Joona und Saga bezweifeln, dass sie Edith Schwartz dazu bewegen können, ihnen etwas Entscheidendes zu sagen, aber vielleicht kann sie die Polizei zu dem Foto führen, das möglicherweise der Schlüssel zu allem ist.
Saga blinkt, fährt von der Autobahn ab, geht vom Gas und fährt anschließend links auf die Landstraße 77, fährt unter der Autobahn in Richtung Knivsta her. Kurz darauf biegt sie in einen kleinen, schmalen Kiesweg, der parallel zur Autobahn verläuft.
Niedriger Fichtenwald steht dicht neben einem brachliegenden Feld. Der gemauerte Rand einer Güllegrube hat nachgegeben, und das Blechdach hängt schief.
»Wir müssen gleich da sein«, sagt Saga mit einem Blick auf ihr Navigationsgerät.
Langsam rollen sie bis zu einem rostigen Schlagbaum und halten an. Als Joona aus dem Wagen steigt, hört er den Verkehr auf der Autobahn als leblos schwingendes Dröhnen.
In zwanzig Metern Entfernung sehen sie ein einstöckiges Haus aus schmutzig gelben Backsteinen mit angeschraubten Fensterläden und moosbewachsenen Eternitplatten auf dem Dach.
Als sie sich dem Haus nähern, hören sie einen seltsam sirrenden Laut.
Saga sieht Joona an, und sie bewegen sich vorsichtig auf die Haustür zu, sind auf einmal sehr wachsam. Es raschelt hinter dem Haus, und sie hören erneut das metallische Jaulen.
Das Geräusch kommt schnell näher, und ein großer Hund wirft sich ihnen entgegen. Er stoppt mit offenem Maul nur einen Meter vor Saga, steht auf den Hinterläufen. Dann wird er zurückgezogen, setzt die Vorderläufe ab und beginnt zu bellen. Es ist ein großer Schäferhund mit ungepflegtem Fell. Er bellt aggressiv, wirft den Kopf und läuft seitlich. Erst jetzt sehen sie, dass der Hund an einer langen Leine festgemacht ist. Wenn er läuft, rutscht die Leine mit einem sirrenden Geräusch über ein gespanntes Stahlseil.
Der Hund macht kehrt und hetzt auf Joona zu, wird von der Leine gestoppt und federnd zurückgezogen. Er bellt wütend, wird dann jedoch von einer Stimme aus dem Haus abrupt zum Schweigen gebracht.
»Nils«, ruft eine Frau.
Der Hund wimmert und läuft mit eingezogenem Schwanz im Kreis. Der Boden knarrt, und kurze Zeit später öffnet sich die Tür. Verfolgt von dem sirrenden Laut läuft der Hund hinters Haus. Edith Schwartz tritt in einem genoppten violetten Bademantel auf die Treppe hinaus und sieht sie an.
»Wir müssen Sie sprechen«, sagt Joona.
»Ich habe schon alles gesagt, was ich weiß«, erwidert sie.
»Dürfen wir hereinkommen?«
»Nein.«
Joona schaut an ihr vorbei in das dunkle Haus hinein. Der Flur ist vollgestopft mit Töpfen und Tellern, einem grauen Staubsaugerschlauch, Kleidern, Schuhen und rostigen Krebsreusen.
»Wir können auch hier stehen bleiben«, meint Saga freundlich.
Joona wirft einen Blick in die Notizen und beginnt seine Befragung damit, Details aus der Vernehmung zu kontrollieren. Es ist eine Standardmethode, um eventuelle Lügen oder Beschönigungen aufzuspüren, weil es oft schwierig ist, sich an unwahre Details zu erinnern, die man im Augenblick der Vernehmung erfunden hat.
»Was hat Palmcrona am Mittwoch gegessen?«
»Kalbshackfrikadellen in Sahnesauce«, antwortet sie.
»Mit Reis?«, fragt Joona.
»Salzkartoffeln. Immer mit Salzkartoffeln.«
»Um wie viel Uhr sind Sie am Donnerstag in Palmcronas Wohnung angekommen?«
»Um sechs.«
»In welcher Angelegenheit verließen Sie am Donnerstag Palmcronas Wohnung?«
»Er gab mir frei.«
Joona sieht ihr in die Augen und denkt, dass es wenig Sinn hat, um die wirklich wichtigen Fragen herumzureden.
»Hatte Palmcrona die Schlinge schon am Mittwoch aufgehängt?«
»Nein«, antwortet Edith Schwartz.
»Das haben Sie aber unserem Kollegen John Bengtsson gesagt«, wirft Saga ein.
»Nein.«
»Wir haben die gesamte Vernehmung auf Band«, erklärt Saga mit unterdrücktem Ärger, verstummt dann aber plötzlich.
»Haben Sie mit Palmcrona über die Schlinge gesprochen?«, fragt Joona.
»Wir haben nie über Privates gesprochen.«
»Aber ist es nicht merkwürdig, einen Mann einfach mit einer baumelnden Schlinge allein zu lassen?«, fragt Saga.
»Ich konnte ja schlecht dableiben und zusehen«, antwortet Edith Schwartz schmunzelnd.
»Nein«, meint Saga ruhig.
Zum ersten Mal scheint Edith Schwartz Saga richtig anzusehen. Ungeniert lässt sie ihren Blick über Sagas Elfenhaar mit den bunten Stoffbändern, das ungeschminkte Gesicht, die verblichene Jeans und die Turnschuhe wandern.
»Aber ich kapiere das nicht«, sagt Saga. »Unserem Kollegen haben Sie gesagt, dass Sie die Schlinge am Mittwoch gesehen haben, und wenn ich Sie jetzt danach frage, behaupten Sie das Gegenteil.«
Joona wirft einen Blick in sein Notizbuch und betrachtet die Notiz, die er sich vor einer Minute gemacht hat, als Saga danach fragte, ob Palmcrona die Schlinge bereits am Mittwoch aufgehängt hatte.
»Frau Schwartz«, sagt Joona. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie uns sagen wollen.«
»Gut«, erwidert sie leise.
»Auf die Frage, ob Palmcrona die Schlinge schon am Mittwoch befestigt habe, antworteten Sie mit Nein, weil es nicht er war, der die Schlinge befestigt hat.«
Die ältere Frau blickt auf, sieht ihn an, ihr Blick ist hart.
»Er hat es versucht, aber es klappte nicht, nach seiner Rücken-OP im letzten Winter war er dazu viel zu steif … Also hat er mich gebeten, es zu tun.«
Es wird wieder still. Die Bäume stehen regungslos im statischen Sonnenschein.
»Dann haben also Sie letzten Mittwoch die Wäscheleine mit der Schlinge am Lampenhaken befestigt?«, fragt Joona.
»Er bereitete den Knoten vor und hielt die Leiter fest, als ich hinaufstieg.«
»Anschließend haben Sie die Leiter weggetragen, weitergearbeitet und sind am Mittwochabend nach Hause gefahren, sobald Sie nach dem Abendessen gespült hatten«, sagt Joona.
»Ja.«
»Am nächsten Morgen sind Sie zurückgekehrt«, fährt er fort, »haben wie üblich die Wohnung betreten und ihm sein Frühstück gemacht.«
»Wussten Sie da, dass er nicht in der Schlinge hing?«, fragt Saga.
»Ich hatte im kleinen Salon nachgesehen«, antwortet Edith Schwartz.
Der Anflug eines spöttischen Lächelns huscht über ihr verschlossenes Gesicht.
»Sie haben uns bereits erzählt, dass Palmcrona genauso frühstückte wie sonst auch, aber auch an diesem Morgen fuhr er nicht zur Arbeit.«
»Er saß mindestens eine Stunde im Musikzimmer.«
»Und hörte Musik?«
»Ja«, antwortet sie.
»Kurz vor Mittag führte er ein kurzes Telefonat«, bemerkt Saga.
»Das weiß ich nicht, er hielt sich in seinem Arbeitszimmer auf, und die Tür war geschlossen, aber bevor er sich zu Tisch setzte und den pochierten Lachs aß, bat er mich, für zwei Uhr ein Taxi zu bestellen.«
»Er wollte zum Flughafen Arlanda«, sagt Joona.
»Ja.«
»Um zehn vor zwei wurde er angerufen?«
»Ja, er war schon im Mantel und ging im Flur an den Apparat.«
»Konnten Sie hören, was er sagte?«, fragt Saga.
Edith Schwartz kratzt sich an ihrem Pflaster und legt anschließend die Hand auf die Türklinke.
»Es ist kein Albtraum zu sterben«, sagt sie leise.
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie gehört haben, was er sagte«, beharrt Saga.
»Jetzt müssen Sie mich bitte entschuldigen«, sagt Edith Schwartz kurz angebunden und will die Tür zuziehen.
»Warten Sie, bitte«, sagt Joona.
Die Tür hält plötzlich in ihrer Bewegung inne, und die Haushälterin sieht ihn durch den Türspalt an, ohne wieder aufzumachen.
»Sind Sie schon dazu gekommen, Palmcronas Post von heute zu sortieren?«, erkundigt sich Joona.
»Selbstverständlich.«
»Holen Sie bitte alles, was keine Reklame ist«, fordert Joona sie auf.
Sie nickt, geht ins Haus, schließt die Tür hinter sich und kehrt kurz darauf mit einer blauen Plastikablage voller Post zurück.
»Danke«, sagt Joona und nimmt sie entgegen.
Sie zieht die Tür zu und schließt ab. Sekunden später beginnt die Hundeleine wieder zu sirren. Als sie zum Auto zurückkehren und einsteigen, hören sie hinter sich das aggressive Bellen des Schäferhunds.
Saga lässt den Motor an, schaltet und wendet. Joona zieht Schutzhandschuhe an, blättert in den Briefen, greift nach einem weißen handschriftlich adressierten Umschlag, öffnet ihn und zieht behutsam das Foto heraus, das mindestens zwei Menschen das Leben gekostet hat.