Penelope läuft den Anstieg hinauf, stolpert auf den losen Steinen, rutscht weg und stützt sich mit der Hand ab, sodass der Stoß ihr in Schulter und Rücken fährt, sie schürft sich die Haut auf und stöhnt. Schmerz strahlt von ihrem Handgelenk aus. Sie ist außer Atem, hustet und wirft einen Blick zurück, zwischen die Bäume unter ihr, in das Dunkel zwischen den Stämmen, voller Furcht, dort abermals ihren Verfolger zu sehen.
Björn kommt zu ihr, Schweiß läuft ihm die Wangen herab, seine Augen sind rot unterlaufen und wirken gehetzt, er murmelt etwas und hilft ihr auf.
»Wir dürfen nicht stehen bleiben«, flüstert er.
Sie wissen nicht mehr, wo ihr Verfolger ist, ob er ganz in ihrer Nähe lauert oder die Spur verloren hat. Vor nicht allzu vielen Stunden lagen sie noch auf dem Fußboden einer Küche, während er zum Fenster hereinsah.
Jetzt laufen sie aufwärts, zwängen sich durch ein Fichtengehölz, riechen den warmen Duft der Nadeln und rennen Hand in Hand weiter.
Es raschelt im Unterholz, und Björn wimmert vor Angst, macht einen jähen Schritt zur Seite, woraufhin ihm ein Ast ins Gesicht schlägt.
»Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte«, keucht er.
»Denk nicht daran«, erwidert Penelope.
Sie gehen ein kleines Stück. Füße und Knie schmerzen. Ihr Weg führt durch dichtes Gestrüpp und raschelndes Laub in einen Graben hinab. Sie staken durch Unkraut und gelangen auf einen Kiesweg. Björn schaut sich um, flüstert ihr zu, mitzukommen, und läuft nach Süden, in Richtung Skinnardal, wo die Insel dichter besiedelt ist. Es kann nicht mehr weit sein bis dorthin. Sie humpelt ein paar Schritte und folgt ihm. Zwischen den glatten Reifenspuren verläuft ein Streifen aus grobem Schotter mit einzelnen Grashalmen. Der Weg beschreibt eine Kurve um ein Birkenwäldchen herum. Sie laufen nebeneinander, und als sie die weißen Stämme hinter sich gelassen haben, sehen sie plötzlich zwei Menschen. Eine ungefähr zwanzigjährige Frau in einem kurzen Tennisdress und einen Mann mit einem roten Motorrad. Penelope zieht den Reißverschluss ihrer engen Kapuzenjacke zu und versucht, ruhiger durch die Nase zu atmen.
»Hallo«, sagt sie.
Die beiden sehen sie an, und Penelope kann ihre Blicke verstehen. Björn und sie sind blutig und verdreckt.
»Wir hatten einen Unfall«, sagt sie schnell zwischen den Atemzügen. »Wir würden uns gerne kurz ein Handy leihen.«
Schmetterlinge der Art Kleiner Fuchs flattern über Weißem Gänsefuß und Schachtelhalmen im Straßengraben.
»Okay«, sagt der junge Mann, sucht sein Telefon heraus und überlässt es Penelope.
»Danke«, sagt Björn und blickt die Straße hinunter und in den Wald hinein.
»Was ist denn passiert?«, fragt der junge Mann.
Penelope weiß nicht recht, was sie erwidern soll, sie muss schlucken, Tränen laufen ihre schmutzigen Wangen herab.
»Ein Unfall«, antwortet Björn.
»Ich kenne sie«, sagt das Mädchen in dem Tenniskleid zu ihrem Freund. »Das ist doch die Frau, die wir im Fernsehen gesehen haben.«
»Wer?«
»Die diesen Bockmist über schwedische Exporte verzapft hat.«
Penelope versucht, ihr zuzulächeln, während sie die Nummer ihrer Mutter wählt. Ihre Hände sind zu zittrig, und sie vertippt sich, sie bricht den Versuch ab und beginnt noch einmal von vorn. Die junge Frau flüstert dem jungen Mann etwas ins Ohr.
Es knackt im Wald, und Penelope glaubt, jemanden zwischen den Bäumen zu sehen. Ehe sie erkennt, dass sie sich geirrt hat, denkt sie kurz, dass der Verfolger sie finden wird, dass er von dem Haus aus ihrer Spur gefolgt ist. Als sie das Handy ans Ohr hebt, zittert ihre Hand so sehr, dass sie fürchtet, es zu verlieren.
»Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?«, sagt die Frau mit angespannter Stimme zu Penelope. »Finden Sie, dass Menschen, die hart arbeiten, die vielleicht sechzig Stunden in der Woche arbeiten, für Leute bezahlen sollen, die keine Lust zum Arbeiten haben, die nur vor dem Fernseher hocken?«
Penelope begreift nicht, was die junge Frau ihr damit sagen will, warum sie so wütend ist. Sie ist unfähig, sich auf die Frage zu konzentrieren, versteht den Zusammenhang nicht. Ihre Gedanken drehen sich unablässig im Kreis, erneut schweift ihr Blick zwischen die Bäume, und sie hört ferne, knisternde Ruftöne.
»Soll es sich etwa nicht mehr lohnen zu arbeiten?«, fragt die Frau mit aufgebrachter Stimme.
Penelope sieht zu Björn hinüber und hofft, dass er ihr helfen und der jungen Frau eine Antwort geben wird, die sie zufriedenstellt. Sie stöhnt auf, als sie die Stimme ihrer Mutter auf dem Anrufbeantworter hört:
»Dies ist der Anschluss von Claudia Fernandez – ich bin zurzeit leider nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe Sie dann so schnell wie möglich zurück …«
Tränen laufen ihre Wangen herab, ihre Knie geben fast nach, sie ist schrecklich müde. Sie hält eine Hand hoch, um der Frau anzuzeigen, dass sie gerade nicht sprechen kann.
»Wir haben unsere Handys von dem Geld gekauft, das wir selbst verdient haben«, sagt die junge Frau. »Also wirst du auch eigenes Geld verdienen und dir ein Telefon kaufen müssen …«
Es knistert in dem Handy, der Empfang ist schlecht, sie macht ein paar Schritte, aber er wird nur noch schlechter, das Telefon stottert, verstummt, und Penelope weiß nicht, ob die Verbindung unterbrochen ist, als sie spricht:
»Mama, ich brauche Hilfe, ich werde verfolgt von …«
Plötzlich flucht die junge Frau, reißt ihr das Telefon aus der Hand und gibt es dem jungen Mann.
»Suchen Sie sich einen Job«, sagt er.
Penelope taumelt, sieht verwirrt das junge Paar an. Die Frau setzt sich hinter dem Mann auf das Motorrad und schlingt die Arme um seine Taille.
»Bitte«, fleht Penelope. »Wir müssen wirklich …«
Ihre Stimme wird vom Lärm des Motorrads übertönt, das anfährt, dessen Hinterrad durchdreht und Kies aufwirbelt. Björn ruft, sie sollen warten. Sie laufen dem Paar hinterher, aber das Motorrad verschwindet in Richtung Skinnardal.
»Björn«, sagt Penelope und bleibt stehen.
»Lauf«, schreit er.
Sie ist außer Atem, blickt zurück, den Weg hinab und denkt, dass sie dabei sind, einen Fehler zu machen. Er bleibt stehen, sieht sie an, atmet keuchend, stützt sich kurz mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und geht dann wieder los.
»Warte, er weiß, wie wir denken«, sagt sie ernst. »Wir müssen was anderes machen.«
Björn geht langsamer, dreht sich um und sieht sie an, entfernt sich rückwärtslaufend aber weiter von ihr.
»Wir müssen jemanden finden, der uns hilft«, sagt Björn.
»Nicht jetzt.«
Er kehrt zu ihr zurück und packt sie an den Schultern.
»Penny, es sind bestimmt nur zehn Minuten bis zum nächsten Haus, das schaffst du, ich helfe …«
»Wir müssen in den Wald zurück«, unterbricht sie ihn. »Ich weiß genau, dass ich damit richtig liege.«
Sie zieht das Band aus ihren Haaren und wirft es ein Stück vor sich auf den Weg, lässt Björn stehen und geht schnurstracks in den Wald hinein, entfernt sich von der Siedlung.
Björn blickt die Straße hinunter und folgt Penelope, macht einen großen Satz über den Graben und läuft in den Wald. Sie hört ihn hinter sich. Er holt sie ein und nimmt ihre Hand.
Sie laufen Seite an Seite, nicht sonderlich schnell, aber Minute für Minute entfernen sie sich weiter von der Straße, den Menschen und der Hilfe.
Plötzlich versperrt ihnen eine schmale Bucht den Weg. Keuchend waten sie etwa vierzig Meter durch hüfttiefes Wasser. Am anderen Ufer eilen sie mit durchnässten Schuhen weiter durch den Wald.
Zehn Minuten später wird Penelope erneut langsamer. Sie bleibt stehen, atmet tief durch, hebt den Blick und schaut sich um. Erstmals spürt sie die kühle Gegenwart ihres Verfolgers nicht mehr. Björn streicht sich mit der Hand über den Mund und tritt zu ihr.
»Als wir vorhin in dem Haus waren«, sagt er, »warum hast du da gerufen, dass er hereinkommen soll?«
»Sonst hätte er einfach die Tür geöffnet und wäre eingetreten – es war das Einzige, womit er nicht gerechnet hat.«
»Aber …«
»Er ist uns immer einen Schritt voraus gewesen«, fährt sie fort. »Wir haben uns gefürchtet, und er weiß genau, wie ängstliche Menschen sich verhalten.«
»Sie bitten niemanden hereinzukommen«, sagt Björn, und ein müdes Lächeln legt sich auf sein Gesicht.
»Und deshalb können wir auch nicht den Weg nach Skinnardal nehmen. Wir müssen immer wieder die Richtung wechseln, tiefer in den Wald hineilaufen, direkt ins Nichts.«
»Ja.«
Sie betrachtet sein erschöpftes Gesicht, die spröden weißen Lippen.
»Ich glaube, dass wir so weitermachen müssen, wenn wir überleben wollen. Dass wir anders denken müssen. Ich glaube, dass wir … Statt zu versuchen, von dieser Insel aufs Festland zu gelangen, werden wir uns weiter in die Schären hinausbegeben, uns immer weiter vom Festland entfernen.«
»Kein Mensch würde das tun.«
»Hältst du noch ein bisschen durch?«, fragt sie leise.
Er nickt, und sie laufen tiefer in den Wald hinein, immer weiter weg von Wegen, Häusern und Menschen.