Palmcronas Haushälterin Edith Schwartz hat kein Telefon. Sie wohnt ungefähr siebzig Kilometer nördlich von Stockholm, in der Nähe von Knivsta. Joona sitzt schweigend neben Saga. In sanftem Tempo fährt sie den Sveavägen hinauf. Sie verlassen die Innenstadt, passieren die Abfahrt zum Karolinska-Krankenhaus und fahren auf die Autobahn.
»Der Staatsschutz hat die kriminaltechnische Untersuchung von Penelopes Wohnung abgeschlossen«, erzählt sie. »Ich bin das gesamte Material durchgegangen, demnach steht sie mit keiner linksextremistischen Gruppe in Verbindung. Im Gegenteil, sie distanziert sich von ihnen, ist erklärte Pazifistin und argumentiert gegen die Methoden der Extremisten. Außerdem habe ich mir das wenige angesehen, das wir über Björn Almskog haben. Er arbeitet im Musikklub Debaser am Medborgarplatsen, ist politisch nicht aktiv, wurde allerdings anlässlich eines von Reclaim the City veranstalteten Straßenfestes verhaftet.«
Sie fahren schnell zwischen dem vorbeiflimmernden schwarzen Zaun des Nordfriedhofs und den hohen grünen Bäumen des Haga-Parks hindurch.
»Ich bin unser Archiv durchgegangen«, fährt Saga fort. »Alles, was wir über links- und rechtsextremistische Kreise in Stockholm haben … Ich habe fast die ganze Nacht dafür gebraucht. Das Material ist natürlich geheim, aber du sollst wissen, dass der Staatsschutz einen Fehler gemacht hat: Penelope Fernandez und Björn Almskog sind in keinen Sabotageakt oder etwas anderes in der Art verwickelt. Die beiden sind fast schon lächerlich unschuldig.«
»Dann hast du diese Spur zu den Akten gelegt?«
»Ich bin genau wie du der Überzeugung, dass wir in einem Fall ermitteln, der in einer ganz anderen Liga spielt, etwas viel Größeres als das rechte oder linke Lager … vermutlich sogar etwas Größeres als der Staatsschutz oder die Landeskripo«, erklärt sie. »Ich meine, Palmcronas Tod, das Feuer in Björns Wohnung, Violas Tod und so weiter … hier geht es um ganz andere Dinge.«
Es wird still, und Joona erinnert sich an die Haushälterin, als sie ihm in die Augen sah und fragte, ob sie Palmcrona schon heruntergeholt hätten.
»Was meinen Sie mit ›heruntergeholt‹?«
»Entschuldigen Sie, ich bin nur die Haushälterin, ich dachte …«
Er hatte sie gefragt, ob sie etwas Besonderes gesehen habe.
»Eine Schlinge, die im kleinen Salon vom Lampenhaken herabhing«, hatte sie geantwortet.
»Sie haben die Schlinge gesehen?«
»Selbstverständlich.«
Selbstverständlich, denkt Joona und schaut auf die Autobahn hinaus, die zu seiner Rechten von einer Lärmschutzwand vor Einfamilienhaussiedlungen und Fußballfeldern gesäumt wird. Der scharfe Ton, in dem die Haushälterin das Wort »selbstverständlich« ausgesprochen hat, ist Joona im Gedächtnis geblieben. Er hört ihn immer wieder, während er sich an ihr Gesicht erinnert, als er ihr erklärte, dass man sie bitten würde, ins Präsidium zu kommen, um mit einem Polizeibeamten zu sprechen. Sie hatte nicht besorgt reagiert, wie er es erwartet hätte, sondern nur genickt.
Sie lassen Rotebro hinter sich, wo die Polizei die zehn Jahre alten sterblichen Überreste von Johan Samuelsson in Lydia Evers Garten ausgruben, als sie nach Erik Maria Barks Sohn Benjamin suchten. Damals war Winter, jetzt ist rund um die rostbraunen Eisenbahnschienen, die Parkplätze, Reihenhäuser und freistehenden Häuser alles leuchtend grün.
Joona ruft Nathan Pollock von der Landesmordkommission an und hört bereits nach zwei Ruftönen dessen leicht nasale Stimme.
»Nathan.«
»Du und Tommy Kofoed, ihr habt euch doch die Kreise aus Fußspuren unter Palmcronas Körper angesehen.«
»Die Ermittlungen sind eingestellt worden«, antwortet Pollock und Joona hört ihn auf einer Computertastatur schreiben.
»Ja, aber jetzt haben wir …«
»Ich weiß«, unterbricht Nathan ihn. »Ich habe mit Carlos gesprochen, er hat mir von der neuen Entwicklung erzählt.«
»Kannst du dir die Sache noch einmal anschauen?«
»Bin schon dabei«, antwortet Pollock.
»Das hört sich gut an«, erwidert Joona. »Wann bist du fertig?«
»Jetzt«, antwortet Pollock. »Die Spuren stammen von Palmcrona und seiner Haushälterin Edith Schwartz.«
»Von sonst niemandem?«
»Nein.«
Saga hält eine konstante Geschwindigkeit von 140 Kilometern in der Stunde. Sie fahren auf der Europastraße 4 immer weiter Richtung Norden.
Joona und Saga haben gemeinsam im Präsidium gesessen, sich die Aufnahme der Vernehmung von Edith Schwarz angehört und John Bengtssons handschriftliche Kommentare dazu gelesen.
Jetzt spielt Joona das Verhör in Gedanken noch einmal durch: Nach den üblichen Formalitäten erklärt John Bengtsson, dass kein Verdacht auf eine Straftat besteht, er aber dennoch hoffe, dass sie ein wenig Licht in die Gründe für Carl Palmcronas Tod bringen könne. Danach wird es still, man hört leise die Belüftung säuseln, ab und zu knarrt ein Stuhl, ein Stift kratzt über Papier. Im Protokoll hat John Bengtsson notiert, dass er angesichts von Edith Schwartz’ offenkundiger Teilnahmslosigkeit beschlossen hatte, abzuwarten, bis sie sprechen würde.
Es dauert etwas mehr als zwei Minuten, bis sie etwas sagt. Das ist eine lange Zeit, wenn man einem Polizisten an einem Schreibtisch gegenübersitzt und nichts als das lang anhaltende Schweigen aufgenommen wird.
»Hatte Direktor Palmcrona seinen Mantel ausgezogen?«, erkundigt sie sich schließlich.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragt John Bengtsson freundlich.
Sie schweigt erneut, und diesmal währt das Schweigen ungefähr eine halbe Minute, ehe es von John Bengtsson gebrochen wird:
»Hatte er den Mantel an, als sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«, fragt er.
»Ja.«
»Sie haben Kommissar Linna gesagt, dass Sie eine Schlinge von der Decke herabhängen sahen.«
»Ja.«
»Was dachten Sie, wozu sie gut sein sollte?«
Sie antwortet nicht.
»Wie lange hat sie dort gehangen?«, fragt John.
»Seit Mittwoch«, antwortet sie ruhig.
»Dann haben Sie die Schlinge also am Abend des zweiten Juni an der Decke gesehen, sind nach Hause gefahren, am Morgen des dritten Juni zurückgekehrt, haben erneut die Schlinge gesehen, sind Palmcrona begegnet, haben die Wohnung verlassen und sind am fünften Juni gegen 14.30 Uhr zurückgekehrt … und Kommissar Linna begegnet.«
Im schriftlichen Protokoll stand, dass Edith Schwartz mit den Schultern gezuckt hatte.
»Können Sie mir mit Ihren eigenen Worten von diesen Tagen erzählen?«, fragt John Bengtsson.
»Ich komme am Mittwochmorgen um sechs Uhr zu Direktor Palmcronas Wohnung. Es ist mir nur morgens erlaubt, den Schlüssel zu benutzen, weil Herr Palmcrona bis halb sieben schläft. Er achtet sehr auf regelmäßige Abläufe, es wird also niemals länger geschlafen, nicht einmal sonntags. Ich mahle Kaffeebohnen von Hand, schneide zwei Scheiben Brot ab, bestreiche sie mit stark gesalzener Margarine, belege sie mit zwei Scheiben getrüffelter Leberwurst, Gurken und einer Scheibe Cheddar. Ich decke den Tisch mit einer gestärkten Leinendecke und dem Sommergeschirr. Aus den Tageszeitungen sollen Werbebeilagen und der Sportteil entfernt sein, und sie müssen zusammengefaltet rechts liegen.«
Mit einzigartiger Detailtreue berichtet sie von der Zubereitung der Kalbshackfrikadellen in Sahnesauce am Mittwoch und den Vorbereitungen für das Mittagessen am Donnerstag.
Als sie zu dem Punkt am Samstag gelangt, an dem sie mit den Lebensmitteln fürs Wochenende zurückkehrt und an der Tür klingelt, verstummt sie.
»Mir ist bewusst, wie schwierig das für Sie ist«, sagt John Bengtsson kurz darauf. »Aber ich habe hier gesessen und Ihren Worten gelauscht. Sie haben den Mittwoch und Donnerstag beschrieben, sich an jedes Detail erinnert, aber nicht ein einziges Mal haben Sie etwas erwähnt, was in einem Zusammenhang mit Carl Palmcronas plötzlichem Ableben steht.«
Sie schweigt und gibt ihm keine Erklärung dafür.
»Ich muss Sie bitten, in Gedanken zurückzukehren«, fährt John Bengtsson geduldig fort. »Wussten Sie, dass Carl Palmcrona tot war, als Sie an der Tür klingelten?«
»Nein«, antwortet sie.
»Haben Sie Kommissar Linna nicht gefragt, ob wir ihn schon heruntergeholt hätten?«, fragt Bengtsson mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme.
»Doch«, antwortet sie.
»Hatten Sie ihn bereits tot gesehen?«
»Nein.«
»Ach, zum Teufel«, sagt John Bengtsson gereizt. »Können Sie mir nicht einfach erzählen, was Sie wissen? Was brachte Sie dazu, Kommissar Linna zu fragen, ob wir ihn heruntergeholt hatten? Das haben Sie ihn doch gefragt! Warum haben Sie das getan, wenn Sie nicht wussten, dass er tot war?«
In seinem Bericht schrieb John Bengtsson, dass er leider den Fehler begangen hatte, sich von ihrer ausweichenden Art provozieren zu lassen, und sie nach seinem Wutausbruch in Schweigen verfallen war.
»Wirft man mir irgendetwas vor?«, fragt sie kühl.
»Nein.«
»Dann sind wir hier fertig.«
»Es wäre sehr hilfreich, wenn …«
»An mehr erinnere ich mich nicht«, unterbricht sie ihn, und man hört sie von ihrem Stuhl aufstehen.
Joona sieht Saga an, ihr Blick ist auf die Autobahn und den Lkw vor ihr gerichtet.
»Ich denke über die Vernehmung der Haushälterin nach«, sagt Joona.
»Ich auch«, erwidert sie.
»John hat sich über sie aufgeregt, weil er fand, dass sie sich widersprach. Er behauptete, sie hätte gewusst, dass Palmcrona tot war, als sie an der Tür klingelte«, sagt Joona.
»Ja«, entgegnet Saga, ohne ihn anzusehen.
»Aber sie hat die Wahrheit gesagt, denn sie wusste wirklich nicht, dass er tot war. Sie hat es geglaubt, aber nicht gewusst«, fährt er fort. »Deshalb hat sie seine Behauptung verneint.«
»Edith Schwartz scheint eine sehr spezielle Frau zu sein.«
»Ich glaube, dass sie etwas vor uns zu verbergen versucht, ohne lügen zu müssen«, sagt Joona.