Penelope steht zwischen Saga Bauer und Joona Linna hinter einem gepanzerten Einsatzwagen vor der japanischen Botschaft in der Skarpögatan. Sie befinden sich nur fünfzig Meter vom Eingang zur deutschen Botschaft entfernt. Sie spürt das Gewicht der Schutzweste auf ihren Schultern und den Druck auf der Brust.
In fünf Minuten wird drei Personen für fünfundvierzig Minuten Zutritt zum Botschaftsgelände gewährt werden, damit sie versuchen können, den Tatverdächtigen zu identifizieren und festzunehmen.
Schweigend akzeptiert Penelope, dass Joona eine zusätzliche Pistole in einem Halfter auf ihrem Rücken deponiert. Er ändert den Winkel mehrmals, sodass er die Reservewaffe problemlos von ihrem Körper an sich reißen kann.
»Sie will das nicht«, bemerkt Saga.
»Ist schon in Ordnung«, sagt Penelope.
»Wir wissen nicht, was uns da drinnen erwartet«, sagt Joona. »Ich hoffe, dass alles ruhig ablaufen wird, aber falls es anders kommen sollte, könnte diese Waffe entscheidend sein.«
In der ganzen Gegend wimmelt es nur so von schwedischen Polizisten, Beamten des Staatsschutzes, Einsatzkräften und Krankenwagen.
Joona Linna betrachtet die Reste des ausgebrannten Volvos, von dem kaum mehr als das verkohlte Chassis übrig geblieben ist. Wrackteile liegen auf der Kreuzung verteilt. Erixon hat bereits ein Zündhütchen und Reste von Nitraminen gefunden.
»Wahrscheinlich Hexogen«, sagt er und schiebt die Brille auf seiner Nase hoch.
»Plastiksprengstoff«, sagt Joona und sieht auf die Uhr.
Ein Schäferhund scharwenzelt um die Beine eines Polizisten, legt sich auf den Asphalt und hechelt mit hängender Zunge.
Saga, Joona und Penelope werden von einer Einsatzgruppe zum Zaun eskortiert, wo sie von vier deutschen Militärpolizisten mit verschlossenen Gesichtern erwartet werden.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigt Saga Penelope. »Sie werden den Täter nur identifizieren, und sobald Sie das getan haben, werden wir Sie hinauseskortieren. Das Schutzpersonal der Botschaft wartet, bis Sie in Sicherheit sind, und wird ihn erst dann festnehmen.«
Ein kräftig gebauter Militärpolizist mit sommersprossigem Gesicht öffnet die Pforte, lässt sie auf das Gelände der Botschaft, begrüßt sie freundlich und stellt sich als Karl Mann, Sicherheitschef, vor.
Sie begleiten ihn zum Haupteingang.
Die Morgenluft ist immer noch kühl.
»Es handelt sich um eine extrem gefährliche Person«, sagt Joona.
»Das ist uns klar, wir sind informiert«, erwidert Karl Mann. »Aber ich bin den ganzen Morgen hier gewesen, und es halten sich nur Diplomaten und deutsche Staatsbürger in der Botschaft auf.«
»Können Sie eine Liste erstellen?«, bittet Saga.
»Wir sind dabei, uns die Aufnahmen der Überwachungskameras anzusehen«, berichtet Karl Mann. »Ich denke nämlich, dass Ihr Kollege sich vertan hat. Ich glaube, dass der Täter an den Toren vorbeigekommen ist, aber statt das Gebäude zu betreten, nur um die Botschaft herumgegangen und Richtung Rundfunkgebäude gelaufen ist.«
»Das ist durchaus möglich«, sagt Joona.
»Wie viele Leute halten sich in der Botschaft auf?«, erkundigt sich Saga.
»Es ist Schalterzeit, und im Moment geht es um vier Geschäftsvorgänge.
»Fünf Personen?«
»Ja.«
»Und wie viel Personal?«, fragt Saga.
»Fünfzehn.«
»Und wie viele Sicherheitskräfte?«
»Im Moment sind wir zu fünft«, antwortet er.
»Sonst ist niemand da?«
»Nein.«
»Keine Schreiner oder Maler oder …«
»Nein.«
»Insgesamt also fünfundzwanzig Personen«, fasst Saga zusammen.
»Wollen Sie sich zunächst alleine umschauen?«, fragt Karl Mann.
»Gegen Begleitung hätten wir nichts einzuwenden«, antwortet Saga.
»So viele wie möglich und so schwer bewaffnet wie möglich«, sagt Joona.
»Sie scheinen wirklich der Meinung zu sein, dass er gefährlich ist«, sagt Karl Mann lächelnd. »Ich kann Ihnen zwei weitere Männer zur Verfügung stellen.«
»Wir wissen nicht, was uns erwartet, wenn …«
»Sie glauben doch, dass seine Schulter durch einen Schuss verletzt wurde«, wendet Karl Mann ein. »Ich kann nicht behaupten, dass ich mich fürchte.«
»Vielleicht hat er das Haus niemals betreten, vielleicht hat er die Botschaft längst wieder verlassen«, sagt Joona gedämpft zu dem Mann. »Aber wenn er noch da ist, müssen wir mit Verlusten rechnen.«
Schweigend gehen Joona, Saga und Penelope in Begleitung von drei Militärpolizisten mit Sturmgewehren und Schockgranaten durch den Flur im Erdgeschoss. Das Botschaftsgebäude ist über mehrere Jahre hinweg renoviert worden, in dieser Zeit wurde der Geschäftsbetrieb in die Artillerigatan verlegt. Obwohl die Renovierung noch nicht ganz abgeschlossen werden konnte, ist man im Frühjahr wieder eingezogen. Es riecht nach Farbe und frisch gesägtem Holz, und manche Fußböden sind noch mit Abdeckpapier bedeckt.
»Als Erstes möchten wir zu den Besuchern, also zu allen, die nicht zum Personal gehören«, sagt Joona.
»Das habe ich mir schon gedacht«, erwidert Karl Mann.
Von einer eigentümlichen inneren Ruhe erfüllt geht Penelope zwischen Saga Bauer und Joona Linna. Aus irgendeinem Grund kann sie nicht glauben, dass sie ihrem Verfolger in dieser Botschaft begegnen wird. Die Räumlichkeiten wirken dafür viel zu unspektakulär und still.
Dann aber merkt sie, dass Joonas Aufmerksamkeit sich erhöht, seine Bewegungen neben ihr sich verändern, und sie sieht, dass seine Augen Türen und Belüftungsklappen absuchen.
Plötzlich hört man durch die Wände ein piependes Alarmsignal, und die Gruppe bleibt stehen. Karl Mann hebt sein Walkie-Talkie und spricht auf Deutsch mit einem seiner Kollegen.
»Das war der Alarm an einer Tür, die ständig Ärger macht«, erläutert er anschließend auf Schwedisch. »Sie ist abgeschlossen, aber der Alarm reagiert, als hätte sie dreißig Sekunden offen gestanden.«
Sie setzen ihren Weg durch den Korridor fort, und Penelope Fernandez spürt die Pistole, die gegen ihren Rücken schlägt, bei jedem Schritt.
»Da vorn sitzt unser Handelsattaché Martin Schenkel«, erklärt Karl Mann. »Er hat Besuch von Roland Lindkvist.«
»Wir würden gerne zu den beiden«, sagt Joona.
»Er hat darum gebeten, bis Mittag nicht gestört zu werden.«
Joona erwidert nichts.
Saga hält Penelope am Oberarm fest, und die beiden bleiben stehen, während die anderen bis zu der geschlossenen Tür weitergehen.
»Warten Sie hier bitte kurz«, sagt der Militärpolizist zu Joona und klopft an.
Er bekommt eine Antwort, wartet einen Moment und erhält die Erlaubnis einzutreten. Er öffnet die Tür, geht hinein und schließt die Tür hinter sich.
Joona schaut zu einem Raum ohne Tür hinüber. Eine graue Plastikplane verdeckt die Türöffnung. In dem Zimmer dahinter erahnt man einen Stapel Rigipsplatten. Das Plastik bauscht sich leise raschelnd wie ein Segel. Joona macht einen Schritt auf die Plane zu.
Auf der anderen Seite der verschlossenen Tür zum Zimmer des Handelsattachés hört man Geräusche, Stimmen und ein kräftiges Poltern. Penelope weicht zurück, würde am liebsten weglaufen.
»Wir warten hier«, sagt Saga leise und zieht ihre Pistole.
Penelope muss daran denken, dass diese Botschaft im Frühjahr 1975 vom Kommando Holger Meins besetzt wurde. Die Terroristen hielten damals zwölf Menschen als Geiseln. Sie erinnert sich an die Forderung, Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und weitere dreiundzwanzig in Deutschland inhaftierte Mitglieder der RAF freizulassen. Durch diese Korridore sind sie gelaufen und haben sich angeschrien, durch diese Flure schleiften sie den Botschafter Dietrich Stoecker an den Haaren und stießen Heinz Hillegaarts blutigen Körper die Treppen hinunter. Penelope erinnert sich nicht mehr genau, wie damals die Verhandlungen abliefen, aber nachdem Bundeskanzler Helmut Schmidt dem schwedischen Premierminister Olof Palme mitgeteilt hatte, dass man die Forderungen der Geiselnehmer nicht erfüllen würde, wurden zwei Geiseln erschossen. Karl-Heinz Dellwo schrie mit gellender Stimme, er werde stündlich eine Geisel erschießen, bis die Forderungen erfüllt sein würden.
Jetzt sieht Penelope, dass Joona Linna sich umdreht und zur Tür des Handelsattachés geht. Die beiden anderen Militärpolizisten rühren sich nicht von der Stelle. Joona zieht eine große, silbrig glänzende Pistole, entsichert sie und klopft anschließend an die Tür.
In dem Flur breitet sich ein Geruch aus, als würde auf einem Herd etwas anbrennen.
Joona klopft erneut, lauscht und hört eine monotone Stimme, die klingt, als wiederhole sie immer wieder dieselbe Phrase. Er wartet einige Sekunden, verbirgt die Pistole hinter seinem Körper und drückt die Klinke herunter.
Der Befehlshaber der Militärpolizisten steht direkt unter der Deckenlampe, das Sturmgewehr hängt von seiner Hüfte herab. Er wirft einen Blick auf Joona und wendet sich danach der Person zu, die am anderen Ende des Zimmers in einem Sessel sitzt.
»Herr Schenkel, das ist der schwedische Kommissar«, sagt er.
Bücher und volle Aktenordner liegen auf dem Fußboden verteilt, als wären sie in einem Wutanfall vom Schreibtisch gefegt worden. Handelsattaché Martin Schenkel sitzt in einem Sessel, den Blick auf den Fernseher gerichtet. Es läuft die Liveübertragung eines Spiels der deutschen Fußballnationalmannschaft, die in Peking gegen China spielt.
»Hatten Sie nicht Besuch von Roland Lindkvist?«, fragt Joona ruhig.
»Er ist gegangen«, antwortet Martin Schenkel, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.
Sie setzen ihren Weg durch den Korridor fort. Karl Mann ist jetzt schlechter gelaunt und kommandiert die beiden anderen Militärpolizisten mit kurz angebundener Stimme. Eine Frau in einem hellgrauen Strickkleid geht schnellen Schritts über die braune Abdeckpappe auf dem frisch abgeschliffenen Fußboden im nächsten Korridor.
»Wer ist das?«, erkundigt sich Joona.
»Die Sekretärin des Botschafters«, antwortet Karl Mann.
»Wir würden uns gerne mit ihr unterhalten und …«
Plötzlich ertönt im ganzen Gebäude ein heulender Alarmton, und eine Stimme vom Band erklärt auf Deutsch, dass es sich nicht um einen Probealarm handelt und alle auf der Stelle das Gebäude verlassen und nicht den Aufzug benutzen sollen.