40 Der Nachfolger

Axel Riessen öffnet bedächtig die Manschettenknöpfe an den gestärkten Ärmeln seines Hemds. Er legt sie in die Bronzeschale auf der Herrenkommode. Die Knöpfe hat er von seinem Großvater geerbt, Admiral Riessen, aber sie haben ein ziviles Motiv, ein Ordenszeichen, das aus zwei sich kreuzenden Palmblättern besteht.

Axel Riessen mustert sich im Spiegel neben der Tür zur Kleiderkammer. Er löst die Krawatte, geht zum anderen Ende des Zimmers und setzt sich auf die Bettkante. Die Heizkörper rauschen, und durch die Wände meint er Tonfragmente hören zu können.

Die Musik kommt aus der benachbarten Wohnung seines jüngeren Bruders. Eine einsame Geige, denkt er und fügt die Fragmente im Geiste zusammen. In seinem Kopf hört er Bachs erste Violinsonate in G-Moll, den ersten Satz, ein Adagio, jedoch weitaus verhaltener gespielt als bei den gängigen Interpretationen. Axel hört nicht nur die Töne selbst, sondern genießt zudem jeden mitschwingenden Oberton und einen unabsichtlichen Stoß gegen die Zarge der Geige.

Als die Musik in ein anderes Tempo übergeht, sehnen sich seine Hände danach, eine Geige zu halten. Es ist lange her, dass er die Finger mit der Musik perlen, über die Saiten und das Griffbrett hinauf fließen ließ.

Als das Telefon klingelt, verstummt die Musik in Axel Riessens Kopf. Er steht vom Bett auf und reibt sich die Augen. Er ist sehr müde, in der letzten Woche hat er kaum geschlafen.

Das Display zeigt ihm an, dass es eine Telefonnummer aus der Kanzlei der Ministerien ist. Er räuspert sich kurz, ehe er sich mit ruhiger Stimme meldet.

»Axel Riessen.«

»Hallo, hier spricht Jörgen Grünlicht, ich bin Vorsitzender der Beratungsgruppe der Regierung in außenpolitischen Fragen, wie Sie vielleicht wissen.«

»Guten Abend.«

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so spät noch anrufe.«

»Ich bin wach.«

»Man hat mir gesagt, dass Sie wach sein würden«, erwidert Jörgen Grünlicht und zögert kurz, ehe er weiterspricht. »Ich komme gerade von einer außerordentlichen Vorstandssitzung, bei der wir beschlossen haben, Ihnen den Posten als Generaldirektor der Staatlichen Waffenkontrollbehörde anzubieten.«

»Ich verstehe.«

Es wird für einen Moment still am Telefon. Dann sagt Grünlicht schnell:

»Ich setze voraus, dass Sie wissen, was mit Carl Palmcrona passiert ist.«

»Ich habe in der Zeitung davon gelesen.«

Grünlicht räuspert sich leise und sagt etwas, das Axel nicht verstehen kann. Dann spricht der Mann wieder lauter.

»Sie sind ja gut über unsere Arbeit unterrichtet und könnten den Posten – vorausgesetzt, Sie akzeptieren unseren Vorschlag – sehr schnell übernehmen.«

»Ich muss meinen Auftrag für die Vereinten Nationen noch zu Ende führen«, antwortet Axel.

»Ist das ein Problem?«, erkundigt sich Grünlicht mit sorgenvoller Stimme.

»Nein.«

»Sie wollen sich natürlich erst die Konditionen ansehen, aber … Es gibt darin nichts, was nicht verhandelbar wäre«, erläutert Grünlicht. »Sie werden sicher schon verstanden haben, wie gerne wir Sie mit im Boot hätten, es ist sinnlos zu versuchen, daraus ein Geheimnis zu machen.«

»Lassen Sie mich über Ihr Angebot nachdenken.«

»Hätten Sie morgen früh Zeit für ein Treffen?«

»Ist es so eilig?«

»Wir nehmen uns alle Zeit, die wir brauchen«, antwortet Grünlicht. »Aber natürlich … Angesichts der Dinge, die passiert sind … Das Handelsministerium macht ein wenig Druck wegen einer Sache, die sich ohnehin schon hingezogen hat.«

»Worum geht es?«

»Nichts Besonderes … Es handelt sich um eine Ausfuhrerlaubnis. Der vorläufige Bescheid war positiv, der Exportkontrollrat hat das Seine getan, die Beschlussvorlage ist fertiggestellt, aber Palmcrona ist nicht mehr dazu gekommen, die Dokumente zu unterschreiben.«

»Und das muss er tun?«, fragt Axel.

»Nur der Generaldirektor kann den Export von Verteidigungsmaterial oder von Produkten mit doppelten Verwendungsbereichen genehmigen«, erläutert Jörgen Grünlicht.

»Aber die Regierung genehmigt doch auch gewisse Geschäfte?«

»Nur wenn der Generaldirektor der Kontrollbehörde beschlossen hat, die Sache der Regierung zur Entscheidung vorzulegen.«

»Ich verstehe.«

Elf Jahre hat Axel Riessen als Waffeninspektor für das Außenministerium gearbeitet, ehe er von der UNODA, dem United Nations Office for Disarmament Affairs, angestellt wurde. Heute ist er eine Art senior advisor in der Division of Analysis and Assessment. Riessen ist erst einundfünfzig Jahre alt, seine grau melierten Haare sind noch dicht, seine Gesichtszüge ebenmäßig und freundlich. Er ist sonnengebräunt von seinem Urlaub in Kapstadt, wo er ein Segelboot gemietet und allein an der atemberaubenden Steilküste entlanggesegelt ist.

Axel geht in seine Bibliothek, setzt sich in den Lesesessel, schließt die brennenden Augenlider und denkt darüber nach, dass Carl Palmcrona tot ist. Am Morgen hat eine kurze Notiz über sein Ableben in der Tageszeitung Dagens Nyheter gestanden. Es war nicht ganz leicht zu verstehen, was geschehen ist, aber irgendwie deutete der Text an, dass es ein plötzlicher und unerwarteter Tod war. Er war nicht krank, das hätte man herausgelesen. Sie sind sich im Laufe der Jahre viele Male begegnet. Sie sind beide als Sachverständige bei der Beratung der Gesetzesvorlage gehört worden, die zu dem Regierungsbeschluss geführt hat, die Waffenkontrolle und die Strategische Exportkontrolle bei der Kanzlei der Ministerien in einer Behörde zusammenzufassen, der Staatlichen Waffenkontrollbehörde.

Und jetzt ist Carl Palmcrona tot. Axel sieht den großen, blassen Mann mit den militärisch kurz geschnittenen Haaren und seiner Aura von Einsamkeit vor sich.

Dann regt sich Sorge in ihm. Es ist zu still in den Zimmern. Axel steht auf und wirft einen Blick in die Wohnung hinein, lauscht.

»Beverly?«, ruft er leise. »Beverly?«

Sie antwortet nicht. Angst steigt in ihm hoch. Schnellen Schritts geht er durch die Zimmer und hinunter, um sein Jackett zu holen, hinauszugehen und nach dem Mädchen zu suchen, als er sie plötzlich vor sich hin summen hört. Sie kommt barfuß aus der Küche, geht über die Teppiche. Als sie sein besorgtes Gesicht sieht, bekommt sie große Augen.

»Axel«, sagt sie mit ihrer hellen Stimme. »Was ist los?«

»Ach, ich habe mir nur Sorgen gemacht, dass du hinausgegangen sein könntest«, murmelt er.

»In die gefährliche Welt«, sagt sie lächelnd.

»Ich sage nur, dass man nicht jedem vertrauen kann.«

»Das tue ich auch nicht, ich sehe sie mir doch an und achte auf das Leuchten«, erklärt sie. »Wenn es um sie herum leuchtet, weiß ich, dass sie nett sind.«

Axel hat keine Ahnung, was er darauf antworten soll, und sagt deshalb nur, dass er ihr eine Tüte Chips und eine große Flasche Fanta gekauft hat.

Sie scheint ihn nicht einmal zu hören. Er versucht, ihr Gesicht zu deuten. Zu erkennen, ob sie im Begriff ist, rastlos oder deprimiert oder verschlossen zu werden.

»Meinst du immer noch, dass wir heiraten sollen?«, fragt sie.

»Ja«, lügt er.

»Es ist nur so, dass ich bei Blumen immer an Mamas Beerdigung und an Papas Gesicht denken muss, als …«

»Wir brauchen keine Blumen«, sagt er.

»Obwohl, Maiglöckchen mag ich.«

»Ich auch«, sagt er mit schwacher Stimme.

Sie errötet zufrieden, und er hört, dass sie ihm zuliebe so tut, als müsste sie gähnen.

»Ich bin müde«, sagt sie und verlässt das Zimmer. »Möchtest du schlafen?«

»Nein«, sagt Axel Riessen zu sich selbst, steht dann jedoch auf und folgt ihr.

Erfüllt von dem intensiven Gefühl, dass Teile seines Körpers ihn aufzuhalten versuchen, geht er durch die Zimmer. Er fühlt sich plump und eigenartig langsam, als er ihr durch den Korridor, über den Marmorfußboden und die Treppe hinauf, durch zwei Salons in die Zimmersuite folgt, in die er sich abends zurückzieht.

Das Mädchen ist schlank und klein, reicht ihm bis zur Brust. Die Haare auf ihrem Kopf wachsen wieder, nachdem Beverly sie in der Vorwoche abrasiert hat. Sie umarmt ihn flüchtig, und er riecht ganz kurz den Karamellduft aus ihrem Mund.

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