26 Eine Handfläche

Joona klopft auch an die anderen Türen im Haus, erfährt aber nur, dass Penelope eine recht unauffällige, fast scheue Nachbarin ist, die sich an den alljährlichen Putztagen beteiligt und an der Eigentümerversammlung teilnimmt, aber nicht mehr. Als er fertig ist, geht er langsam die Treppe zur dritten Etage hinunter.

Die Tür zu Penelopes Wohnung steht offen. Ein Kriminaltechniker des Staatsschutzes hat das Wohnungsschloss demontiert und den Kolben in eine Plastiktüte gelegt.

Joona geht hinein, hält sich im Hintergrund und verfolgt die forensische Untersuchung. Es hat ihm immer gefallen, bei der Arbeit der Kriminaltechniker dabei zu sein, zu sehen, wie sie systematisch alles fotografieren, jede Spur sichern und sorgsam über jedes Stadium Protokoll führen. Die fortschreitende Untersuchung eines Tatorts ist ein Werk der Zerstörung. Im Laufe der Zeit wird er Schicht für Schicht kontaminiert und auseinandergenommen. Es gilt, den Tatort in der richtigen Reihenfolge zu zerstören, damit keine Beweise oder Anhaltspunkte verloren gehen.

Joona lässt den Blick über Penelope Fernandez’ gepflegte Wohnung schweifen. Was hat Björn Almskog hier gemacht? Er kam, als Penelope gegangen war. Das wirkt fast so, als hätte er sich vor ihrem Hauseingang versteckt und darauf gewartet, dass sie fahren würde. Vielleicht war es wirklich nur ein Zufall, aber es ist ebenso gut möglich, dass er sie nicht treffen wollte.

Björn eilte ins Haus, begegnete dem Kind auf der Treppe, hatte keine Zeit, mit dem Mädchen zu reden, sagte ihr, dass er nur etwas holen wolle, und blieb nur wenige Minuten in der Wohnung.

Vermutlich hat er etwas geholt, wie er es dem Mädchen gesagt hat. Vielleicht hatte er den Bootsschlüssel oder etwas anderes vergessen, was man in die Tasche stecken kann.

Vielleicht hat er es aber auch dagelassen. Vielleicht musste er nur einen Blick auf etwas werfen, eine Information überprüfen, eine Telefonnummer heraussuchen.

Joona geht in die Küche und schaut sich um.

»Habt ihr den Kühlschrank durchsucht?«

Ein junger Mann mit Kinnbart sieht ihn an:

»Hast du Hunger?«, fragt er in einem breiten Dalarna-Dialekt.

»Es ist ein guter Ort, um Sachen zu verstecken«, antwortet Joona.

»So weit sind wir noch nicht gekommen«, erwidert der Mann.

Joona kehrt ins Wohnzimmer zurück und sieht, dass Saga in einer Ecke des Raums immer noch in ein Diktiergerät spricht.

Tommy Kofoed montiert einen Klebestreifen mit gesicherten Fasern auf OH-Film und blickt auf.

»Irgendetwas Ungewöhnliches?«, erkundigt sich Joona.

»Ungewöhnlich? Na ja, ein Schuhabdruck auf der Wand …«

»Sonst nichts?«

»Was wichtig ist, zeigt sich meistens erst im Labor in Linköping.«

»Haben wir in einer Woche einen Bericht?«, fragt Joona.

»Wenn wir denen wie der Leibhaftige auf die Pelle rücken«, antwortet Kofoed und zuckt mit den Schultern. »Ich will mir als Nächstes die Leiste ansehen, die von dem Messer getroffen wurde, und einen Abguss von der Klinge machen.«

»Lass es«, murmelt Joona.

Kofoed hält dies für einen Witz und lacht, wird dann aber ernst.

»Hast du das Messer gesehen – war es aus Stahl?«

»Nein, die Klinge war heller, vielleicht gesintertes Wolframcarbid, wie es manche bevorzugen. Aber das wird uns nicht weiterbringen.«

»Was?«

»Die Tatortuntersuchung«, antwortet Joona. »Wir werden weder DNA noch irgendwelche Fingerabdrücke finden, die uns dem Täter näherbringen.«

»Und was sollen wir dann tun?«

»Ich glaube, dass der Mann hergekommen ist, um nach etwas zu suchen, und ich glaube, dass er gestört wurde, ehe er es finden konnte.«

»Du meinst, das, wonach er gesucht hat, ist noch hier?«

»Gut möglich«, antwortet Joona.

»Aber du hast keine Ahnung, was es ist?«

»Es findet Platz in einem Buch.«

Joonas granitgraue Augen begegnen für einen kurzen Moment Kofoeds braunen Augen. Göran Stone vom Staatsschutz fotografiert die Tür zum Badezimmer, beide Seiten, den Türrahmen, die Scharniere. Anschließend setzt er sich auf den Fußboden, um die weiße Badezimmerdecke zu fotografieren. Joona will gerade die Wohnzimmertür öffnen, um ihn zu bitten, einige Bilder von den Zeitschriften auf dem Couchtisch zu machen, als das grelle Licht eines Kamerablitzes ihn blendet. Joona muss stehen bleiben, ihm ist schwarz vor Augen. Vier weiße Punkte gleiten durch sein Blickfeld, gefolgt von einer ölig schimmernden hellblauen Handfläche. Joona sieht sich um, ohne zu erkennen, woher die Hand gekommen ist.

»Göran«, ruft er mit lauter Stimme durch die Glastür zum Flur. »Mach das noch mal!«

Alle in der Wohnung halten inne. Der Kriminaltechniker aus Dalarna lugt aus der Küche heraus, der Mann an der Wohnungstür sieht Joona interessiert an. Tommy Kofoed nimmt seine Schutzmaske herunter und kratzt sich am Hals. Göran Stone bleibt mit fragender Miene auf dem Boden sitzen.

»Genau wie gerade. Fotografier bitte noch einmal die Badezimmerdecke.«

Göran Stone zuckt mit den Schultern, hebt die Kamera und macht eine weitere Aufnahme von der Badezimmerdecke. Die Kamera blitzt, und Joona spürt, wie seine Pupillen sich zusammenziehen und seine Augen zu tränen beginnen. Er schließt sie und sieht noch einmal ein schwarzes Quadrat. Es ist die Glasscheibe in der Tür, sie hat sich dadurch, dass er geblendet wurde, in ein Negativbild verwandelt.

Mitten in dem Quadrat sieht er vier weiße Flecken und daneben treibt eine hellblaue Hand heran.

Er wusste, dass er sie gesehen hat.

Joona blinzelt, kann wieder klar sehen und geht geradewegs zu der Tür, auf der sich in einem Rechteck angeordnet die Reste von vier Klebestreifen befinden und daneben der Abdruck einer Hand.

Tommy Kofoed tritt zu Joona und stellt sich neben ihn.

»Ein Handabdruck«, sagt er.

»Könntest du ihn bitte abnehmen?«, fragt Joona.

»Göran«, sagt Kofoed. »Wir brauchen ein Foto hiervon.«

Göran Stone steht vom Fußboden auf und summt vor sich hin, als er mit seiner Kamera zu ihnen kommt und sich den Handabdruck ansieht.

»Tja, hier hat jemand gestanden und gekleckert«, sagt er zufrieden und macht vier Fotos.

Anschließend tritt er zur Seite und wartet, während Tommy Kofoed den Abdruck zunächst mit Cyanacrylat, das Salze und Feuchtigkeit bindet, und anschließend mit Basic Yellow 40 bearbeitet.

Göran wartet einige Sekunden und schießt dann zwei weitere Fotos.

»Jetzt haben wir dich«, flüstert Kofoed dem Abdruck zugewandt und hebt ihn vorsichtig mit Handi-Lift-Folie ab.«

»Kannst du ihn direkt überprüfen?«, fragt Joona.

Tommy Kofoed geht mit dem Abdruck in die Küche. Joona bleibt stehen und betrachtet die vier Klebestreifenreste auf der Glasscheibe. Unter einem von ihnen sitzt ein abgerissenes Eckchen Papier. Die Person, die diesen Handabdruck hinterließ, hatte keine Zeit, das Klebeband vorsichtig zu lösen. Stattdessen hat sie das Papier von der Glastür losgerissen, sodass die Ecke hängen geblieben ist.

Joona sieht sich die abgerissene Ecke eingehender an. Sofort sieht er, dass es kein gewöhnliches Papier ist, sondern Fotopapier für den Ausdruck von Farbfotografien.

An dieser Fensterscheibe hat ein Foto gehangen, denkt Joona – um studiert und überdacht zu werden. Dann musste es auf einmal ganz schnell gehen, es war keine Zeit, die Aufnahme behutsam herunterzunehmen. Jemand ist zu der Tür gerannt, hat sich mit der Hand auf der Scheibe abgestützt und das Bild heruntergerissen.

»Björn«, sagt Joona leise.

Er muss dieses Foto geholt haben. Er hielt sich nicht den Bauch, weil er Schmerzen hatte, sondern weil er das Bild unter seiner Jacke verborgen hatte.

Joona zieht den Kopf weg, sodass er in den Lichtreflexen den Abdruck auf dem Glas, die dünnen Linien des Handtellers erahnen kann.

Die Papillarlinien eines Menschen verändern sich nie, altern nie. Im Unterschied zur DNA sind noch nicht einmal bei eineiigen Zwillingen die Fingerabdrücke gleich.

Joona hört schnelle Schritte hinter sich und dreht sich um.

»Zum Teufel, jetzt reicht’s mir aber«, schreit Saga Bauer. »Das ist mein Fall. Du darfst verdammt noch mal überhaupt nicht hier sein!«

»Ich will doch nur …«

»Halt’s Maul«, unterbricht sie ihn. »Ich habe gerade mit Petter Näslund gesprochen. Du hast hier nichts zu suchen, du darfst nicht hier sein, du bist nicht befugt, hier zu sein.«

»Ich weiß, ich gehe ja gleich«, erwidert er und betrachtet erneut die Glasscheibe.

»Verdammt, Joona Linna«, sagt sie leise. »Du kannst hier nicht einfach herkommen und an Klebestreifen herumfummeln …«

»An dieser Scheibe hing ein Foto«, erwidert er ruhig. »Jemand hat es abgerissen, sich über den Stuhl dort gelehnt, sich mit der Hand abgestützt und nach dem Bild gegriffen.«

Sie sieht ihn widerwillig an, und ihm fällt auf, dass durch ihre linke Augenbraue eine weiße Narbe verläuft.

»Ich bin durchaus in der Lage, diese Ermittlungen zu leiten.«

»Der Abdruck stammt vermutlich von Björn Almskog«, sagt er und geht in Richtung Küche.

»Falsche Richtung, Joona.«

Er beachtet sie nicht weiter, sondern betritt die Küche.

»Das ist mein Fall«, ruft sie.

Die Kriminaltechniker haben mitten im Raum einen kleinen Arbeitsplatz eingerichtet. Zwei Stühle und ein Tisch mit Computer, Scanner und Drucker. Tommy Kofoed steht hinter Göran Stone, der seine Kamera an das Notebook angeschlossen hat. Sie haben den Handabdruck eingespeist und arbeiten an einem ersten Abgleich der Fingerabdrücke.

Saga folgt Joona.

»Was seht ihr?«, erkundigt sich Joona, ohne sich um Saga zu scheren.

»Redet nicht mit Joona«, sagt sie schnell.

Tommy Kofoed blickt auf.

»Jetzt sei nicht albern, Saga«, sagt er und wendet sich anschließend Joona zu. »Diesmal hatten wir kein Glück, der Abdruck stammt von Björn Almskog, Penelopes Freund.«

»Er ist in der Verdächtigenkartei«, erläutert Göran Stone.

»Wessen wird er verdächtigt?«, fragt Joona.

»Teilnahme an Menschenaufläufen mit Gewaltpotenzial, Widerstand gegen die Staatsgewalt«, antwortet Göran.

»Einer von den ganz Schlimmen«, scherzt Kofoed. »Er ist bestimmt auf einer Demonstration gewesen.«

»Sehr witzig«, sagt Göran Stone säuerlich. »Nicht alle im Polizeikorps begeistern sich so für die Krawalle und Sabotageakte linker Splittergruppen und …«

»Das ist deine Meinung«, unterbricht Kofoed ihn.

»Der Rettungseinsatz spricht für sich selbst«, entgegnet Göran grinsend.

»Wie bitte?«, fragt Joona. »Was soll das heißen? Ich bin nicht dazu gekommen, den Einsatz zu verfolgen – was ist passiert?«

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