55 Die Polizei

Es ist sehr heiß und drückend schwül in Ossian Wallenbergs Sommerhaus. Björn steht immer wieder von seinem Stuhl auf, stellt sich ans Fenster und schaut zum Wasser und zum Bootssteg hinunter. Penelope sitzt mit dem Handy in der Hand auf der Couch und wartet auf den Rückruf der Polizei. Die Zentrale hat ihren Notruf aufgenommen und versprochen, sich unter derselben Nummer zu melden, sobald das Boot der Wasserschutzpolizei unterwegs ist. Ossian sitzt mit einem großen Glas Whisky vor sich in einem Sessel und beobachtet die beiden. Er hat Schmerztabletten genommen und beteuert mit gedämpfter Stimme, dass er überleben wird.

Penelope wirft einen Blick auf das Telefon und sieht, dass der Empfang zwar schwächer geworden, aber immer noch ausreichend ist. Die Polizei wird jeden Moment zurückrufen. Sie lehnt sich auf der Couch zurück. Es ist schrecklich schwül. Ihr T-Shirt ist schweißnass. Sie schließt die Augen und denkt an Darfur, an die Hitze im Bus, als sie nach Kubbum reiste, um sich Jane Oduya und der Action Contre la Faim anzuschließen.

Sie hatte den Weg zu den Baracken eingeschlagen, in denen die Verwaltung der Organisation untergebracht war, als sie auf einmal stehen blieb. Ihr waren ein paar Kinder aufgefallen, die ein seltsames Spiel spielten. Offenbar stellten sie Tonfiguren auf die Straße und hofften, dass diese von einem Auto zertrümmert würden. Vorsichtig näherte Penelope sich ihnen, um zu verstehen, was sie da machten. Sobald eine der Tonfiguren überfahren wurde, lachten die Kinder.

»Ich habe noch einen getötet! Es war ein Mann!«

»Ich habe einen Fur umgebracht!«

Eines der Kinder lief erneut auf die Straße und stellte rasch zwei weitere Lehmfiguren auf. Eine große und eine kleine. Als ein Karren die kleinere umkippte und unter seinem Rad zermalmte, jubelten die Kinder:

»Der Kleine ist gestorben! Der Hurensohn ist gestorben!«

Penelope ging zu den Kindern und fragte, was sie da trieben, aber sie antworteten ihr nicht, sondern liefen davon. Sie blieb stehen und starrte die Tonscherben auf der rot verbrannten Straße an.

Die Fur sind das Volk, das der Region Darfur ihren Namen gegeben hat. Dieser uralte afrikanische Stamm droht durch den Terror der Dschandschawid unterzugehen.

Da die afrikanischen Stämme traditionell Bauern sind, gibt es seit Urzeiten Konflikte zwischen ihnen und dem nomadisierenden Teil der Bevölkerung. Doch der wahre Grund für den Völkermord ist das Öl. Man hat Öl auf Land gefunden, das von den alten afrikanischen Stämmen bewohnt wird, und will die Dörfer aus dem Gebiet entfernen.

Obwohl der Bürgerkrieg offiziell beendet ist, setzen die Dschandschawid ihre systematischen Überfälle fort, vergewaltigen die Frauen, töten die Männer und Jungen und brennen anschließend die Behausungen nieder.

Penelope sah die arabischen Kinder fortrennen, sie hob die letzten heil gebliebenen Tonfiguren von der Straße auf, als jemand sie rief:

»Penny! Penny!«

Furchtsam zuckte sie zusammen, wandte sich um und sah Jane Oduya, die ihr zuwinkte. Jane war korpulent und klein, trug eine verwaschene Jeans und eine gelbe Jacke. Penelope erkannte sie kaum wieder. Janes Gesicht war im Laufe weniger Jahre zerfurcht und alt geworden.

»Jane!«

Sie umarmten sich.

»Rede nicht mit diesen Kindern«, murmelte Jane. »Sie sind wie alle anderen, sie hassen uns, weil wir schwarz sind, es ist nicht zu fassen. Sie hassen schwarze Haut.«

Jane und Penelope gingen zum Flüchtlingslager. Hier und da sammelten sich Menschen, um zu essen und zu trinken. Der Geruch von angebrannter Milch vermischte sich mit dem Gestank der Latrinen. Überall sah man die blauen Plastikplanen der Vereinten Nationen, die für alles Mögliche benutzt wurden, als Vorhänge, Windschutz, Laken. Hunderte weißer Zelte des Roten Kreuzes schlugen in dem Wind, der über die Ebene strich.

Penelope begleitete Jane in das große Zelt, in dem sich die Krankenstation befand. Das Sonnenlicht schien grau durch den weißen Stoff. Jane schaute durch ein Plastikfenster in die chirurgische Abteilung.

»Meine Krankenschwestern sind tüchtige Chirurgen geworden«, sagte sie leise. »Sie führen vollkommen eigenständig Amputationen und leichtere Operationen durch.«

Zwei schmale Jungen von etwa dreizehn Jahren trugen einen großen Karton mit Verbandsmaterial ins Zelt und stellten ihn vorsichtig neben einigen anderen Kartons ab. Sie kamen zu Jane, die sich bei ihnen bedankte und sie anwies, den Frauen zu helfen, die gerade eingetroffen waren und Wasser zum Auswaschen der Wunden benötigten.

Die Jungen gingen und kehrten kurz darauf mit Wasser in großen Plastikflaschen zurück.

»Sie haben zur arabischen Miliz gehört«, erläuterte Jane in Richtung der Jungen nickend. »Aber im Moment herrscht Ruhe. Weil es an Munition und Waffenteilen fehlt, gibt es eine Art Waffenstillstand, und die Leute wissen nicht recht, was sie tun sollen, viele haben angefangen, sich hier nützlich zu machen. Wir haben eine Jungenschule mit mehreren jungen Männern aus der Miliz in der Klasse.«

Auf einer der Pritschen wimmerte eine Frau, Jane eilte zu ihr und strich ihr über Stirn und Wangen. Sie schien noch keine fünfzehn Jahre alt zu sein, war aber trotzdem hochschwanger und hatte durch eine Amputation einen Fuß verloren.

Den ganzen Tag über arbeitete Penelope an Janes Seite, machte alles, was die andere Frau ihr sagte, stellte keine Fragen, sprach über nichts, tat nur alles dafür, dass Janes ärztliches Wissen möglichst optimal genutzt und möglichst vielen Menschen geholfen werden konnte.

Ein etwa dreißigjähriger Afrikaner mit einem schön geschnittenen Gesicht und muskulösen Schultern eilte mit einer kleinen weißen Schachtel zu Jane.

»Dreißig neue Dosen Antibiotika«, erklärte er strahlend.

»Sicher?«

Er nickte lächelnd.

»Gute Arbeit.«

»Ich ziehe gleich noch mal los und mache bei Ross weiter Druck, er hat davon gesprochen, dass wir diese Woche eine Kiste mit Blutdruckmessgeräten bekommen können.«

»Das ist Grey«, sagte Jane. »Eigentlich ist er Lehrer, aber ohne ihn würde ich es nicht schaffen.«

Penelope streckte die Hand aus und begegnete dem lebhaften Blick des Mannes.

»Penelope Fernandez«, sagte sie.

»Tarzan«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand zu einem losen Händedruck.

»Als er herkam, wollte er unbedingt Tarzan genannt werden«, kommentierte Jane lachend.

»Tarzan und Jane«, sagte er lächelnd. »Ich bin ihr Tarzan.«

»Am Ende habe ich mich darauf eingelassen, ihn Greystoke zu nennen«, erzählte Jane. »Aber das finden hier alle zu umständlich, sodass er sich mit Grey zufrieden geben muss.«

Plötzlich hupte vor dem Zelt ein Lastwagen, und sie liefen alle drei hinaus. Rund um das rostige Fahrzeug wirbelte rötlicher Straßenstaub auf. Auf der offenen Ladefläche lagen sieben Männer mit Schussverletzungen. Sie kamen von Westen, aus einem Dorf, in dem es wegen eines Brunnens zu einem Feuergefecht gekommen war.

Der Rest des Tages verging mit Notoperationen. Einer der Männer starb. Einmal wurde Penelope von Grey aufgehalten, der ihr eine Wasserflasche hinhielt. Penelope schüttelte gestresst den Kopf, aber er lächelte nur ruhig und sagte:

»Du hast genügend Zeit, um etwas zu trinken.«

Sie bedankte sich, trank das Wasser und half ihm anschließend, einen der verletzten Männer auf eine Liege zu heben.

Am Abend saßen Penelope und Jane erschöpft auf der Veranda einer Wohnbaracke und nahmen eine späte Mahlzeit zu sich. Es war immer noch sehr heiß. Sie plauderten und blickten die Straße hinunter, zu den Häusern und Zelten hinüber, beobachteten die Menschen, die in der Dämmerung die letzten Arbeiten des Abends erledigten.

Genauso schnell, wie es dunkel wurde, griff eine unheilverkündende Stille um sich. Anfangs hörte Penelope noch Menschen, die sich zurückzogen, das Rascheln aus den Latrinen und vereinzelte schleichende Bewegungen in der Dunkelheit. Doch schon bald war es vollkommen still, und nicht einmal die kleinsten Kinder weinten.

»Sie fürchten sich alle immer noch davor, dass die Truppen der Dschandschawid vorbeiziehen«, sagte Jane und sammelte die Teller ein.

Sie gingen hinein, schlossen die Tür ab, verriegelten sie und spülten anschließend gemeinsam. Sie wünschten sich eine gute Nacht, und Penelope ging zum Gästezimmer am hinteren Ende des Flurs.

Zwei Stunden später wurde Penelope schlagartig wach. Sie war in ihren Kleidern eingeschlafen und horchte nun in die mächtige Nacht Darfurs hinein. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte. Ihr Herz beruhigte sich gerade wieder, als sie draußen plötzlich einen Schrei hörte. Penelope stand auf, ging zu ihrem kleinen vergitterten Fenster und sah hinaus. Mondlicht erhellte die Straße. Irgendwo wurde ein erregtes Gespräch geführt. Mitten auf der Straße gingen drei männliche Jugendliche. Sie gehörten unübersehbar zur Miliz der Dschandschawid. Einer von ihnen hielt einen Revolver in der Hand. Penelope hörte sie schreien, dass sie Sklaven töten würden. Ein alter Afrikaner, der Süßkartoffeln über einem Glutbett grillte und für zwei Piaster pro Stück verkaufte, saß bereits auf seiner Decke vor einer UN-Lagerhalle. Die Jungen gingen zu dem alten Mann und bespuckten ihn. Der schlaksige Junge hob den Revolver und schoss dem Mann ins Gesicht. Der Knall hallte fremdartig zwischen den Häusern. Die Jungen schrien, nahmen sich einige Süßkartoffeln, aßen ein wenig und traten den Rest in den Straßenstaub neben dem toten Mann.

Sie kehrten auf die Straße zurück, schauten sich um und bewegten sich anschließend direkt auf die Baracke zu, in der Penelope und Jane wohnten. Penelope weiß noch, dass sie die Luft anhielt, als sie die Milizionäre auf der Veranda umherlaufen, erregt miteinander sprechen und an die Tür klopfen hörte.

Sie ringt nach Luft und öffnet die Augen. Sie muss auf Ossian Wallenbergs Couch eingeschlafen sein.

Dumpf und krachend verhallt ein Donner. Der Himmel hat sich verdunkelt.

Björn steht am Fenster, und Ossian nippt an seinem Whisky.

Penelope wirft einen Blick auf das Telefon – es hat niemand angerufen.

Die Wasserschutzpolizei müsste eigentlich bald da sein.

Das Gewitter kommt rasch näher. Die Deckenlampe geht aus, die Dunstabzugshaube in der Küche verstummt, der Strom ist ausgefallen. Tropfen klatschen auf das Dach und die Fensterbleche, und von einer Sekunde zur nächsten gießt es in Strömen.

Das Handy hat kein Netz mehr.

Ein Blitz taucht das Zimmer in Licht, gefolgt von einem heftigen Knall.

Penelope lehnt sich zurück und lauscht dem Regen, spürt die kühlere Luft durchs Fenster dringen, schlummert erneut ein, wird schließlich jedoch davon geweckt, dass Björn etwas sagt.

»Bitte?«, fragt sie.

»Ein Boot«, wiederholt er. »Ein Polizeiboot.«

Sie steht schnell auf und blickt hinaus. Durch den Wolkenbruch kocht das Wasser förmlich. Das große Boot ist schon ganz nah und nimmt Kurs auf den Steg. Penelope sieht auf das Telefon. Es hat immer noch keinen Empfang.

»Beeil dich«, sagt Björn.

Er versucht, den Schlüssel in das Schloss der Terrassentür zu stecken. Seine Hände zittern. Das Polizeiboot gleitet zum Steg, gibt mit der Sirene Signal.

»Er passt nicht«, sagt Björn mit lauter Stimme. »Das ist der falsche Schlüssel.«

»Oh, oh, oje«, sagt Ossian lächelnd und zieht seinen Schlüsselbund heraus. »Dann muss es der hier sein.«

Björn holt den Schlüssel, steckt ihn ins Schloss, dreht und hört das metallische Klicken in den drehbaren Teilen der Verriegelung.

Durch den Regen ist das Polizeiboot nur schwer zu sehen, und als Björn endlich die Tür aufbekommt, treibt es bereits wieder vom Anleger fort.

»Björn«, ruft Penelope.

Der Motor dröhnt, und hinter dem Boot schäumt es weiß, Björn winkt und läuft, so schnell er kann, auf dem Kiesweg die Uferböschung hinunter.

»Hier oben«, ruft er. »Wir sind hier.«

Björns Schultern und Oberschenkel sind durchnässt. Er gelangt zum Steg und sieht die Bootsmotoren mit pulsierendem Unterwassergrollen bremsen. Auf dem Achterdeck steht ein Erste-Hilfe-Koffer. Hinter der Fensterscheibe erahnt er schemenhaft einen Polizisten. Ein weiterer Blitz erleuchtet den Himmel. Es donnert ohrenbetäubend. Der Polizist hinter der Scheibe scheint in ein Funkgerät zu sprechen. Regen prasselt auf das Dach des Boots herab. Wellen schlagen ans Ufer. Björn ruft und winkt mit dem ganzen Arm. Das Boot kehrt sanft zurück, seine Backbordseite stößt gegen den Steg.

Björn greift nach der nassen Reling, geht auf dem Vordeck an Bord und steigt in den Gang hinab, der zu einer Metalltür führt. Das Boot schaukelt in seinen eigenen Heckwellen. Er taumelt, öffnet die schwere Metalltür und tritt ein.

Ein süßer, metallischer Geruch wie von Öl und Schweiß hängt im Ruderhaus.

Als Erstes fällt Björns Blick auf einen sonnengebräunten Polizisten, der mit einer Quetschwunde an der Stirn auf dem Boden liegt. Seine Augen sind weit geöffnet. Unter ihm breitet sich eine fast schwarze Blutlache aus. Björn atmet schnell, schaut sich in dem dunklen Raum zwischen Polizeiausrüstung, Regenmänteln und Surfermagazinen um. Durch das Dröhnen der Motoren hindurch hört er eine Stimme. Es ist Ossian Wallenberg, der vom Kiesweg aus etwas ruft. Er nähert sich mit einem gelben Regenschirm über dem Kopf humpelnd dem Steg. Björn spürt den Puls in seinen Schläfen pochen und erkennt, dass er in eine Falle getappt ist. Er sieht Blutspritzer auf der Innenseite der Windschutzscheibe und tastet nach der Klinke. Die Treppe zur Kajüte knarrt, und er dreht sich um und sieht seinen Verfolger aus der Dunkelheit heraufkommen. Er trägt eine Polizeiuniform, und sein Gesicht ist hellwach, fast neugierig. Björn erkennt, dass es für eine Flucht zu spät ist, und greift nach einem Schraubenzieher in dem Regal über dem Armaturenbrett, um sich zu verteidigen. Der Verfolger hält sich am Treppengeländer fest, steigt ins Ruderhaus hinauf, blinzelt im grellen Licht und richtet den Blick auf Windschutzscheibe und Ufer. Regen schlägt gegen das Fenster. Björn bewegt sich schnell. Er zielt mit dem Schraubenzieher auf das Herz des Gegners, stößt zu und begreift nicht wirklich, was dann geschieht. Er spürt bloß ein Zittern in seiner Schulter. Der Gegenschlag des Angreifers bewirkt, dass Björn jegliches Gefühl im Arm verliert. Es ist, als gäbe es seinen Arm überhaupt nicht mehr. Der Schraubenzieher fällt zu Boden und rutscht klappernd hinter eine Werkzeugkiste aus Aluminium. Der Verfolger hält seinen leblosen Arm fest, reißt ihn nach vorn, verdreht Björns Körper, fegt mit einem Tritt seine Beine weg und lenkt und verstärkt die Kraft in Björns Fall so, dass dieser mit dem Gesicht nach unten stürzt und auf die Fußstütze neben dem Steuer schlägt. Durch den Aufprall bricht mit einem dumpfen Knirschen Björns Genick. Er spürt nichts, sieht jedoch einige seltsame Funken, kleine Flammen, die in der Dunkelheit umherhüpfen, immer langsamer und wohliger. Björns Gesicht zuckt schwach, wenige Sekunden später ist er tot.

Загрузка...