48 Die Brautkrone

Es erweist sich als schwierig, bei Silencia Defence AB jemanden an den Apparat zu bekommen. Alle verfügbaren Telefonnummern erweisen sich als verschiedene Eingänge zum immer gleichen Labyrinth aus Informationen vom Band. Am Ende findet Saga trotzdem einen Durchschlupf, indem sie die Ziffer Neun plus Stern wählt, um persönlichen Kontakt mit dem Vertriebschef des Unternehmens aufzunehmen. Sie wird mit seiner Sekretärin verbunden, ignoriert deren Fragen und bringt ihr Anliegen vor. Die Sekretärin verstummt zunächst und erklärt dann, Saga müsse sich verwählt haben, außerdem sei im Haus niemand mehr zu erreichen.

»Ich muss Sie bitten, es morgen zwischen neun und elf noch einmal zu versuchen und …«

»Bereiten Sie Pontus Salman einfach darauf vor, dass er heute um vierzehn Uhr Besuch vom Staatsschutz bekommt«, unterbricht Saga sie mit erhobener Stimme.

»Tut mir leid«, sagt die Sekretärin einen Moment später. »Er ist den ganzen Tag in Besprechungen.«

»Nicht um zwei«, widerspricht Saga ihr sanft.

»Doch, hier steht, dass er …

»Denn da wird er mit mir sprechen«, unterbricht sie die Sekretärin.

»Ich werde Ihr Anliegen weiterleiten.«

»Vielen Dank«, beendet Saga das Gespräch und begegnet über den Tisch hinweg Joonas Blick.

»Um zwei?«, fragt er.

»Ja.«

»Tommy Kofoed will sich das Foto ansehen«, sagt Joona. »Wir treffen uns nach dem Mittagessen in seinem Büro, bevor wir fahren.«

Während Joona mit Disa zu Mittag isst, zerstören die Kriminaltechniker der Landeskriminalpolizei das Foto.

Das Gesicht von einer der vier Personen in der Loge wird bis zur Unkenntlichkeit verwischt.


Disa lächelt still, als sie den Behälter aus dem Reiskocher nimmt. Sie reicht ihn Joona und beobachtet ihn anschließend dabei, als er seine Hände befeuchtet, um zu testen, ob der Reis so weit abgekühlt ist, dass er anfangen kann, kleine Kissen daraus zu formen.

»Wusstest du, dass Södermalm einen eigenen Kalvarienberg hatte?«, fragt sie.

»Einen Kalvarienberg? Ist das nicht ein …«

»Ein Golgataberg«, ergänzt Disa nickend, öffnet Joonas Küchenschrank, sucht zwei Gläser heraus und schenkt in das eine Wein und in das andere Wasser ein.

Disas Gesicht wirkt entspannt. Die Sommersprossen sind dunkler geworden, ihre zerzausten Haare hat sie im Nacken zu einem losen Zopf gesammelt. Joona wäscht sich die Hände und holt ein neues Küchenhandtuch heraus. Disa stellt sich vor ihn und legt die Arme um seinen Hals. Joona erwidert ihre Umarmung. Er legt sein Gesicht an ihren Kopf, atmet ihren Duft ein und spürt ihre warmen Hände, die seinen Rücken und Nacken streicheln.

»Können wir es nicht versuchen?«, flüstert sie. »Können wir das nicht einfach tun?«

»Doch«, antwortet er leise.

Sie hält ihn fest, ganz fest und befreit sich dann aus seinen Armen.

»Manchmal werde ich so wütend auf dich«, murmelt sie und kehrt ihm den Rücken zu.

»Disa, ich bin der, der ich bin, aber ich …«

»Es ist gut, dass wir nicht zusammenwohnen«, unterbricht sie ihn und verlässt die Küche.

Er hört, dass sie sich im Badezimmer einschließt, überlegt, ob er ihr folgen und an die Tür klopfen soll, aber im Grunde weiß er, dass sie einen Moment allein sein will. Also kümmert er sich weiter ums Essen. Er nimmt ein Stück Fisch, legt es behutsam in die Handfläche und bestreicht es anschließend mit einem Streifen Wasabi.

Einige Minuten später geht die Badezimmertür wieder auf, und Disa kehrt in die Küche zurück, steht im Türrahmen und sieht ihm bei der Zubereitung des Sushi zu.

»Erinnerst du dich, dass deine Mutter immer den Lachs aus dem Sushi geklaubt und ihn gebraten hat, ehe sie ihn wieder auf den Reis legte?« Sie lacht.

»Ja.«

»Soll ich den Tisch decken?«, fragt Disa.

»Wenn du willst.«

Disa trägt Teller und Essstäbchen in das große Zimmer, hält am Fenster inne und sieht auf die Wallingatan hinunter. Eine Baumkrone leuchtet im hellgrünen Sommerlaub. Ihr Blick schweift über die nette Umgebung am Platz Norra Bantorget, wo Joona seit einem Jahr wohnt.

Sie deckt den milchig weißen Esstisch, kehrt in die Küche zurück und trinkt einen Schluck Wein. Er hat das Prickelnde verloren, da er nicht mehr so kalt ist. Sie unterdrückt den Impuls, sich auf den lackierten Holzfußboden zu setzen und vorzuschlagen, auf dem Boden zu essen, mit den Händen, wie Kinder, unter dem Tisch.

»Ich bin eingeladen worden«, sagt sie stattdessen.

»Eingeladen?«

Sie nickt erfüllt von dem flüchtigen Gefühl, ein bisschen gemein zu sein und es eigentlich nicht sein zu wollen.

»Erzähl«, sagt Joona ruhig und trägt das Tablett mit Sushi zum Tisch.

Disa greift erneut zu ihrem Glas und sagt leichthin:

»Nur jemand im Museum, der mich seit einem halben Jahr fragt, ob ich mit ihm essen gehen will.«

»Macht man das heutzutage so? Lädt man Damen zum Essen ein?«

Disa lächelt.

»Bist du neidisch?«

»Ich weiß nicht, ein bisschen«, antwortet Joona und geht zu ihr. »Es ist nett, zum Essen eingeladen zu werden.«

»Ja.«

Disa fährt mit den Fingern kräftig durch seine dichten Haare.

»Sieht er gut aus?«, erkundigt sich Joona.

»Um ehrlich zu sein, ja.«

»Wie gut.«

»Aber ich will nicht mit ihm ausgehen«, sagt Disa lächelnd.

Joona sagt nichts, steht mit abgewandtem Gesicht ganz still.

»Du weißt, was ich will«, sagt Disa sanft.

Sein Gesicht ist plötzlich seltsam blass, und sie sieht, dass sich auf seiner Stirn Schweißperlen gesammelt haben. Langsam hebt er den Blick, und es ist etwas mit seinen Augen, sie sind schwarz, hart und abgründig tief.

»Joona? Vergiss es«, sagt sie hastig, »entschuldige …«

Joona öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, und macht einen Schritt auf sie zu, als seine Beine plötzlich nachgeben.

»Joona«, ruft Disa und schlägt vor Schreck ihr Glas vom Tisch.

Sie sinkt neben ihm zu Boden, umarmt ihn und flüstert, dass es bald vorbeigeht.

Nach einiger Zeit verändert sich Joonas Gesicht, und seine schmerzverzerrte Miene glättet sich, Schleier für Schleier.

Disa fegt die Scherben zusammen, und sie setzen sich schweigend an den Tisch.

»Du nimmst deine Medikamente nicht«, sagt sie nach einer Weile.

»Sie machen mich schläfrig. Ich muss denken können, im Moment ist es wirklich wichtig, dass ich glasklar denken kann.«

»Du hast mir versprochen, dass du sie nimmst.«

»Das werde ich auch tun«, erklärt er.

»Du weißt genau, dass es gefährlich ist«, flüstert sie.

»Sobald ich diesen Fall gelöst habe, nehme ich die Tabletten.«

»Und wenn du ihn nicht löst?«


Aus der Ferne gleicht das Nordische Museum einem aus Elfenbein geschnitzten Schmuckgegenstand, aber es ist natürlich aus Kalksandstein erbaut. Ein verschnörkelter Renaissancetraum mit zahllosen Zinnen und Türmchen. Das Museum sollte eine Huldigung an die Souveränität der nordischen Völker sein, aber als es an einem verregneten Tag im Sommer 1907 eingeweiht wurde, war die Union Schwedens mit Norwegen aufgelöst worden, und der König lag im Sterben.

Joona eilt durch das riesige Museumsfoyer, und erst als er die Treppen hinaufgestiegen ist, bleibt er stehen, sammelt sich, blickt längere Zeit zu Boden und geht anschließend langsam an den hell erleuchteten Vitrinen vorbei. Nichts in ihnen zieht seinen Blick auf sich. Umhüllt von Erinnerungen und schmerzlicher Sehnsucht eilt Joona an allem vorbei.

Der Museumswärter hat für ihn bereits einen Stuhl vor die Vitrine gestellt.

Joona Linna setzt sich und betrachtet die samische Brautkrone mit ihren acht Spitzen, die wie die Finger zweier ineinandergeflochtener Hände aussehen. Sie leuchtet sanft im Licht hinter dem dünnen Glas. Joona hört eine innere Stimme, sieht ein Gesicht, das ihn anlächelt, während er am Steuer sitzt an jenem Tag, an dem es geregnet hat und die Sonne auf der Straße in den Pfützen glitzert, als würden sie unterirdisch brennen. Er wendet sich zur Rückbank um, weil er sich vergewissern will, dass Lumi richtig angeschnallt ist.

Die Brautkrone sieht aus, als wäre sie aus hellen Zweigen, Leder oder geflochtenen Haaren gefertigt. Er betrachtet ihr Versprechen, ihre Verheißung von Liebe und Freude, und denkt an den ernsten Mund seiner Frau, die sandfarbenen Haare, die ihr ins Gesicht fielen.

»Wie geht es Ihnen?«

Joona sieht den Wärter erstaunt an, der seit vielen Jahren in dem Museum arbeitet. Ein Mann mittleren Alters mit Bartstoppeln und Augen, die zu oft gerieben wurden.

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, murmelt Joona und steht auf.

Beim Verlassen des Museums spürt er die Erinnerung an Lumis kleine Hand als schmerzliche Sehnsucht in seinem Körper. Er hatte sich nur umgewandt und kontrolliert, ob sie auch wirklich sicher saß, und auf einmal ihre Hand gespürt, die seine Finger berührten.

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