23 Die Kriminaltechniker

Es ist Wochenende, aber Carlos Eliasson, der Chef der Landeskriminalpolizei, ist trotzdem in seinem Büro. Seine zunehmende Menschenscheu führt dazu, dass er sich immer stärker dagegen sperrt, spontane Besucher zu empfangen. Die Bürotür ist geschlossen, und eine rot leuchtende Lampe zeigt an, dass er nicht gestört werden will. Joona klopft an und tritt im selben Moment ein.

»Wenn die Wasserschutzpolizei etwas findet, will ich benachrichtigt werden«, erklärt er.

Carlos schiebt ein Buch auf seinem Schreibtisch von sich und erwidert ruhig:

»Jemand hat Erixon und dich angegriffen, so etwas nimmt einen mit, ihr müsst das erst einmal verarbeiten.«

»Das tun wir«, sagt Joona.

»Die Suche mit dem Hubschrauber ist beendet worden.«

Joona erstarrt.

»Beendet? Wie groß ist denn das Gebiet, das sie …«

»Das weiß ich nicht«, unterbricht Carlos ihn.

»Wer ist der Einsatzleiter?«

»Die Landeskriminalpolizei hat damit nichts zu tun«, sagt Carlos. »Die Wasserschutzpolizei und …«

»Aber es wäre für uns schon hilfreich zu erfahren, ob wir in einem oder drei Mordfällen ermitteln«, sagt Joona schneidend.

»Joona, du ermittelst im Moment gar nichts. Ich habe den Fall bei Jens Svanehjälm verankert. Wir stellen zusammen mit dem Staatsschutz ein Team zusammen. Für die Kripo wird Petter Näslund dabei sein, Tommy Kofoed stößt von der Landesmordkommission dazu und …«

»Welche Aufgabe übernehme ich?«

»Du nimmst dir eine Woche frei.«

»Nein.«

»Dann wirst du zur Polizeihochschule fahren und Vorlesungen halten müssen.«

»Nein.«

»Jetzt sei doch nicht so dickköpfig«, sagt Carlos. »Diese Sturheit ist nicht so charmant wie …«

»Ich scheiße auf dich«, sagt Joona. »Denn Penelope …«

»Du scheißt auf mich«, unterbricht Carlos ihn verblüfft. »Ich bin der Chef der …«

»Penelope Fernandez und Björn Almskog leben vielleicht noch«, fährt Joona mit harter Stimme fort. »Seine Wohnung ist ausgebrannt, und ihre wäre es auch, wenn ich nicht da gewesen wäre. Ich glaube, dass der Mörder nach etwas sucht, das die beiden haben, ich glaube, dass er versucht hat, etwas aus Viola herauszuquetschen, bevor er sie ertränkt hat …«

»Vielen Dank«, unterbricht Carlos ihn. »Danke für deine interessanten Überlegungen, aber wir haben … Nein, gib mir bitte eine Sekunde. Ich weiß, es fällt dir schwer, das zu akzeptieren, aber es gibt außer dir auch noch andere Polizisten, Joona. Und weißt du was, die meisten von ihnen sind sogar richtig gut.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagt Joona zögernd. »Und du solltest gut auf sie aufpassen, Carlos.«

Joona betrachtet die bräunlichen Flecken von Erixons Blut auf seinen Hemdärmeln.

»Wie meinst du das?«

»Ich bin dem Täter begegnet und glaube, dass wir bei diesen Ermittlungen mit dem Tod von Polizisten rechnen müssen.«

»Ihr seid überrumpelt worden. Ich verstehe, dass es furchtbar war …«

»Okay«, sagt Joona hart.

»Tommy Kofoed kümmert sich um die Untersuchung des Tatorts, und ich rufe bei Brittis in der Polizeihochschule an und sage ihr, dass du vorbeikommst und nächste Woche Gastvorlesungen hältst«, sagt Carlos.

Als Joona das Landeskriminalamt verlässt, schlägt ihm die Wärme entgegen. Er zieht sein Jackett aus und merkt, dass sich ihm jemand aus den Schatten im Park und auf der Straße zwischen den parkenden Autos hindurch nähert. Er dreht sich um und sieht, dass es Claudia Fernandez, Penelopes Mutter, ist.

»Joona Linna.« Sie wirkt angespannt.

»Frau Fernandez. Wie geht es Ihnen?«

Sie schüttelt nur den Kopf. Ihre Augen sind gerötet, in ihrem Gesicht spiegeln sich ihre quälenden Sorgen.

»Finden Sie Penelope, Sie müssen mein Mädchen finden«, sagt sie und reicht ihm einen prall gefüllten Umschlag.

Joona öffnet ihn und sieht, dass er voller Geldscheine ist. Er versucht, ihn zurückzugeben, aber sie will ihn nicht annehmen.

»Bitte, nehmen Sie das Geld. Es ist alles, was ich habe«, sagt sie. »Aber ich kann mehr beschaffen, ich kann das Haus verkaufen, Hauptsache, Sie finden sie.«

»Es tut mir leid, Frau Fernandez, aber ich kann Ihr Geld nicht annehmen«, sagt er.

»Bitte …«

Joona gibt Claudia Fernandez den Umschlag zurück, sie hält ihn abwesend in der Hand und murmelt schließlich, dass sie nach Hause gehen und am Telefon warten wird. Doch dann hält sie Joona noch einmal zurück und versucht, es ihm nochmals zu erklären.

»Ich habe ihr gesagt, dass sie zu Hause nicht willkommen ist … sie wird mich niemals anrufen.«

»Sie haben sich gestritten, davon geht die Welt nicht unter.«

»Aber wie konnte ich nur so etwas sagen? Können Sie das verstehen?«, fragt sie und schlägt sich mit den Fingerknöcheln hart gegen die Stirn. »Wer sagt so etwas zu seinem eigenen Kind?«

»Es ist so leicht passiert …«

Joonas Stimme erstirbt, am Rücken bricht ihm der Schweiß aus, und er zwingt sich, die aufflackernden Erinnerungsfragmente zu verdrängen.

»Ich ertrage das nicht«, sagt Claudia Fernandez leise.

Joona nimmt ihre Hände und sagt, dass er alles tun wird, was in seiner Macht steht.

»Sie müssen Ihre Tochter zurückbekommen«, flüstert er.

Sie nickt, dann trennen sich ihre Wege.

Joona eilt die Bergsgatan hinab und blinzelt in den Himmel, während er zu seinem Auto geht. Im letzten Sommer saß er im Krankenhaus und hielt die Hand seiner Mutter. Sie unterhielten sich wie üblich auf Finnisch. Er sagte, dass sie zusammen nach Karelien fahren würden, sobald es ihr besser ginge. Sie war dort geboren, in einem kleinen Dorf, das im Gegensatz zu vielen anderen im Zweiten Weltkrieg nicht von den Russen niedergebrannt worden war. Seine Mutter hatte erwidert, es sei wohl besser, wenn er mit einem von denen nach Karelien fahren würde, die auf ihn warteten.

Im »Il Caffè« kauft Joona eine Flasche San Pellegrino und leert sie, noch ehe er sich in das heiße Auto setzt. Das Lenkrad glüht, und der Sitz brennt im Rücken. Statt zur Polizeihochschule zu fahren, kehrt er in die Sankt Paulsgatan 3 zurück, zur Wohnung von Penelope Fernandez. Er denkt an den Mann, dem er in ihrer Wohnung begegnet ist. Seine Bewegungen sind ungewöhnlich schnell und genau gewesen, so als wäre sein Messer lebendig gewesen.

Rund um den Hauseingang sind blaue und weiße Plastikbänder mit den Worten »Polizei« und »Absperrung« gespannt.

Joona weist sich vor dem uniformierten Polizisten aus und schüttelt ihm anschließend die Hand. Sie sind sich sporadisch begegnet, haben aber nie zusammengearbeitet.

»Heiß heute«, sagt Joona.

»Soll das ein Witz sein?«, erwidert der Beamte.

»Wie viele Techniker sind vor Ort?«, fragt er und nickt zum Treppenhaus hinauf.

»Einer von uns und drei vom Staatsschutz«, antwortet der Polizeibeamte. »Man will möglichst schnell DNA sichern.«

»Sie werden keine finden«, sagt Joona eher zu sich selbst und steigt die Treppe hinauf.

Vor der Wohnungstür im dritten Stock steht Melker Janos, ein älterer Polizist. Er gehörte zu Joonas Ausbildern und ist ihm als gestresster und unangenehmer Vorgesetzter in Erinnerung geblieben. Damals war Melker dabei, Karriere zu machen, aber eine Scheidung und zeitweiliger Alkoholismus führten dazu, dass er wieder zum Streifenpolizisten degradiert wurde. Als er Joona sieht, grüßt er kurz und gereizt und öffnet ihm mit ironisch unterwürfiger Geste die Tür.

»Danke«, sagt Joona, ohne eine Antwort zu erwarten.

Direkt hinter der Tür steht Tommy Kofoed, der kriminaltechnische Koordinator der Landesmordkommission. Kofoed wirkt mürrisch in seiner gebückten Haltung. Er reicht Joona gerade einmal bis zur Brust. Als sich ihre Blicke begegnen, öffnet er den Mund zu einem fast kindlich fröhlichen Lächeln.

»Joona, schön dich zu sehen. Wolltest du nicht zur Polizeihochschule?«

»Hab mich verfahren.«

»Gut so.«

»Habt ihr was gefunden?«, fragt Joona.

»Wir haben alle Schuhabdrücke im Flur gesichert«, sagt er.

»Tja, die passen bestimmt zu meinen Schuhen«, sagt Joona und gibt ihm die Hand.

»Und zu denen des Angreifers«, erklärt Kofoed und lächelt noch breiter. »Wir haben mehrere hübsche Abdrücke sichern können. Er hat sich verdammt komisch bewegt – nicht wahr?«

»Ja«, antwortet Joona kurz.

Im Flur liegen Trittplatten auf dem Fußboden, damit keine Spuren kontaminiert werden, ehe sie gesichert worden sind. Auf einem Stativ steht eine Kamera, deren Objektiv auf den Fußboden gerichtet ist. Eine lichtstarke Lampe mit Aluminiumschirm liegt noch in einer Ecke. Die Kriminaltechniker haben mithilfe von Streiflicht, das fast parallel zum Boden fällt, nach unsichtbaren Schuhabdrücken gesucht. Danach haben sie die Schuhabdrücke elektrostatisch abgenommen und die Schritte des Täters von der Küche durch den Flur markiert.

Eigentlich ist dieses exakte Vorgehen überflüssig, denkt Joona. Schuhe, Handschuhe und Kleider des Täters sind aller Wahrscheinlichkeit nach bereits vernichtet, wahrscheinlich verbrannt worden.

»Wie ist er eigentlich gelaufen?«, fragt Kofoed und zeigt auf die Markierungen. Da, da … schräg rüber … und dann gibt es nichts mehr bis hier und hier.«

»Du hast einen Abdruck übersehen«, sagt Joona grinsend.

»Nie im Leben.«

»Da«, zeigt Joona.

»Wo?«

»Auf der Wand.«

»Das gibt’s doch nicht.«

Etwa siebzig Zentimeter über dem Fußboden erkennt man auf der Tapete einen schwachen Schuhabdruck. Tommy Kofoed ruft einen anderen Techniker hinzu und bittet ihn, einen Gelatineabdruck zu sichern.

»Kann man jetzt über den Boden gehen?«, erkundigt sich Joona.

»Solange du nicht über die Wände gehst«, antwortet Kofoed.

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