59 Wenn das Leben einen Sinn bekommt

Mehrere Polizisten haben sich auf den Fluren des Landespolizeiamts versammelt. Nervosität liegt in der Luft. Alle warten ungeduldig auf neue Berichte. Erst hat die Einsatzzentrale den Kontakt zum Boot der Wasserschutzpolizei verloren, und dann ist auch noch der Funkkontakt zum Rettungshubschrauber abgebrochen.

Joona steht in seinem Büro und liest die Ansichtskarte, die Disa ihm von ihrer Konferenz auf Gotland geschickt hat. »Ich leite den Liebesbrief einer heimlichen Verehrerin an dich weiter. Kuss, Disa.« Er nimmt an, dass sie lange suchen musste, um eine Karte zu finden, die ihn garantiert schaudern lassen wird. Er beißt die Zähne zusammen und dreht die Karte um. Auf der Vorderseite steht in Druckbuchstaben »Sex on the beach« über dem Bild eines weißen Pudels mit Sonnenbrille in einem rosa Bikini. Der Hund sitzt in einem Liegestuhl, und neben ihm steht ein roter Drink in einem hohen Glas.

Es klopft an der Tür, und Joonas Lächeln verschwindet, als er Nathan Pollocks ernstem Blick begegnet.

»Carl Palmcrona hat sein gesamtes Vermögen seinem Sohn vermacht«, setzt Nathan an.

»Ich dachte, er hätte keine Verwandten.«

»Der Sohn ist tot, er wurde nur sechzehn Jahre alt, offenbar ist er gestern bei einem Unfall umgekommen.«

»Gestern?«, wiederholt Joona.

»Stefan Bergkvist hat Carl Palmcrona um drei Tage überlebt«, erklärt Nathan Pollock.

»Was ist passiert?«

»Ich habe es ehrlich gesagt nicht ganz verstanden, es hing mit seinem Moped zusammen«, sagt Pollock. »Ich habe darum gebeten, den vorläufigen Bericht zugeschickt zu bekommen …«

»Was weißt du?«

Der große Mann mit dem silbernen Pferdeschwanz lässt sich auf den Bürostuhl fallen.

»Ich habe mehrmals mit seiner Mutter, Siv Bergkvist, und ihrem Lebensgefährten Micke Johansson gesprochen … dabei ist herausgekommen, dass Siv zur Aushilfe als Palmcronas Sekretärin arbeitete, als dieser bei der Vierten Marineflottille tätig war. Sie hatten eine kurze Affäre. Die Frau wurde schwanger. Als sie ihm davon erzählte, meinte er zu ihr, er gehe davon aus, dass sie abtreiben werde. Siv kehrte nach Västerås zurück, brachte das Kind zur Welt und hat seither stets behauptet, der Vater sei unbekannt.«

»Wusste Stefan, dass sein Vater Carl Palmcrona war?«

Nathan schüttelt den Kopf und ist in Gedanken bei den Worten der Mutter: »Ich habe Hummelchen gesagt, dass sein Vater tot ist, dass er noch vor seiner Geburt gestorben ist.«

Es klopft an die Tür, und Anja Larsson kommt herein. Sie legt einen Bericht auf den Tisch, der nach dem Ausdrucken noch warm ist.

»Ein Unfall«, sagte sie ohne weitere Erklärung und verlässt den Raum.

Joona greift nach der Plastikmappe und liest den Bericht über die vorläufige kriminaltechnische Untersuchung. Wegen der starken Hitzeentwicklung starb der Junge nicht an einer Kohlenmonoxidvergiftung, sondern an seinen Verbrennungen. Noch vor seinem Tod war die Haut wie von tiefen Schnittwunden aufgeplatzt und daraufhin die gesamte Muskulatur eingeschrumpft. Die Hitze hatte am Schädel und den Röhrenknochen zu Brüchen geführt. Der Pathologe hatte ein Brandhämatom festgestellt, eine Blutansammlung zwischen der Schädeldecke und der harten Hirnhaut, die entstanden ist, als das Blut anfing zu kochen.

»Grauenvoll«, murmelt Joona.

Die Untersuchung des Feuers war dadurch erschwert worden, dass von dem Bauwagen, in dem man die sterblichen Überreste Stefan Bergkvists gefunden hatte, praktisch nichts übrig geblieben war. Nichts als ein schwelendes Bett aus Asche, schwarze Metallteile und stachlige Reste eines verkohlten Körpers in zusammengekrümmter Haltung hinter dem, was einmal die Tür gewesen war. Die vorläufige Theorie der Polizei basierte im Großen und Ganzen auf der Aussage des einzigen Zeugen, eines Lokführers, der die Feuerwehr alarmiert hatte. Er hatte das brennende Moped wie einen Keil vor dem Wagen liegen sehen. Alles in allem legten die Untersuchungsergebnisse nahe, dass sich der sechzehnjährige Stefan Bergkvist in dem alten Bauwagen aufgehalten hatte, als sein Moped unglücklicherweise so umkippte, dass es die Tür blockierte. Der Tankdeckel war nicht zugeschraubt, und das Benzin lief aus. Wodurch das Benzin Feuer fing, war zum Zeitpunkt des Berichts noch unklar, aber wahrscheinlich durch eine Zigarette.

»Palmcrona stirbt«, sagt Pollock langsam. »Er vermacht sein gesamtes Vermögen seinem Sohn, und drei Tage später ist der Sohn ebenfalls tot.«

»Das Erbe fällt an die Mutter?«, fragt Joona.

»Ja.«

Sie verstummen und hören die langsam schlurfenden Schritte im Korridor, ehe Tommy Kofoed Joonas Büro betritt.

»Ich habe Palmcronas Safe geöffnet«, erklärt der Kriminaltechniker. »Er hat darin so gut wie nichts aufbewahrt, nur das hier.«

Er hält ein hübsch eingebundenes Lederbuch in der Hand.

»Was ist das?«, fragt Pollock.

»Ein Lebensbericht«, antwortet Kofoed. »So etwas ist in seiner Gesellschaftsschicht nichts Ungewöhnliches.«

»Du meinst, eine Art Tagebuch?«

Kofoed zuckt mit den Schultern.

»Eher anspruchslose Memoiren, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Sie sollen im Grunde nur einen weiteren Teil zur Geschichte der Familie hinzufügen. Sie sind handschriftlich verfasst worden … Das Ganze beginnt mit einem Stammbaum, der Karriere seines Vaters, gefolgt von einer tristen Aneinanderreihung der eigenen Schullaufbahn, Examen, Militärdienst und berufliche Karriere … Er hat eine Reihe unglücklicher Investitionen getätigt, und seine finanziellen Verhältnisse verschlechterten sich ziemlich rasant, er hat Land und Immobilien verkauft. Das alles wird sehr trocken beschrieben …«

»Und der Sohn?«

»Die Beziehung zu Siv Bergkvist wird als Unfall beschrieben«, antwortet Tommy Kofoed und atmet tief durch. »Ziemlich schnell beginnt er jedoch, Stefan in seiner Lebensbeschreibung zu erwähnen, und in den Aufzeichnungen der letzten acht Jahre geht es um nichts anderes als um seinen Sohn. Er verfolgt das Leben des Jungen aus der Distanz, er weiß, in welche Schule er geht, wofür Stefan sich interessiert, mit welchen Freunden er sich trifft. Mehrfach erwähnt er, dass das Erbe wiederhergestellt werden soll. Anscheinend spart er sein ganzes Geld zugunsten seines Sohns. Am Ende schreibt er noch, dass er die Absicht hat, seinen Sohn aufzusuchen, sobald dieser achtzehn geworden ist, und hofft, dass sein Sohn ihm verzeihen und sie sich nach all den Jahren kennenlernen dürfen. Es ist das Einzige, woran er denkt … Und jetzt sind sie plötzlich beide tot.«

»Was für ein Albtraum«, murmelt Pollock.

»Was hast du gesagt?«, fragt Joona und blickt auf.

»Ich dachte nur, dass es wie ein Albtraum ist«, antwortet Pollock. »Er tut alles für die Zukunft seines Sohnes, und dann überlebt der Sohn seinen Vater am Ende nur um drei Tage und erfährt nicht einmal, wer sein Vater gewesen ist.«

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