85 Die Jagd der Gejagten

Penelope hat zittrige Beine, eine Hand hat sie auf den Zaun gelegt und den Blick gesenkt. Sie muss gegen den Impuls ankämpfen, sich zu übergeben. Das Bild aus der Herrentoilette wabert vor ihren Augen. Das weggesprengte Gesicht, die Zähne und das Blut.

Das Gewicht der Schutzweste weckt in ihr den Wunsch, sich einfach auf die Erde zu setzen. Die Geräusche in ihrer Umgebung kehren in Wellen zurück. Sie hört die heulenden Sirenen des zweiten Krankenwagens. Polizisten schreien sich an, sprechen sich über Funk ab. Sie sieht die Rettungssanitäter mit einer Trage aus dem Haus laufen. Es ist der Mann aus der Herrentoilette. Sein Gesicht ist verbunden worden, aber das Blut dringt durch die Kompressen.

Begleitet von einer Krankenschwester geht Saga auf Penelope zu und teilt ihr mit, sie habe das Gefühl, Penelope stehe wieder unter Schock.

»Das war er nicht«, sagt Penelope unter Tränen, als die beiden Frauen eine Decke um sie legen.

»Der Arzt kommt gleich und kümmert sich um Sie«, sagt die Krankenschwester, »aber ich kann Ihnen vorab schon einmal etwas Beruhigendes geben. Ist Ihre Leber erkrankt?«

Als Penelope den Kopf schüttelt, gibt die Krankenschwester ihr eine blaue Kapsel.

»Sie muss im Ganzen geschluckt werden … Es ist ein halbes Milligramm Xanor«, erläutert sie.

»Xanor«, wiederholt Penelope und betrachtet das Medikament in ihrer Hand.

»Es wirkt beruhigend und ist völlig unbedenklich«, beteuert die Krankenschwester und eilt davon.

»Ich hole Wasser«, meint Saga und geht zu einem Einsatzwagen.

Penelope hat kalte Finger. Sie schaut auf ihre Hand und die kleine blaue Kapsel hinab.

Joona Linna ist noch im Gebäude. Die Helfer kommen mit immer neuen, rußbedeckten und hustenden Menschen aus der Botschaft. Die geschockten Diplomaten sammeln sich am Zaun zur japanischen Botschaft und warten darauf, ins Karolinska-Krankenhaus gebracht zu werden. Eine Frau in einem dunkelblauen Rock und einer Strickjacke sinkt zu Boden und weint hemmungslos. Eine Polizistin setzt sich zu ihr, legt den Arm um sie und spricht beruhigend auf sie ein. Einer der Diplomaten leckt sich die Lippen und wischt seine Hände immer wieder an einem Handtuch ab, als wollten sie einfach nicht sauber werden. Ein älterer Mann in einem knittrigen Anzug telefoniert mit starrem Gesicht. Der Militärattaché, eine Frau mittleren Alters mit rot gefärbten Haaren, hat ihre Tränen fortgewischt und versucht, schlafwandlerisch zu helfen. Den Blick nach innen gekehrt hält sie einen Beutel mit Blutersatz, während Rettungssanitäter einen Patienten umbetten.

Ein Mann mit verbundenen Brandwunden an den Händen, der gerade eben noch mit einer Decke um die Schultern auf dem Boden saß und die Hände vors Gesicht gelegt hatte, steht auf. Die Decke ist zu Boden gefallen, und er geht langsam am Zaun entlang den asphaltierten Weg hinauf.

Ein Militärpolizist hat eine Hand um einen Fahnenmast gelegt und weint.

Der Mann mit den verbrannten Händen geht im klaren Morgenlicht weiter, biegt um die Ecke und rechts in die Gärdesgatan.

Penelope ringt plötzlich nach Luft. Wie eine Injektion mit eiskaltem Wasser schießt eine beängstigende Erkenntnis durch ihren Körper. Sie hat zwar sein Gesicht nicht gesehen, wohl aber seinen Rücken. Der Mann mit den verletzten Händen. Sie weiß, dass er ihr Verfolger ist, der Mann, der soeben zu jener großen, unbebauten Grünfläche am Rand der Stockholmer Innenstadt geht, die Gärdet genannt wird, der soeben von den Polizisten und Krankenwagen fortschlendert. Sie braucht sein Gesicht nicht zu sehen, denn sie hat seinen Rücken und Nacken schon einmal gesehen, unter der Skurusunds-Brücke, als Viola und Björn noch lebten.

Penelope öffnet ihre Hand und lässt die blaue Kapsel fallen.

Mit pochendem Herzen folgt sie ihm, biegt in die Gärdesgatan ein, lässt die Decke fallen, genau wie er es getan hat, und beschleunigt ihre Schritte. Als sie ihn mit müden Bewegungen zwischen die Bäume des Wäldchens direkt vor ihr eilen sieht, läuft sie los. Er wirkt schwach, leidet vermutlich unter dem Blutverlust durch die Schussverletzung an seiner Schulter, sie weiß, dass er ihr nicht davonlaufen können wird. Krähen heben von den Baumwipfeln ab und flattern davon. Penelope erreicht die Bäume, ist voller Kraft, geht mit großen Schritten durchs Gras und sieht ihn fünfzig Meter vor sich. Er stolpert und stützt sich mit einer Hand an einem Baumstamm ab. Eine Kompresse löst sich und hängt locker um seine Finger. Sie läuft ihm hinterher und sieht ihn das kleine Wäldchen verlassen und ins Sonnenlicht auf der weiten Grasfläche humpeln. Ohne stehen zu bleiben, zieht sie die Pistole, die Joona Linna an ihrem Rücken platziert hat, sieht sie an, entsichert sie, läuft zwischen den Bäumen weiter, wird langsamer und zielt mit ausgestrecktem Arm auf seine Beine.

»Stehen bleiben«, flüstert sie und drückt ab.

Der Schuss löst sich, der Rückstoß fährt durch Arm und Schulter, Pulverspritzer brennen auf ihrem Handrücken.

Die Kugel verschwindet im Nichts, und Penelope sieht, dass der Verfolger versucht, schneller zu laufen.

Du hättest meine Schwester nicht anrühren sollen, denkt sie.

Der Mann überquert einen Fußweg, bleibt stehen, hält sich die Schulter und eilt anschließend weiter über das Gras.

Penelope läuft, gelangt in die Sonne hinaus, überquert denselben Fußweg, den der Mann kurz zuvor hinter sich gelassen hat, und hebt erneut die Waffe.

»Stehen bleiben«, ruft sie.

Sie schießt und sieht die Kugel zehn Meter vor ihm die Grasnarbe aufreißen. Penelope spürt das Adrenalin in ihren Adern, ist vollkommen klar und konzentriert. Sie zielt auf seine Beine und schießt. Sie hört den Knall, spürt den Rückstoß und sieht die Kugel in seine Kniekehle eintreten und durch die Kniescheibe austreten. Er schreit vor Schmerz auf und fällt ins Gras, versucht weiterzukommen, aber sie nähert sich ihm, eilt mit großen Sätzen auf ihn zu und sieht ihn zu einer einsamen Birke kriechen.

Bleib stehen, denkt Penelope und hebt erneut die Pistole. Du hast Viola getötet, du hast sie in einem Zuber ertränkt, und du hast Björn getötet.

»Du hast meine kleine Schwester ermordet«, wiederholt sie laut und schießt.

Der Schuss trifft seinen linken Fuß, Blut spritzt ins Gras.

Als Penelope ihn erreicht, sitzt er mit dem Rücken an den Baum gelehnt, sein Kopf hängt herab, das Kinn ruht auf der Brust. Er blutet stark, atmet keuchend wie ein Tier, bleibt ansonsten jedoch stumm.

Sie bleibt im Schatten unter dem Baum breitbeinig vor ihm stehen und zielt mit der Pistole auf ihn.

»Warum?«, fragt sie leise. »Warum ist meine Schwester tot, warum ist …«

Sie verstummt, schluckt, beugt sich vor und fällt vor ihm auf die Knie, um sein Gesicht zu sehen.

»Ich will, dass du mich ansiehst, wenn ich schieße.«

Der Mann befeuchtet seinen Mund und versucht, den Kopf zu heben. Er ist zu schwer, es geht nicht. Wegen des Blutverlusts wird er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Sie zielt mit der Pistole auf ihn, hält erneut inne, streckt die andere Hand aus, hebt sein Kinn und betrachtet ihn. Sie muss die Zähne zusammenbeißen, als sie die müden Züge wiedersieht, das Gesicht, das sie durch den Regen auf Kymmendö gesehen hat. Jetzt entsinnt sie sich auch wieder seiner ruhigen Augen und der tiefen Narbe über dem Mund. In diesem Moment ist er genauso ruhig wie damals. Penelope denkt noch, wie seltsam es ist, dass er nicht die geringste Angst vor ihr zeigt, als er sie plötzlich angreift. Er bewegt sich überraschend schnell, bekommt ihre Haare zu fassen und reißt Penelope an sich. Es ist so viel Kraft in seinem Arm, dass sie nach vorn fällt und mit der Stirn gegen seine Brust stößt. Ehe sie sich bewegen kann, greift er um, packt ihr Handgelenk und entwindet ihr die Waffe. Mit aller Kraft stößt sie sich mit den Armen ab und strampelt, fällt im Gras nach hinten, und als sie wieder aufblickt, zielt er schon auf sie und feuert kurz hintereinander zwei Schüsse ab.

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