht vor den Büchern. Ihm fällt auf, dass vor manchen Buchrücken kein Staub liegt, was bedeutet, dass jemand diese Bücher irgendwann in den letzten Wochen herausgezogen hat.

»Ich will dich hier nicht sehen«, meint Saga Bauer hinter ihm. »Das ist mein Fall.«

»Ich bin gleich wieder weg, ich muss nur etwas finden«, antwortet Joona gedämpft.

»Fünf Minuten«, sagt sie.

Er dreht sich um.

»Könnt ihr die Bücher fotografieren?«

»Schon erledigt«, antwortet sie kurz.

»Schräg von oben, damit man den Staub sieht«, sagt er ungerührt.

Sie begreift, was er meint, verzieht keine Miene, nimmt einem Techniker die Kamera ab, tritt näher und fotografiert alle Regalebenen, an die sie herankommt, und erklärt anschließend, dass er sich die Bücher in den fünf unteren Regalreihen ansehen kann.

Joona zieht »Das Kapital« von Marx heraus und blättert darin. Das Buch ist voller Unterstreichungen und Randnotizen. Er schaut in die Lücke in der Bücherreihe, kann aber nichts entdecken. Er stellt das Buch zurück. Sein Blick wandert über eine Biografie Ulrike Meinhofs, eine zerlesene Anthologie mit dem Titel »Frauenpolitische Schlüsseltexte« und Bertolt Brechts gesammelte Werke.

In der zweiten Reihe von unten entdeckt er auf einmal drei Bücher, die offensichtlich erst kürzlich aus dem Bücherregal gezogen worden sind.

Vor ihnen liegt kein Staub.

»Die List der Antilopen, Augenzeugenberichte vom Völkermord in Ruanda«. Pablo Nerudas Gedichtsammlung »Cien sonetos de amor« und »Die ideengeschichtlichen Wurzeln der schwedischen Rassenbiologie«.

Joona blättert eins nach dem anderen durch und als er »Die ideengeschichtlichen Wurzeln der schwedischen Rassenbiologie« öffnet, fällt ein Foto heraus. Er hebt es vom Fußboden auf. Es ist eine Schwarzweißaufnahme eines ernsten Mädchens mit fest geflochtenen Haaren. Er erkennt augenblicklich Claudia Fernandez. Sie kann nicht älter als fünfzehn sein und sieht ihren Töchtern zum Verwechseln ähnlich.

Aber wer würde eine Fotografie seiner Mutter in ein Buch über Rassenbiologie legen, denkt er und dreht das Bild um.

Auf der Rückseite der Aufnahme hat jemand mit Bleistift notiert: »No estés lejos de mí un solo día.«

Zweifellos eine Zeile aus einem Gedicht: Sei nicht weit von mir, nicht einen einzigen Tag.

Joona zieht noch einmal Nerudas Gedichtsammlung aus dem Regal, blättert und findet schnell die Strophe: »No estés lejos de mí un solo día, porque cómo, porque, no sé decirlo, es largo el día, y te estaré esperando como en las estaciones cuando en alguna parte se durmieron los trenes.«

Hier hat die Fotografie gelegen, in Nerudas Buch.

Das ist die richtige Stelle, denkt er.

Wenn der Mörder in diesen Büchern nach etwas gesucht hat, könnte das Bild dabei herausgefallen sein. Er hat hier gestanden, überlegt Joona, und sich genau wie ich den Staub auf den Regalbrettern angesehen und flüchtig die Bücher duchgeblättert, die in den letzten Wochen herausgenommen worden sind. Da entdeckt der Mörder, dass eine Fotografie herausgefallen ist und auf dem Boden liegt, und legt sie zurück, aber in das falsche Buch.

Joona schließt die Augen.

So muss es gewesen sein, denkt er.

Der Killer hat die Bücher durchsucht.

Wenn er weiß, wonach er sucht, heißt das, der Gegenstand findet Platz zwischen den Seiten eines Buchs.

Worum könnte es sich folglich handeln?

Ein Brief oder ein Testament, ein Foto, ein Geständnis. Vielleicht auch eine CD oder DVD, eine Speicherkarte oder eine SIM-Karte.

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