18 Der Brand

Die Rettungssanitäter versichern Erixon ein weiteres Mal, dass sie ihn nicht fallen lassen werden.

»Ich kann gehen«, sagt Erixon und schließt die Augen.

Sein Kinn zittert bei jeder Treppenstufe.

Joona kehrt in Penelope Fernandez’ Wohnung zurück. Er öffnet sämtliche Fenster, bis sich das Gas verflüchtigt hat, und setzt sich auf die bequeme aprikosenfarbene Couch.

Wäre die Wohnung explodiert, hätte man die Sache aller Wahrscheinlichkeit nach als Gasunfall abgeschrieben.

Joona denkt, dass kein Erinnerungsfragment verschwindet, nichts, was man einmal gesehen hat, geht jemals verloren, es kommt nur darauf an, diese Erinnerungen aus der Tiefe aufsteigen zu lassen wie Wrackteile.

Aber was habe ich gesehen?

Er hat nichts gesehen, nur schnelle Bewegungen und eine weiße Messerklinge.

Genau das habe ich gesehen, denkt Joona plötzlich. Ich habe nichts gesehen.

Er sagt sich, dass gerade dieses Fehlen von Beobachtungen sein Gefühl bestätigt, dass sie es mit keinem gewöhnlichen Mörder zu tun haben.

Es handelt sich um einen Berufskiller, einen »trouble-shooter«, einen Profi.

Der Gedanke ist ihm auch vorher schon gekommen, aber nach seiner Begegnung mit dem Mann fühlt er sich endgültig bestätigt.

Er ist sich sicher, dass der Mann, dem er im Flur begegnet ist, identisch ist mit Violas Mörder. Sein Ziel ist es gewesen, Penelope zu töten, die Motorjacht zu versenken und das Ganze wie einen Unfall aussehen zu lassen. Bevor er überrascht wurde, ist er hier nach dem gleichen Muster vorgegangen. Er will unsichtbar bleiben, seine Tat begehen, sie aber vertuschen.

Joona schaut sich langsam um und versucht, seine Beobachtungen zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Im Stockwerk über ihm hört es sich an, als rollten Kinder Murmeln über den Fußboden. Hätte Joona nicht rechtzeitig den Stecker gezogen, befänden sie sich jetzt in einem flammenden Inferno.

Er denkt, dass er nie zuvor einem so zielstrebigen und gefährlichen Angriff ausgesetzt gewesen ist. Er ist überzeugt, dass der Mann, der sich in der Wohnung der verschwundenen Friedensaktivistin Penelope Fernandez aufgehalten hat, kein hasserfüllter Feind aus dem rechtsextremen Lager gewesen ist. Zwar begehen auch diese Splittergruppen ausgeklügelte Gewalttaten, aber hier ist ein professioneller Mörder am Werk gewesen, der in einer ganz anderen Liga spielt als die rechtsextremen Gruppen im Land.

Worum geht es hier?, überlegt Joona. Was hat ein Profikiller mit Penelope Fernandez zu tun, in was ist sie verwickelt, was geht unter der Oberfläche vor?

Er denkt an die unvorhersehbaren Bewegungen des Mannes, seine Messerkampftechnik, die darauf abzielt, gängige Verteidigungsmuster zu unterlaufen, einschließlich der bei Polizei und Militär trainierten Schläge und Abwehrtechniken.

Es kribbelt in seinem Bauch, als er sich vor Augen führt, dass schon der erste Stich seine Leber getroffen hätte, wenn seine Pistole nicht den Stoß abgefangen hätte, und der zweite Hieb in seine Schläfe eingedrungen wäre, wenn er sich nicht nach hinten geworfen hätte.

Joona steht von der Couch auf und geht ins Schlafzimmer. Betrachtet das ordentlich gemachte Bett, das Kruzifix über dem Kopfende.

Ein Killer, der glaubt, er hätte Penelope Fernandez ermordet und es wie einen Unfall aussehen lassen wollte …

Aber das Boot wurde nicht versenkt.

Entweder wurde der Mörder gestört, oder er hat den Schauplatz des Verbrechens verlassen, um später zurückzukehren und seinen Auftrag zu Ende zu führen. Jedenfalls kann es nicht seine Absicht gewesen sein, dass die Wasserschutzpolizei das treibende Boot mit einer ertrunkenen Frau an Bord findet. Irgendetwas ist schiefgegangen, oder seine Pläne haben sich plötzlich geändert, vielleicht hat er neue Anweisungen bekommen, jedenfalls hält er sich anderthalb Tage nach dem Mord an Viola in Penelopes Wohnung auf.

Du musst schwerwiegende Gründe haben, denkt Joona, wenn du ihre Wohnung aufsuchst. Welches Motiv bringt dich dazu, ein solches Risiko einzugehen? Gibt es etwas in dieser Wohnung, was dich oder deine Auftraggeber mit Penelope in Verbindung bringen könnte?

Du hast hier irgendetwas gemacht, Fingerabdrücke entfernt, eine Festplatte leergeräumt, eine Mitteilung auf dem Anrufbeantworter gelöscht oder etwas geholt, überlegt Joona.

Zumindest hattest du das vor, aber du wurdest gestört, als ich hereingekommen bin.

Wolltest du mithilfe des Feuers vielleicht Spuren vernichten?

Das ist eine Möglichkeit.

Joona denkt, dass er jetzt Erixon gebraucht hätte. Er kann den Tatort nicht ohne Kriminaltechniker untersuchen, er besitzt nicht die nötige Ausrüstung; wenn er die Wohnung auf eigene Faust durchsuchen würde, könnte er Spuren zerstören, womöglich DNA kontaminieren und unsichtbare Hinweise verpassen.

Joona geht zum Fenster und blickt auf die Straße und die leeren Tische vor einem Café hinunter.

Er muss ins Landespolizeiamt fahren, mit seinem Chef Carlos Eliasson sprechen und von ihm fordern, die Ermittlungen leiten zu dürfen, weil das seine einzige Chance ist, einen neuen Kriminaltechniker zugeteilt zu bekommen, Hilfe zu bekommen, solange Erixon krankgeschrieben ist.

Als Joona sich gerade entschlossen hat, die Sache nach Vorschrift anzugehen, mit Carlos und Jens Svanehjälm zu sprechen und eine kleine Ermittlungsgruppe zusammenzustellen, klingelt sein Handy.

»Hallo, Anja«, meldet er sich.

»Ich würde mit dir gerne in die Sauna gehen.«

»Mit mir in die Sauna gehen?«

»Ja, können du und ich nicht zusammen in die Sauna gehen? Du könntest mir zeigen, wie es in einer richtigen finnischen Sauna zugeht.«

»Anja«, sagt er behutsam. »Ich habe fast mein ganzes Leben in Stockholm verbracht.«

Joona geht in den Flur und Richtung Wohnungstür.

»Du bist ein Schwede finnischer Abstammung, ich weiß«, fährt Anja am Telefon fort. »Langweiliger ging es wohl nicht, was? Warum kannst du nicht aus El Salvador kommen? Hast du die Artikel von Penelope Fernandez gelesen? Du solltest sie mal sehen – vor ein paar Tagen hat sie im Fernsehen alle schwedischen Waffenexporte verurteilt.«

Er verlässt die Wohnung von Penelope Fernandez, sieht die blutigen Fußspuren der Rettungssanitäter auf dem Treppenabsatz und spürt einen kurzen Schauer über seinen Schädel laufen, als er daran zurückdenkt, dass sein Kollege mit weit gespreizten Beinen im Treppenhaus gelegen hat und sein Gesicht immer blasser geworden ist.

Joona überlegt, dass der Killer davon ausgegangen sein muss, Penelope Fernandez getötet zu haben. Dieser Teil seines Auftrags war also abgehakt. Der zweite Teil bestand darin, sich aus irgendeinem Grund Zugang zu ihrer Wohnung zu verschaffen.

Wenn sie noch lebt, muss sie möglichst schnell gefunden werden, denn der Killer wird seinen Irrtum bald erkennen und die Jagd erneut aufnehmen.

»Björn und Penelope wohnen nicht zusammen«, sagt Anja.

»Das weiß ich«, erwidert er.

»Man kann sich trotzdem lieben – genau wie du und ich.«

»Genau.«

Joona tritt in das grelle Sonnenlicht hinaus, die Luft ist schwer und noch stickiger als zuvor.

»Kannst du mir Björn Almskogs Adresse geben?«

Anjas Finger laufen mit kleinen tickenden Lauten über die Computertastatur.

»Almskog, Pontonjärgatan 47, zweiter Stock …«

»Ich fahre mal hin, bevor ich …«

»Warte mal«, sagt Anja plötzlich. »Das geht nicht, es … Hör dir das mal an, ich habe gerade unter der Adresse gesucht. In dem Haus hat es letzten Freitag gebrannt.«

»In Björns Wohnung?«

»Die ganze Etage wurde zerstört«, antwortet sie.

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