110 An Bord

Joona Linna steht mit einem Fernglas neben Pasi Rannikko und dem Offizier mit dem blonden Bart. Sie überwachen die riesige Luxusjacht, die ruhig auf dem Meer liegt. Der Wind ist im Tagesverlauf abgeflaut. Die italienische Flagge hängt schlaff herab. Auf dem Schiff scheint es keine Aktivitäten zu geben. Es ist, als wären Besatzung und Passagiere in einen Dornröschenschlaf gefallen. Es herrscht Windstille auf der Ostsee, das Wasser spiegelt den weiten hellblauen Himmel. Immer seltener sorgt die langsame Dünung dafür, dass sich die glatte Fläche ein wenig hebt.

Plötzlich klingelt es in Joonas Tasche. Er reicht das Fernglas an Niko weiter, nimmt sein Handy und meldet sich.

»Wir haben eine Zeugin«, schreit Saga Bauer ins Telefon. »Das Mädchen ist unsere Zeugin, sie hat alles gesehen. Axel Riessen ist gekidnappt worden, der Staatsanwalt hat schon reagiert, ihr dürft an Bord gehen und nach ihm suchen!«

»Gute Arbeit«, sagt Joona angespannt.

Pasi Rannikko sieht ihn an, als er das Telefon zuklappt.

»Wir haben einen Haftbefehl gegen Raphael Guidi«, sagt Joona. »Er steht unter dem dringenden Tatverdacht der Freiheitsberaubung.«

»Ich nehme Kontakt zur FNS Hanko auf«, sagt Pasi Rannikko und eilt zum Funkgerät neben dem Steuer.

»Sie werden in zwanzig Minuten hier sein«, sagt Niko.

»Wir fordern Verstärkung an«, ruft Pasi Rannikko ins Mikrofon. »Uns liegt eine Anweisung der Staatsanwaltschaft vor, unverzüglich an Bord von Raphael Guidis Jacht zu gehen und ihn zu ergreifen … Ja, das ist korrekt … Ja … Beeilt euch! Kommt, so schnell ihr könnt!«

Joona blickt erneut durch das Fernglas, sieht die weiß lackierte Treppe achtern an der Plattform, schaut am unteren Deck vorbei und zum Achterdeck mit den geschlossenen Sonnenschirmen. Er versucht, etwas in den dunklen Fenstern des Speisesaals zu erkennen, aber sie sind einfach nur schwarz. Seine Augen folgen der Reling, die um das Schiff herumläuft, und schweifen dann zur nächsten Treppe, die zum großen Sonnendeck hinaufführt.

Wabernde Luft entströmt den Belüftungsschächten auf dem Dach der Kommandobrücke. Joona richtet das Fernglas auf die schwarzen Fenster und hält inne. Durch das Glas meint er eine Bewegung zu sehen. Etwas Weißes rutscht über die Innenseite der Scheibe. Erst denkt er an einen riesigen Flügel, gebogene Federn, die gegen das Glas gepresst werden.

In der nächsten Sekunde ähnelt es Stoff oder weißem Plastik, der zusammengefaltet wird.

Joona blinzelt, um besser sehen zu können, und begegnet plötzlich einem Gesicht, das zurückstarrt und ein Fernglas an die Augen hebt.

Die Stahltür zur Kommandobrücke der Jacht wird geöffnet, und ein blonder Mann in dunklen Kleidern tritt heraus, geht mit schnellen Schritten eine Treppe hinunter und auf das Vordeck hinaus.

Es ist das erste Mal, dass Joona an Bord von Raphael Guidis Jacht jemanden sieht.

Der dunkel gekleidete Mann steigt auf den Landeplatz hinauf und eilt zum Hubschrauber, löst die Spannriemen um die Kufen und öffnet die Tür zum Cockpit.

»Sie hören unseren Funkverkehr ab«, sagt Joona.

»Wir wechseln den Kanal«, ruft Pasi Rannikko.

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, erklärt Joona. »Sie bleiben nicht auf dem Schiff, sie scheinen den Hubschrauber nehmen zu wollen.«

Er reicht das Fernglas an Niko weiter.

»In fünfzehn Minuten ist unsere Verstärkung da«, sagt Pasi Rannikko.

»Sie kommt zu spät«, erwidert Joona.

»Es sitzt jemand im Hubschrauber«, bestätigt Niko.

»Raphael Guidi hat erfahren, dass wir die Erlaubnis des Staatsanwalts haben, an Bord zu gehen«, sagt Joona. »Er muss die Information zur selben Zeit bekommen haben wie wir.«

»Sollen wir zwei an Bord gehen?«, fragt Niko.

»Anders geht es wohl nicht«, sagt Joona und wirft ihm einen kurzen Blick zu.

Niko drückt ein Magazin in ein Sturmgewehr, das schwarz ist wie Öl, ein Heckler & Koch 416 mit kurzem Lauf.

Pasi Rannikko zieht seine Pistole aus dem Halfter und reicht sie Joona.

»Danke«, sagt Joona, kontrolliert die Munition und geht die Waffe anschließend schnell durch, um sie ein wenig kennenzulernen. Es ist eine M9A1, halbautomatisch. Sie ähnelt der M9, die im Golfkrieg benutzt wurde, aber das Magazin sieht etwas anders aus und sie ist mit einer Halterung für eine Lampe und ein Laserzielgerät ausgestattet.

Wortlos steuert Pasi Rannikko zur Plattform am Achterdeck der Luxusjacht, die knapp über der Wasserlinie liegt. Als sie anlegen, kommt ihnen die Jacht so riesig vor wie ein Hochhaus. Der Motor wird auf Gegenschub gestellt und bremst schäumend. Niko hängt die schützenden Fender über die Reling, die Rümpfe stoßen gegeneinander, es knirscht.

Joona geht an Bord, die Boote gleiten wieder auseinander, Wasser schwappt zwischen ihnen hoch, Niko springt, und Joona packt seine Hand. Das Sturmgewehr stößt klingend gegen das Geländer. Sie sehen sich kurz in die Augen und gehen anschließend zur Treppe, zwängen sich an einigen kaputten Korbstühlen und alten Weinkisten vorbei und steigen die Treppe hoch.

Niko dreht sich um und winkt Pasi Rannikko zu, der von der Jacht fortsteuert.

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