Nachdem er längere Zeit bewegungsunfähig im Kofferraum eines Wagens gelegen hat, darf Axel Riessen endlich aufstehen und hinauskommen. Er befindet sich auf einem privaten Flugplatz. Die Landebahn ist aus Beton und von einem hohen Zaun umgeben. Vor einem barackenartigen Gebäude mit einem hohen Mast wartet ein Hubschrauber.
Während Axel zwischen den beiden Männern geht, die ihn entführt haben, hört er die klagenden Rufe von Sturmmöwen. Er träg nach wie vor nur Hemd und Hose. Es gibt nichts zu sagen, er geht bloß mit und besteigt den Hubschrauber, setzt sich und schnallt sich an. Die beiden anderen Männer nehmen im Cockpit des Hubschraubers Platz, der Pilot legt einen Schalter um, dreht einen kleinen glänzenden Schlüssel auf dem Armaturenbrett, legt daraufhin einen weiteren Schalter um und tritt ein Pedal herunter.
Der Mann neben dem Piloten greift nach einer Karte und legt sie sich auf den Schoß.
An der Cockpitscheibe hängt ein Streifen Klebeband, der sich allmählich löst.
Der Motor dröhnt, und kurz darauf setzt sich der Rotor langsam in Bewegung. Die schmalen Blätter schwingen träge durch die Luft, das diesige Sonnenlicht wird vom Glas reflektiert. Nach und nach dreht sich der Rotor immer schneller.
Ein Pappbecher rollt davon.
Der Motor kommt allmählich auf Touren. Es knattert ohrenbetäubend. Der Pilot hält den Steuerknüppel mit der rechten Hand, verschiebt ihn mit kleinen, eckigen Bewegungen, dann heben sie ab.
Anfangs steigt der Hubschrauber ganz sachte fast senkrecht in die Höhe. Dann kippt er nach vorn und nimmt Fahrt auf.
Als sie am Zaun vorbei und über die Bäume hinwegfliegen und so steil nach links abdrehen, dass es Axel vorkommt, als kippte der Hubschrauber zur Seite, bekommt er ein flaues Gefühl im Magen.
Sie fliegen schnell über die grüne Erde, lassen einzelne Straßen und ein Haus mit einem glänzenden Blechdach hinter sich.
Das Festland endet, und das gekräuselte bleigraue Meer beginnt.
Axel versucht erneut zu verstehen, was mit ihm geschieht. Es fing damit an, dass er mit Raphael Guidi telefonierte, der sich auf seiner Jacht im Finnischen Meerbusen befand und mit Kurs auf Lettland weiter auf die Ostsee hinausfuhr. Von seiner Weigerung, die Ausfuhrgenehmigung zu unterzeichnen, bis zum Einbruch der beiden Männer in sein Haus und zu der Elektroschockpistole an seinem Hals kann kaum mehr als eine Minute vergangen sein.
Die Männer sind die ganze Zeit behutsam mit ihm umgegangen und haben stets dafür gesorgt, dass er bequem gelegen hat.
Nach einer halben Stunde hielten sie an und trugen ihn zu einem zweiten Wagen.
Ungefähr eine Stunde später durfte er eigenständig über die asphaltierte Landebahn voller Ölflecken gehen und in dem Hubschrauber Platz nehmen.
Das monotone Meer huscht schnell wie das Band einer Autobahn unter ihnen vorbei. Der Himmel darüber wirkt unbeweglich, bewölkt und feucht weiß. Sie fliegen mit großer Geschwindigkeit in etwa fünfzig Metern Höhe. Der Pilot ist über Funk mit jemandem verbunden, aber Axel Riessen kann nicht verstehen, was er sagt.
Er döst eine Weile und weiß nicht, wie lange er in dem Hubschrauber unterwegs gewesen ist, als er auf der gekräuselten See eine grandiose Luxusjacht erblickt, ein riesiges weißes Schiff mit einem hellblauen Swimmingpool und mehreren Sonnendecks, dem sie schnell näher kommen.
Axel ruft sich in Erinnerung, dass Raphael Guidi ein schwerreicher Mann ist, er lehnt sich vor, um eine bessere Sicht auf die Jacht zu bekommen. Es ist das unglaublichste Seefahrzeug, das er je gesehen hat. Schlank und spitz zulaufend wie eine Flamme, weiß wie Zuckerguss. Das Schiff ist sicher mehr als hundert Meter lang und verfügt zwei Etagen über dem Achterdeck über eine pompöse Kommandobrücke.
Donnernd sinken sie zu den Kreisen, die den Hubschrauberlandeplatz markieren, auf dem Vordeck hinab. Die Rotorblätter sorgen dafür, dass die Kielwellen des Schiffs ihre Richtung ändern, lassen sie flacher werden und peitschen sie fort.
Die Landung geschieht fast unmerklich, der Hubschrauber schwebt auf der Stelle, senkt sich langsam und steht schließlich sanft wippend auf der Plattform. Während sich die Rotorblätter immer langsamer drehen, warten sie. Der Pilot bleibt im Cockpit, während der zweite Mann Axel Riessen über die Plattform mit den aufgemalten Kreisen führt. Sie ducken sich im Luftzug, bis sie durch eine Glastür getreten sind. Das Geräusch des Hubschraubers verschwindet fast völlig hinter dem Glas. Der Raum, in dem sie sich befinden, erinnert an ein elegantes Wartezimmer mit Sitzmöbeln, einem Couchtisch und einem dunklen Fernsehapparat. Ein weiß gekleideter Mann heißt sie willkommen, deutet auf die Sitzmöbel und bittet Axel, Platz zu nehmen.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragt der Weißgekleidete.
»Ein Wasser, bitte«, antwortet Axel.
»Mit oder ohne Kohlensäure?«
Ehe Axel antworten kann, betritt ein weiterer Mann den Raum.
Er ähnelt dem ersten, der neben dem Hubschrauberpiloten saß. Beide Männer sind groß und breitschultrig, haben seltsam gleichartige und synchronisierte Körper. Der neue Mann hat weißblonde Haare, fast weiße Augenbrauen und eine Nase, die einmal gebrochen gewesen ist. Der erste ist grauhaarig und trägt eine Hornbrille.
Sie bewegen sich wortlos, effektiv und sparsam, während sie Axel zu den Suiten unter Deck begleiten.
Die Luxusjacht wirkt seltsam verlassen. Axel sieht flüchtig, dass der Pool leer und scheinbar seit vielen Jahren nicht mehr mit Wasser gefüllt gewesen ist. Auf seinem Boden liegen einige schadhafte Möbelstücke, eine Couch ohne Polster und ausrangierte Bürostühle.
Axel Riessen fällt auf, dass die hübschen Rattanmöbel auf einer kleinen Empore vernachlässigt worden sind. Das feine Flechtwerk ist gerissen, und überall an den Sesseln und dem Tisch stehen lose Halmenden ab.
Je weiter er in die Jacht hineingelangt, desto mehr erscheint sie ihm wie eine leere, zerstörte Schale. Axels Schritte hallen auf dem zerkratzten Marmorboden des leeren Korridors wider. Sie treten durch eine Doppeltür, in deren dunkles Holz kunstvoll die Worte »Sala da pranzo« geschnitzt wurden.
Der Speisesaal ist riesig. Durch die Panoramafenster sieht man nichts als offene See. Eine breite Treppe mit einem roten Teppich führt in die nächste Etage hinauf. An der Decke hängen prachtvolle Kronleuchter. Der Raum ist für große Gesellschaften konzipiert, aber auf dem Esstisch stehen lediglich ein Kopierer, ein Faxgerät, zwei Computer und eine große Zahl von Ordnern.
Am hinteren Ende des Speisesaals sitzt an einem nicht sonderlich großen Tisch ein kleiner Mann. Er hat grau melierte Haare, und mitten auf seinem Scheitel prangt ein großer kahler Fleck. Axel erkennt in ihm augenblicklich Raphael Guidi. Er trägt eine schlabberige hellblaue Trainingshose und eine dazugehörige Jacke mit der Ziffer sieben auf Brust und Rücken. Seine nackten Füße stecken in weißen Turnschuhen.
»Herzlich willkommen«, sagt der Mann in kantigem Englisch.
Es klingelt in seiner Tasche, er zieht ein Handy heraus, mustert die Nummer, nimmt das Gespräch nicht an. Unmittelbar darauf wird Guidi erneut angerufen, meldet sich, sagt einige Worte auf Italienisch und sieht anschließend Axel Riessen an. Er macht eine Geste in Richtung der dunklen, wogenden Meeresweiten hinter den Panoramafenstern.
»Ich bin nicht freiwillig hier«, beginnt Axel.
»Das bedauere ich, dazu fehlte die Zeit …«
»Also, was wollen Sie?«
»Ich möchte Ihre Loyalität gewinnen«, antwortet Raphael Guidi kurz.
Es wird still, und die beiden Leibwächter lächeln mit gesenktem Blick, werden dann jedoch wieder vollkommen ernst. Raphael Guidi trinkt einen Schluck seines gelben Vitamingetränks und rülpst lautlos.
»Loyalität ist das Einzige, was zählt«, sagt er leise und sieht Axel in die Augen. »Sie haben vorhin behauptet, ich hätte nichts, was Sie haben wollen, aber …«
»Das ist wahr.«
»Aber ich glaube, dass ich Ihnen ein gutes Angebot machen kann«, fährt Guidi fort und verzieht das Gesicht zu einer freudlosen Grimasse, die an ein Lächeln erinnern soll. »Ich weiß, wenn ich Ihre Loyalität gewinnen will, muss ich Ihnen etwas anbieten, was Sie wirklich haben wollen, vielleicht muss es sogar das sein, was Sie sich am meisten wünschen.«
Axel schüttelt den Kopf.
»Ich weiß ja selber kaum, was ich mir am meisten wünsche.«
»Ich denke schon, dass Sie das wissen«, erwidert Raphael Guidi. »Sie wünschen sich, wieder schlafen, ganze Nächte durchschlafen zu können, ohne …«
»Woher wissen Sie …?«
Er verstummt abrupt, und Guidi wirft ihm einen kühlen, ungeduldigen Blick zu.
»Dann wissen Sie mit Sicherheit auch, dass ich nichts unversucht gelassen habe«, sagt Axel ruhig.
Der Waffenhändler macht eine nonchalante Geste.
»Sie bekommen eine neue Leber.«
»Ich stehe bereits auf der Warteliste für eine neue Leber«, erklärt Axel mit einem unfreiwilligen Lächeln. »Wenn sich der Transplantationsrat getroffen hat, rufe ich jedes Mal an, aber mein Leberschaden ist selbst verschuldet und mein Gewebetyp so ungewöhnlich, dass es praktisch keine Spender gibt …«
»Ich habe eine Leber für Sie, Axel Riessen«, behauptet Guidi.
Es wird still, und Axel spürt, dass seine Wangen rot anlaufen, seine Ohren zu glühen beginnen.
»Und was verlangen Sie dafür als Gegenleistung von mir?«, fragt Axel und schluckt schwer. »Sie wollen, dass ich die Ausfuhrgenehmigung für Kenia unterzeichne.«
»Ja, ich möchte, dass wir einen Paganini-Vertrag schließen«, erwidert Raphael Guidi.
»Was ist …«
»Nichts überstürzen, Sie müssen sich das gut überlegen, es ist eine wichtige Entscheidung, Sie müssen sich die detaillierten Informationen zum Organspender anschauen und so weiter.«
Blitzschnell schießen die Gedanken durch Axel Riessens Kopf. Er denkt, dass er die Ausfuhrgenehmigung unterschreiben kann und sobald er die neue Leber bekommen hat, wird er gegen Raphael Guidi aussagen. Man wird ihn beschützen, das weiß er, vielleicht wird er eine neue Identität annehmen müssen, aber er wird wieder schlafen können.
»Wollen wir nicht essen? Ich habe Hunger, Sie auch?«, fragt Guidi.
»Vielleicht …«
»Aber bevor wir essen, möchte ich, dass Sie Ihre Sekretärin bei der Kontrollbehörde anrufen und ihr Bescheid geben, dass Sie hier sind.«