65 Was die Augen gesehen haben

Fünf Etagen unter dem modernsten Teil des Landespolizeiamts befindet sich ein Gebäudetrakt mit zwei Wohnungen, acht Gästezimmern und zwei Schlafsälen. Die Abteilung wurde eingerichtet, um in Krisensituationen, im Falle eines Ausnahmezustands oder im Katastrophenfall für die Polizeiführung die Möglichkeit einer sicheren Unterkunft zu garantieren. Seit zehn Jahren werden diese Gästezimmer zudem bei außergewöhnlichen Bedrohungen zum Schutz von Zeugen genutzt.

Penelope Fernandez liegt auf dem Krankenhausbett und spürt die Kühle in ihren Arm eindringen, als die Tropfgeschwindigkeit erhöht wird.

»Wir führen Ihnen Flüssigkeit und flüssige Nahrung zu«, erläutert die Ärztin Daniella Richards.

Mit sanfter Stimme erläutert sie anschließend, was sie tut, während sie die Kanüle in Penelopes Armbeuge festklebt.

Penelopes Wunden sind gesäubert und verbunden worden, der verletzte linke Fuß ist mittlerweile bandagiert und genäht worden, die Risswunde am Rücken gewaschen und getaped, während eine tiefe Wunde an der Hüfte mit acht Stichen genäht werden musste.

»Ich würde ihnen gegen die Schmerzen gerne etwas Morphium geben.«

»Mutter«, flüstert Penelope und befeuchtet ihre Lippen. »Ich möchte mit meiner Mutter sprechen.«

»Das verstehe ich«, antwortet Daniella. »Ich werde es weitergeben.«

Warme Tränen laufen Penelopes Wangen herab, in Haare und Ohren. Sie hört, wie die Ärztin eine Krankenschwester bittet, eine Injektion von 0,5 Milliliter Morphium-Skopolamin vorzubereiten.

Der Raum sieht aus wie ein gewöhnliches Krankenhauszimmer, ist möglicherweise jedoch ein wenig gepflegter. Auf dem Nachttisch steht ein einfacher Blumenstrauß, an den gelb gestrichenen Wänden hängen helle Bilder. Ein hübsches Bücherregal aus hellem Birkenholz steht voll gelesener Bücher. An diesem Ort haben Menschen unübersehbar viel Zeit zum Lesen gehabt. Der Raum hat keine Fenster, aber hinter einem Vorhang brennt eine Lampe, um von dem Gefühl abzulenken, dass man sich tief unter der Erde in einem Bunker befindet.

Daniella Richards erklärt Penelope freundlich, dass man sie jetzt in Ruhe lassen wird, sie aber jederzeit auf den leuchtenden Alarmknopf drücken kann, falls sie Hilfe benötigen sollte.

»Für den Fall, dass Sie etwas fragen wollen oder einfach ein wenig Gesellschaft brauchen, wird die ganze Zeit jemand hier sein«, sagt sie.

Penelope Fernandez bleibt allein in dem hellen Zimmer. Die warme Ruhe des Morphiums breitet sich in ihrem Körper aus und zieht sie in einen angenehmen Schlaf herab, und sie schließt die Augen.

Es knirscht leise, als eine Frau in einem schwarzen Niqab zwei kleine Figuren aus sonnengetrocknetem Lehm zertritt. Ein Mädchen und sein kleiner Bruder werden unter ihrer Sandale zu Krümeln und Staub. Die Frau mit dem Schleier trägt eine schwere Last aus Getreide auf dem Rücken und merkt nicht einmal, was sie da tut. Zwei Jungen pfeifen, lachen und johlen, dass die Sklavenkinder tot sind, dass nur noch ein paar Säuglinge übrig sind und alle Fur sterben werden.

Penelope verdrängt die Erinnerungsbilder aus Kubbum aus ihrem Gehirn und kurz vor dem Einschlafen hat sie für einen Moment das Gefühl, dass tonnenweise Stein, Erde, Lehm, Beton auf ihr lasten. Es ist, als fiele sie senkrecht in die Eingeweide der Erde, als fiele und fiele und fiele sie.


Penelope Fernandez wacht auf, ist aber noch zu schwach, um ihre Augen zu öffnen, das Morphium macht ihren Körper schwer. Sie erinnert sich, dass sie in einem geschützten Raum tief unter dem Landespolizeiamt in einem Krankenhausbett liegt. Sie muss nicht mehr fliehen. Auf die erste Erleichterung folgt eine große Welle aus Schmerz und Sehnsucht. Sie weiß nicht, wie lange sie geschlafen hat, denkt, dass sie wieder wegdämmern könnte, öffnet aber trotzdem die Augen.

Sie schlägt die Augen auf, aber in dem unterirdischen Raum herrscht völlige Finsternis.

Sie blinzelt, sieht jedoch nichts. Nicht einmal der Alarmknopf neben ihrem Bett leuchtet. Es muss einen Stromausfall gegeben haben. Sie will schreien, zwingt sich jedoch, still zu bleiben, als die Tür zum Flur plötzlich klickt. Sie starrt in die Dunkelheit hinein und hört ihr Herz hämmern. Es kribbelt in ihrem Körper, jeder Muskel ist angespannt. Jemand berührt ihr Haar. Fast unmerklich. Sie bleibt ruhig liegen und spürt, dass jemand neben ihrem Bett steht und ihr ganz zärtlich über die Haare streicht. Langsam werden Finger in ihre Locken geflochten. Sie will gerade zu Gott beten, als der Mensch neben dem Bett fest ihre Haare packt und sie aus dem Bett zerrt. Sie schreit, als er sie mit großer Kraft gegen die Wand wirft, sodass der Bilderrahmen zersplittert und der Infusionsständer umkippt. Umgeben von Glasscherben, stürzt sie zu Boden. Er hält weiter ihre Haare fest, schleift sie zurück, dreht sie herum, schlägt ihr Gesicht auf das festgestellte Rad des Betts und zieht anschließend ein Messer mit einer schwarzen Klinge. Penelope wird davon wach, dass sie aus dem Bett fällt, die Tür aufgeht und eine Krankenschwester herbeieilt. Alle Lampen sind an, und Penelope wird klar, dass sie einen Albtraum hatte. Man hilft ihr wieder ins Bett, die Krankenschwester redet beruhigend auf sie ein und befestigt anschließend Gitter an beiden Seiten des Betts, um zu verhindern, dass sie noch einmal herausfällt.

Der Schweiß auf ihrem Körper erkaltet nach einer Weile. Sie ist unfähig, sich zu bewegen, ihre Arme bekommen eine Gänsehaut. Sie liegt mit dem Alarmknopf in der Hand auf dem Rücken und starrt zur Decke hinauf, als es an die Tür klopft. Eine junge Frau, in deren taillenlange Haare bunte Bändchen eingeflochten sind, tritt ein und sieht sie mit sanftem Ernst an. Hinter ihr steht ein großer Mann mit zerzausten blonden Haaren und einem freundlichen, symmetrischen Gesicht.

»Ich heiße Saga Bauer«, stellt sich die Frau vor. »Ich bin vom Staatsschutz. Das hier ist mein Kollege Joona Linna von der Landeskriminalpolizei.«

Penelope betrachtet die beiden, ohne eine Miene zu verziehen, senkt anschließend den Blick und betrachtet ihre verbundenen Arme, alle Schürfwunden und blauen Flecken und die Kanüle in der Armbeuge.

»Es tut uns sehr leid, was Ihnen in den letzten Tagen zugestoßen ist«, sagt die Frau. »Wir haben volles Verständnis dafür, dass Sie einfach nur Ihre Ruhe haben wollen, aber wir werden uns dennoch in der nächsten Zeit einige Male unterhalten müssen und die ersten Fragen müssen wir Ihnen leider schon jetzt stellen.«

Saga Bauer zieht den Stuhl von dem kleinen Schreibtisch herüber und setzt sich neben die Bettkante.

»Er ist immer noch hinter mir her, nicht wahr?«, fragt Penelope kurz darauf.

»Hier sind Sie sicher«, antwortet Saga ihr.

»Sagen Sie mir, dass er tot ist.«

»Penelope, wir müssen …

»Sie konnten ihn nicht stoppen«, sagt sie schwach.

»Wir werden ihn ergreifen, das verspreche ich Ihnen«, erwidert Saga Bauer. »Aber Sie müssen uns helfen.«

Penelope seufzt schwer und schließt die Augen.

»Wir wissen, wie schwierig das für Sie ist, aber auf einige Fragen müssen wir eine Antwort bekommen«, fährt Saga fort. »Wissen Sie, warum das alles passiert ist?«

»Fragen Sie Björn«, murmelt Penelope. »Er weiß es vielleicht.«

»Was haben Sie gesagt?«, fragt Saga.

»Ich habe gesagt, dass Sie Björn fragen sollen«, flüstert Penelope und öffnet langsam die Augen. »Fragen Sie Björn, er weiß es möglicherweise.«

Spinnen und anderes Getier müssen aus dem Wald mitgekommen sein, sie laufen über Penelopes Haut, und sie kratzt sich an der Stirn, aber Saga nimmt ruhig ihre Hände.

»Sie sind gejagt worden«, meint Saga. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich das gewesen sein muss, aber wir müssen wissen, ob Sie den Verfolger erkannt haben. Sind Sie ihm früher schon einmal begegnet?«

Penelope schüttelt unmerklich den Kopf.

»Das haben wir auch nicht erwartet. Können Sie den Mann eventuell beschreiben, hatte er vielleicht ein Tattoo, besondere Kennzeichen?«

»Nein«, wispert Penelope.

»Aber vielleicht können Sie uns helfen, ein Phantombild zu erstellen, wir brauchen gar nicht viel, um über Interpol nach ihm fahnden zu lassen.«

Der Mann von der Landeskriminalpolizei nähert sich ihr, und seine eigentümlich hellgrauen Augen sind wie Steine, die in einem Bach abgeschliffen wurden.

»Es sah so aus, als hätten Sie eben den Kopf geschüttelt«, sagt er, »als Saga Bauer sie gefragt hat, ob Sie Ihrem Verfolger früher schon einmal begegnet sind – stimmt das?«

Penelope nickt.

»Dann müssen Sie ihn gesehen haben«, fährt Joona fort. »Sonst könnten Sie nicht wissen, dass Sie ihm vorher noch nie begegnet sind.«

Penelope starrt ins Leere und erinnert sich, dass sich der Mörder immer bewegte, als hätte er alle Zeit der Welt, trotzdem passierte alles schrecklich schnell. Sie sieht vor sich, wie er auf die Knie ging und zielte, als sie am Rettungsseil des Hubschraubers hing. Keine Eile, keine Nervosität. Sie sieht erneut sein Gesicht vor sich, als er vom Blitz beleuchtet wurde, als sie sich unverwandt ansahen.

»Uns ist bewusst, dass Sie Angst haben«, fährt Joona fort. »Aber wir …«

Er verstummt, als eine Krankenschwester den Raum betritt und erklärt, dass sie Penelopes Mutter nicht erreichen können.

»Sie ist nicht zu Hause und geht nicht an ihr …«

Penelope schluchzt, dreht sich fort und verbirgt das Gesicht im Kissen. Die Krankenschwester legt eine tröstende Hand auf ihre Schulter.

»Ich will nicht«, sagt Penelope weinend. »Ich will nicht …«

Eine andere Krankenschwester kommt dazu und sagt, dass sie über den Tropf ein angsthemmendes Mittel verabreichen wird.

»Ich muss Sie bitten zu gehen«, sagt die Krankenschwester zu Saga und Joona.

»Wir kommen später wieder«, erklärt Joona. »Ich glaube, ich weiß, wo Ihre Mutter ist. Ich kümmere mich darum.«

Penelope weint nicht mehr, atmet aber noch immer schnell. Sie hört die Krankenschwester die Infusion vorbereiten und denkt, dass der Raum an eine Gefängniszelle erinnert. Ihre Mutter wird niemals herkommen wollen. Sie beißt die Zähne zusammen und versucht für eine Weile, gegen ihre Tränen anzukämpfen.

Es gibt Momente, in denen sich Penelope an ihre ersten Lebensjahre zu erinnern glaubt. Der Geruch schmutziger verschwitzter Körper kann sie schlagartig in die Zelle zurückkatapultieren, in der sie geboren wurde, und zu dem Licht einer Taschenlampe, die über die Gesichter der Gefangenen huscht, woraufhin ihre Mutter sie an jemand anderen übergibt, der sofort weiter leise und beruhigend in ihr Ohr singt, während ihre Mutter zwischen den Wächtern verschwindet.

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