Als Axel an jenem Tag erwachte, an dem er alles verlieren sollte, war es hell. Er und Greta hatten die Vorhänge nicht zugezogen, sie waren einfach zusammen im Bett eingeschlafen und hatten die ganze Nacht erschöpft und glücklich in den Armen des anderen geschlafen.
Axel verließ das Bett, betrachtete Greta, die mit vollkommen ruhigem Gesicht und in die dicke Decke gewickelt schlief. Er ging zur Tür, blieb vor dem Spiegel stehen und musterte kurz seinen nackten siebzehnjährigen Körper, ehe er ins Musikzimmer ging. Vorsichtig schloss er die Tür zum Schlafzimmer, ging zum Flügel und nahm seine Geige aus dem Kasten. Er legte sie an die Schulter, stellte sich ans Fenster und blickte in den Wintermorgen hinaus, auf den Schnee, der in langen Schleiern von den Dächern herabwehte, und begann, aus dem Gedächtnis Maurice Ravels »Tzigane« zu spielen.
Das Stück fing mit einer traurigen Zigeunerweise an, langsam und bedeutungsschwer, aber dann steigerte sich das Tempo. Die Melodie löste immer schnellere Echos ihrer selbst aus, die wie funkelnde, sekundenschnelle Erinnerungen an eine Sommernacht waren.
Er spielte ungeheuer schnell.
Er spielte, weil er glücklich war, überlegte nicht, ließ die Finger einfach mit dem sprühenden, perlenden Bach fließen, tanzen.
Axel lächelte in sich hinein, als er an das Gemälde dachte, das im Salon seines Großvaters hing, der immer behauptete, es sei Ernst Josephsons leidenschaftlichste Version des Wassergeists Näck. Als Kind hatte Axel die Sagen über dieses Zauberwesen geliebt, das mit seinem schönen Geigenspiel Menschen anlockte und ertrinken ließ.
Axel dachte, dass er in diesem Moment dem Näck ähnelte, dem nackten Jüngling, der im Wasser sitzend spielt. Der große Unterschied zwischen Axel und dem Näck auf Josephsons Bild bestand jedoch darin, dass Axel glücklich war.
Der Bogen lief über die Saiten, wechselte atemberaubend schnell die Position. Er scherte sich nicht darum, dass sich Rosshaar löste und vom Frosch herabhing.
So muss Ravel gespielt werden, dachte er. Er muss glücklich gespielt werden, nicht exotisch. Ravel ist ein glücklicher Komponist, ein junger Komponist.
Er ließ den Nachhall der abschließenden Töne in der Geige verweilen, davonwirbeln wie der leichte Pulverschnee auf den Dächern. Dann ließ er den Bogen sinken und wollte sich gerade vor dem Winter verbeugen, als er hinter sich eine Bewegung erahnte.
Er wandte sich um und sah Greta in der Tür stehen. Sie hielt die Decke vor sich und sah ihn mit eigentümlichen dunklen Augen an.
Als er ihr ernstes Gesicht sah, wurde er besorgt.
»Was ist los?«
Sie antwortete nicht, schluckte nur hart. Zwei große Tränen liefen ihre Wangen herab.
»Greta, was ist los?«, wiederholte er.
»Du hast gesagt, du hättest nicht geübt«, sagte sie.
»Nein, ich … ich«, stammelte er. »Ich habe dir doch erzählt, dass es mir leichtfällt, neue Stücke zu lernen.«
»Gratuliere.«
»Es ist nicht, wie du denkst.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich begreife nicht, wie ich so dumm sein konnte«, sagte sie.
Er legte Geige und Bogen fort, aber sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Er zog eine Jeans an, die über einem Stuhlrücken hing, ging zur Tür und klopfte an.
»Greta? Darf ich reinkommen?«
Sie antwortete nicht. Er spürte in seinem Inneren die Sorge wachsen. Einen Moment später trat sie vollständig angezogen aus dem Zimmer. Sie sah ihn nicht an, ging nur zum Flügel, packte ihre Geige ein und ließ ihn allein.
Das Konzerthaus war ausverkauft. Greta trat als Erste der Finalisten auf. Als sie kam, sah sie ihn nicht an, grüßte ihn nicht. Sie trug ein tiefblaues Samtkleid und eine schlichte Halskette mit einem Herzen.
Axel saß in der Künstlergarderobe und wartete mit halb geschlossenen Augen. Es war vollkommen still. Das einzige Geräusch war ein schwaches Säuseln hinter einem staubigen Belüftungsgitter aus Plastik. Sein jüngerer Bruder Robert kam zu ihm.
»Willst du nicht bei Mama sitzen?«, fragte Axel.
»Ich bin zu nervös … ich kann nicht zusehen, wenn du spielst, ich bleibe lieber hier sitzen und warte auf dich.«
»Spielt Greta schon?«
»Ja, es klingt schön.«
»Für welches Stück hat sie sich entschieden, war es Tartinis Violinsonate …«
»Nein, es war etwas von Beethoven.«
»Gut«, murmelte Axel.
Sie saßen wortlos zusammen, blieben stumm. Nach einer Weile klopfte es an die Tür. Axel stand auf und öffnete einer Frau, die erklärte, nun sei er bald an der Reihe.
»Viel Glück«, sagte Robert.
»Danke«, sagte Axel, nahm Geige und Bogen und begleitete die Frau durch einen Korridor.
Von der Bühne schlug ihm lauter Applaus entgegen, und Axel erhaschte einen kurzen Blick auf Greta und ihren Vater, als die beiden in ihre Garderobe eilten.
Axel ging durch den Gang und musste anschließend hinter einem Schirm neben der Bühne warten, bis der Conferencier ihn vorstellte. Nachdem er seinen Namen gehört hatte, ging er geradewegs in das blendende Scheinwerferlicht hinaus und lächelte dem Publikum zu. Ein Raunen ging durch den Konzertsaal, als er erklärte, er werde Maurice Ravels »Tzigane« spielen.
Er setzte die Geige an und hob den Bogen. Dann begann er, die wehmütige Einleitung zu spielen und trieb das Tempo anschließend in Richtung des Unmöglichen. Das Publikum hielt den Atem an. Er hörte selbst, dass es absolut brillant klang, aber diesmal perlte die Melodie nicht wie das Wasser eines Bachs. Er spielte nicht glücklich, sondern wie der richtige Näck. Er spielte mit gehetzter, fiebriger Trauer. Als er drei Minuten gespielt hatte und die Töne fielen wie nächtlicher Regen, begann er, absichtlich einzelne Töne zu überspringen, senkte das Tempo, spielte ein bisschen falsch und brach das Stück schließlich ab.
Es war still im Konzertsaal.
»Ich bitte um Entschuldigung«, flüsterte er und ging von der Bühne ab.
Das Publikum applaudierte höflich. Seine Mutter stand von ihrem Platz auf, eilte ihm hinterher und stoppte ihn im Gang.
»Komm her, mein Junge«, sagte sie und legte ihre Hände auf seine Schultern.
Sie streichelte seine Wange, und ihre Stimme war warm und vor Rührung belegt, als sie sagte:
»Das war unglaublich, die beste Interpretation, die ich jemals gehört habe.«
»Entschuldige, Mutter.«
»Nein«, antwortete sie, wandte sich von Axel ab und verließ den großen Konzertsaal.
Axel ging zu seiner Gaderobe zurück, um seine Kleider zu holen. Auf dem Weg dorthin wurde er vom Dirigenten Herbert Blomstedt aufgehalten.
»Ehe Sie so getan haben, als würden Sie falsch spielen, klang es sehr gut«, sagte dieser mit gedämpfter Stimme.
Als Axel nach Hause kam, herrschte eine betäubende Stille im Haus. Es war bereits später Abend. Er ging in die Dachetage hinauf, durch das Musikzimmer und ins Schlafzimmer und schloss die Tür. In seinem Kopf hörte er noch immer die Musik. Er hörte sich ein paar Töne auslassen, unerwartet das Tempo vermindern und verstummen.
Er verstummte immer wieder.
Axel legte sich aufs Bett und schlief neben seinem Geigenkasten ein.
Am nächsten Morgen wachte er davon auf, dass das Telefon klingelte.
Jemand ging über den Fußboden im Esszimmer, der leise knarrte.
Kurz darauf hörte man Schritte auf der Treppe. Ohne anzuklopfen, betrat seine Mutter das Schlafzimmer.
»Setz dich hin«, sagte Alice ernst.
Als er sie sah, bekam er Angst. Sie hatte geweint und ihre Wangen waren immer noch feucht.
»Mutter, ich verstehe nicht …«
»Sei still«, unterbrach sie ihn leise. »Der Rektor deiner Schule hat mich angerufen, und er …«
»Er hasst mich, weil ich …«
»Ruhe«, schrie Alice.
Es wurde still, sie hob eine zitternde Hand zum Mund und hielt sie so, während ihr Tränen die Wangen herabliefen.
»Es geht um Greta«, brachte sie schließlich heraus. »Sie hat sich das Leben genommen.«
Axel sah sie an und versuchte zu verstehen, was sie gesagt hatte.
»Nein, denn ich …«
»Sie hat sich geschämt«, unterbrach Alice ihn. »Sie hätte üben müssen, du hast es versprochen, aber ich wusste es, im Grunde wusste ich es … Sie hätte nicht hier sein dürfen, sie … ich sage nicht, dass es deine Schuld ist, Axel, denn das ist es nicht. Sie hat sich selbst verraten, als es darauf ankam, und konnte es einfach nicht ertragen zu …«
»Mutter, ich …«
»Still«, unterbrach sie ihn erneut. »Es ist vorbei.«
Alice verließ das Zimmer, und wie in einem rauschhaften Nebel stand Axel von seinem Bett auf, taumelte, öffnete den Geigenkasten, holte das schlanke Instrument heraus und warf es mit voller Wucht auf den Boden. Der Hals brach, und der Holzkörper flatterte an den losen Saiten, er trat darauf, und Holzspäne wirbelten durch die Luft.
»Axel! Was tust du da?«
Sein jüngerer Bruder Robert war ins Zimmer gestürmt und versuchte ihn aufzuhalten, aber Axel stieß ihn von sich. Robert schlug mit dem Rücken gegen den großen Schrank, ging aber trotzdem erneut auf Axel zu.
»Axel, du hast dich verspielt, was macht das schon?«, versuchte es Robert. »Ich bin Greta begegnet, sie hat sich auch verspielt, jeder kann sich …«
»Halt’s Maul«, schrie Axel. »Du wirst sie mir gegenüber nie wieder erwähnen.«
Robert sah ihn an, wandte sich ab und verließ das Zimmer. Axel trat weiter auf die Holzspäne, bis man nicht mehr erkennen konnte, dass es sich einmal um eine Geige gehandelt hatte.
Shiro Sasaki aus Japan gewann den Johan-Fredrik-Berwald-Wettbewerb. Greta hatte das leichtere Stück von Beethoven gewählt, sich aber trotzdem verspielt. Als sie nach Hause kam, hatte sie eine große Menge Schlaftabletten genommen und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie wurde erst am nächsten Morgen gefunden, als sie nicht zum Frühstück herunterkam.
Axels Erinnerungen versinken wie eine Unterwasserstadt in Schlick und Seegras, verschwinden aus seinen Gedanken. Er betrachtet Beverly, die ihn mit Gretas großen Augen ansieht. Er schaut auf den Stofflappen in seiner Hand und die Flüssigkeit auf dem Tisch, das glänzende Intarsienmotiv der Frau, die auf einer Zither spielt.
Das Licht von draußen fällt auf Beverlys runden Hinterkopf, als sie sich umdreht und die Geigen betrachtet, die an der Wand hängen.
»Ich wünschte, ich könnte Geige spielen«, sagt sie.
»Wir können ja gemeinsam einen Kurs belegen«, erwidert er lächelnd.
»Das würde ich gerne tun«, sagt sie ernst.
Er legt den Lappen auf den Tisch und spürt in seinem Inneren die große Müdigkeit rauschen. Die hallende Klaviermusik durchströmt den Raum, sie wird ohne Dämpfer gespielt, und die Töne fließen träumerisch ineinander.
»Armer Axel, du willst schlafen«, sagt sie.
»Ich muss arbeiten«, murmelt er kaum hörbar.
»Dann eben heute Abend«, sagt sie und steht auf.