22 Das Unfassbare

An der Rekylgatan in Västerås liegt ein lang gestrecktes, leuchtend weißes Hochhaus. Wer in diesem Häuserblock wohnt, hat es nicht weit zur Lillhagsschule, zum Fußball- und zum Tennisplatz.

Aus dem Eingang von Hausnummer 1 tritt ein junger Mann mit einem Motorradhelm in der Hand. Sein Name ist Stefan Bergkvist, und er ist knapp siebzehn Jahre alt, besucht den mechatronischen Zweig des Gymnasiums und wohnt mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten zusammen.

Er hat lange blonde Haare und einen Silberring in der Unterlippe, trägt ein schwarzes T-Shirt und Baggy Pants, deren Saum von den Turnschuhen kaputt getreten sind.

Gemächlich schlendert er zum Parkplatz, hängt den Helm an den Lenker seines Motocrossmotorrads und fährt langsam auf dem Fußweg um das Haus herum, dann parallel zu den zweispurigen Eisenbahngleisen, durch die Unterführung unter der nördlichen Umgehungsstraße hindurch in das große Industriegebiet. Dort hält er neben einem Bauwagen, der mit blauen und silberfarbenen Graffiti bemalt ist.

Stefan und seine Freunde treffen sich hier regelmäßig und fahren Rennen auf der Motorcrossstrecke, die sie am Bahnwall angelegt haben, sie fahren über die verschiedenen Nebengleise und zurück zum Terminalvägen.

Vier Jahre kommen sie schon an diesen Ort, seit sie den Schlüssel zu dem Bauwagen an einem Nagel an der Rückseite zwischen den Disteln gefunden haben. Der Bauwagen steht dort seit fast zehn Jahren. Aus irgendeinem Grund wurde er nach dem Bau einer großen Fabrik vergessen.

Stefan lässt sein Motorrad stehen. Er schließt das Vorhängeschloss auf, klappt den Stahlriegel herunter und öffnet die Holztür. Er betritt den Wagen, schließt die Tür hinter sich, schaut auf die Uhrzeit im Display seines Handys und sieht, dass seine Mutter angerufen hat.

Er merkt nicht, dass er von einem etwa sechzigjährigen Mann in einer grauen Wildlederjacke und hellbrauner Hose beobachtet wird. Der Mann steht hinter einem Müllcontainer neben einem flachen Industriebau auf der anderen Seite der Bahnstrecke.

Stefan geht zur Miniküche, greift nach einer Chipstüte, die in der Spüle liegt, schüttelt die letzten Krümel in seine Hand und isst sie.

Durch zwei schmutzige, vergitterte Fenster fällt Licht in den Bauwagen.

Stefan wartet auf seine Freunde und blättert ein wenig in einer der alten Zeitschriften, die auf dem Zeichenschrank liegen geblieben sind. Auf dem Titelblatt der Illustrierten »Lektyr« mit der Schlagzeile »Super, man lässt sich lecken und wird auch noch dafür bezahlt!« sieht man eine junge Frau mit nackten Brüsten.

Ohne Eile verlässt der Mann in der Wildlederjacke sein Versteck, geht an einem Hochspannungsmast mit herunterhängenden Stromleitungen vorbei und überquert den Bahndamm. Er geht zu Stefans Motorrad, klappt den Ständer hoch und rollt es zur Tür des Bauwagens.

Der Mann sieht sich um und legt anschließend das Motorrad vor die Tür des Bauwagens und drückt es mit dem Fuß fest dagegen, sodass es die Tür verkeilt. Anschließend schraubt er den Tankdeckel ab und lässt das Benzin unter den Bauwagen laufen.

Stefan blättert weiter in der alten Illustrierten, betrachtet die vergilbten Fotos von Frauen in Gefängniskulisse. Eine Blondine sitzt mit weit gespreizten Schenkeln in einer Zelle und zeigt einem Wärter ihr Geschlecht. Stefan starrt das Bild an und zuckt zusammen, als von draußen ein rasselndes Geräusch an sein Ohr dringt. Er lauscht, glaubt Schritte zu hören und schlägt hastig die Illustrierte zu.

Der Mann in der Wildlederjacke hat den roten Benzinkanister herausgezogen, den die Jungen im Unkraut neben dem Bauwagen versteckt haben, und leert ihn rund um den Bauwagen. Erst als er sich schon auf der Rückseite befindet, hört man aus dem Wageninneren die ersten Rufe. Der Junge hämmert gegen die Tür und versucht, sie zu öffnen, seine stapfenden Schritte sind zu hören, und sein ängstliches Gesicht taucht undeutlich hinter einem der schmutzigen Fenster auf.

»Machen Sie die Tür auf, das ist nicht witzig«, sagt er mit lauter Stimme.

Der Mann in der Wildlederjacke setzt seinen Weg rund um den Bauwagen fort, schüttet die letzten Tropfen Benzin aus und stellt den Kanister anschließend an seinen Platz zurück.

»Was tun Sie da?«, ruft der Junge.

Er wirft sich gegen die Tür und versucht, sie aufzutreten, aber sie rührt sich nicht. Er ruft seine Mutter an, aber ihr Telefon ist ausgeschaltet. Sein Herz pocht angstvoll, als er versucht, durch die grauen Striemen auf dem Glas etwas zu erkennen, und geht von einem Fenster zum anderen.

»Sind Sie verrückt?«

Als ihm plötzlich der beißende Geruch der Benzindämpfe in die Nase steigt, wallt das Grauen in seinem Körper auf, und sein Magen krampft sich zusammen.

»Hallo?«, ruft er mit ängstlicher Stimme. »Ich weiß, dass Sie noch da sind!«

Der Mann zieht eine Streichholzschachtel aus der Tasche.

»Was wollen Sie, bitte, sagen Sie mir doch einfach, was Sie von mir wollen …«

»Es ist nicht deine Schuld, aber ein Albtraum muss in Erfüllung gehen«, sagt der Mann, ohne die Stimme zu erheben, und reißt ein Streichholz an.

»Lassen Sie mich raus!«, schreit der Junge.

Der Mann wirft das Streichholz ins feuchte Gras. Es seufzt auf, als führe der Wind blitzschnell in ein großes Segel. Hellblaue Flammen schlagen mit solcher Kraft in die Höhe, dass der Mann mehrere Schritte zurückweichen muss. Der Junge ruft um Hilfe. Die Flammen schließen sich um den Bauwagen. Der Mann tritt weiter zurück, spürt die Hitze auf seinem Gesicht und hört die panischen Schreie.

Der Wagen steht binnen weniger Sekunden lichterloh in Flammen, und durch die Hitze zerspringen die Fensterscheiben hinter den Gittern.

Als die Hitze die Haare auf seinem Kopf in Brand setzt, brüllt der Junge auf.

Der Mann überquert den Bahndamm, stellt sich neben das Industriegebäude und sieht den alten Bauwagen wie eine Fackel brennen. Einige Minuten später nähert sich aus nördlicher Richtung ein Güterzug. Langsam rollt er auf dem Gleis heran, ratternd und knarrend passiert die lange Reihe brauner Waggons die hohen Flammen, während der Mann in der grauen Wildlederjacke sich auf der Stenbygatan entfernt.

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