54 Das Quiz

Penelope und Björn sehen sich mit müden, ernsten Augen an. Durch die geschlossene Tür hören sie Ossian Wallenberg wie Zarah Leander »Wenn der weiße Flieder wieder blüht« singen, während er die Möbel umstellt.

»Wir könnten ihn überwältigen«, flüstert Penelope.

»Vielleicht.«

»Wir müssen es versuchen.«

»Und dann, was machen wir dann? Sollen wir ihn etwa foltern, um an den PIN zu kommen?«

»Ich denke, wenn sich die Machtverhältnisse geändert haben, wird er ihn uns geben«, erwidert Penelope.

»Und wenn er das nicht tut?«

Als sie zum Fenster geht und versucht, die Haken zu lösen, taumelt sie vor Erschöpfung. Ihre Finger sind wund und schwach. Sie bleibt stehen und betrachtet ihre Hände im Tageslicht, sieht den Schmutz unter den eingerissenen Fingernägeln, die Finger, grau von Erde und Lehm, bedeckt von geronnenem Blut aus verschiedenen Wunden.

»Hier hilft uns keiner, wir müssen weiter«, sagt sie. »Wenn wir am Ufer entlanglaufen, dann …«

Sie verstummt und sieht Björn an, der in seinem blauen Lederjackett zusammengesunken auf der Bettkante sitzt.

»Schön«, sagt er leise. »Tu das.«

»Ich lasse dich hier nicht zurück.«

»Aber ich kann nicht mehr, Penny«, sagt er, ohne sie anzusehen. »Meine Füße, ich werde nicht laufen können, ich kann vielleicht eine halbe Stunde gehen, aber die Wunden bluten immer noch.«

»Ich helfe dir.«

»Vielleicht gibt es auf dieser Insel keine anderen Telefone, wir wissen es nicht, wir haben keine Ahnung.«

»Ich mache nicht mit bei seinem ekelhaften …«

»Penny, wir … wir müssen mit der Polizei sprechen, wir müssen sein Handy benutzen.«

Breit grinsend öffnet Ossian Wallenberg die Tür. Er ist mit einem leopardenfellgemusterten Jackett und einem leopardenfellgemusterten Lendenschurz bekleidet. Mit grazilen Bewegungen geleitet er sie zu der riesigen Couch. Die Vorhänge sind zugezogen, und er hat die Möbel an die Wände geschoben, sodass er sich frei im Raum bewegen kann. Ossian tritt in das Licht der beiden Stehlampen, bleibt stehen und dreht sich um.

»Liebe Freitagsfreunde, wenn man gut unterhalten wird, vergeht die Zeit wie im Flug«, sagt er und zwinkert mit einem Auge. »Wieder einmal ist es Zeit für unser Quiz, und wir begrüßen ganz herzlich die Prominenten des heutigen Abends. Einen verdreckten Kommunisten und seine minderjährige Liebhaberin. Ein wahrhaft ungleiches Paar, wenn Sie mich fragen. Ein hässliches Entlein und ein junger Mann mit einem wohlproportionierten Torso.«

Ossian Wallenberg lacht und lässt vor der eingebildeten Kamera die Muskeln spielen.

»Nun kommt schon!«, ruft Ossian und joggt auf der Stelle. »Die Wände hoch! Sind alle zum Abstimmen bereit? Ich präsentiere euch … ›Sag die Wahrheit‹! Ossian Wallenberg fordert heraus – das hässliche Entlein und den schönen Jüngling!«

Ossian legt eine leere Weinflasche auf den Fußboden und lässt sie kreiseln. Sie dreht sich einige Runden, kommt dann zum Stillstand, und der Flaschenhals zeigt auf Björn.

»Der Schönling!«, ruft Ossian lächelnd. »Der Schönling darf als Erster ran an die Buletten! Hier kommt die Frage. Sind Sie bereit für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«

»Absolut«, seufzt Björn.

Ein Schweißtropfen fällt von Ossians Nasenspitze, als er den Umschlag öffnet und laut vorliest:

»An wen denken Sie, wenn Sie mit dem hässlichen Entlein schlafen?«

»Sehr witzig«, murmelt Penelope.

»Bekomme ich das Telefon, wenn ich antworte?«, erkundigt sich Björn gefasst.

Ossian spitzt den Mund wie ein Kind und schüttelt den Kopf.

»Nein, aber wenn Ihnen das Publikum Ihre Antwort glaubt, bekommen Sie die erste Zahl des PINs.«

»Und wenn ich mich für Konsequenz entscheide?«

»Dann treten Sie gegen mich an, und das Publikum hat die Wahl«, sagt Ossian. »Aber die Zeit vergeht, tick, tack, tick, tack. Fünf, vier, drei, zwei …«

Penelope betrachtet Björn im hellen Licht der Lampen, sein schmutziges Gesicht, die Bartstoppeln und die strähnigen Haare. Seine Nasenlöcher sind schwarz von getrocknetem Blut und seine Augen müde und rot unterlaufen.

»Wenn wir Sex haben, denke ich an Penelope«, antwortet Björn leise.

Ossian buht, verzieht das Gesicht zu einer angeekelten Miene und joggt ins Licht.

»Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sollte es sein«, schreit er, »aber davon sind wir noch meilenweit entfernt. Kein Mensch im Publikum glaubt, dass Sie an dieses hässliche Entlein denken, wenn Sie mit ihr schlafen. Das macht eins, zwei, drei Minuspunkte für unseren Schönling.«

Erneut lässt er die Flasche kreiseln, die praktisch sofort stehen bleibt und diesmal auf Penelope zeigt.

»Oh, oh, oh«, ruft Ossian. »Eine Spezialfrage! Und was heißt das? Richtig! Konsequenz! Hier gibt’s nicht mal eine Pommes mit Majo auf die Hand. Los geht’s, los! Ich öffne die Luke und höre mal, was das Flusspferd flüstert.«

Ossian nimmt ein kleines Flusspferd aus dunklem, lackiertem Holz vom Tisch, hält es sich ans Ohr, lauscht und nickt.

»Du meinst die Schabracke?«, fragt er und lauscht erneut. »Ich verstehe, Herr Flusspferd. Ja. Vielen Dank.«

Ossian stellt das Flusspferd behutsam ab und wendet sich mit einem Lächeln Penelope zu.

»Die Schabracke tritt gegen Ossian an! Und die Disziplin ist Striptease! Bringen Sie das Publikum mehr in Wallung als ich, bekommen Sie alle Zahlen des PINs – wenn nicht, muss der Schönling Sie möglichst fest in den Arsch treten.«

Ossian hüpft zur Stereoanlage und drückt auf einen Knopf, woraufhin »Teach me Tiger« ertönt.

»Dieses Spiel habe ich mal gegen den Sänger Loa Falkman verloren«, wispert Ossian betont laut, während er im Rhythmus der Musik die Hüften schwingt.

Penelope steht von der Couch auf, tritt einen Schritt vor und bleibt dann in ihren Gummistiefeln, der Nadelstreifenanzughose und dem großen Strickpullover stehen.

»Du willst, dass ich mich ausziehe?«, sagt sie. »Darum geht es hier? Mich nackt zu sehen?«

Ossian hört auf zu singen, bleibt stehen, bekommt einen enttäuschten Zug um den Mund und sieht sie kühl an, ehe er ihr antwortet.

»Wenn es mich interessieren würde, die kleine Fotze einer Flüchtlingshure zu sehen, könnte ich mir eine im Internet bestellen.«

»Und wofür zum Teufel interessierst du dich?«

Ossian gibt ihr eine schallende Ohrfeige. Sie taumelt, fällt fast hin, hält sich aber auf den Beinen.

»Du sollst mich höflich behandeln«, sagt er ernst.

»Okay«, murmelt sie.

In seinen Mundwinkeln zuckt ein Grinsen, dann sagt er:

»Ich bin ein Mensch, der gegen TV-Promis antritt … und dich habe ich gesehen, ehe ich den Sender wechseln konnte.«

Sie mustert sein erregtes, hochrotes Gesicht.

»Du wirst uns das Telefon nicht geben, stimmt’s?«

»Ich gebe dir mein Wort, die Regeln sind, wie sie sind, wenn ich bekomme, was ich will, bekommt ihr das Handy.«

»Du weißt, dass wir in Not sind, und das nutzt du aus, um …«

»Ja, das tue ich«, schreit er.

»Okay, was soll’s, dann machen wir es eben, wir strippen ein bisschen, und dann bekomme ich dein Handy.«

Sie wendet Ossian Wallenberg den Rücken zu und zieht Pullover und T-Shirt aus. In dem grellen Licht leuchten die Schürfwunden auf ihren Schulterblättern und Hüften, die blauen Flecken und der Schmutz. Sie dreht sich um und verbirgt ihre Brüste mit den Händen.

Björn klatscht in die Hände und pfeift mit traurigem Blick. Ossians Gesicht ist verschwitzt, er wirft einen Blick auf Penelope und stellt sich anschließend vor Björn ins Licht. Er lässt die Hüften kreisen und streift plötzlich den Lendenschurz ab, schwenkt ihn im Kreis, bewegt ihn zwischen den Beinen hin und her und wirft ihn schließlich Björn zu.

Ossian wirft Björn eine Kusshand zu und gibt ihm mit einer Geste zu verstehen, dass sie später telefonieren sollen.

Björn klatscht wieder in die Hände, pfeift lauter, klatscht weiter und sieht, dass Penelope den gusseisernen Feuerhaken aus dem Ständer am Kamin nimmt.

Die Ascheschaufel gerät in Schwingung und klirrt leise gegen die große Zange.

Ossian tanzt hüpfend in seiner goldglitzernden Paillettenunterhose.

Penelope hält den Feuerhaken mit beiden Händen und nähert sich Ossian Wallenberg von hinten. Er schwingt vor Björn die Hüften.

»Auf die Knie«, flüstert er Björn zu. »Runter, runter mein Schönling!«

Penelope hebt den schweren Gegenstand und schlägt Ossian mit aller Kraft auf den Oberschenkel. Es klatscht, und Ossian Wallenberg fällt um und schreit auf. Er hält sich den Schenkel, windet sich vor Schmerzen und brüllt. Penelope geht schnurstracks zur Stereoanlage und zertrümmert sie mit vier schweren Schlägen, bis es endlich still wird.

Ossian liegt mittlerweile regungslos, atmet sehr schnell und wimmert. Sie geht zu ihm, und er blickt ängstlich zu ihr hoch. Sie bleibt einen Moment stehen. Der schwere gusseiserne Feuerhaken pendelt langsam in ihrer rechten Hand.

»Herr Flusspferd hat mir zugeflüstert, dass du mir jetzt das Handy und den PIN geben wirst«, sagt sie ruhig.

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