Saga, Joona und Penelope begleiten Veronique Salman durch die verschiedenen Zimmer des Erdgeschosses in die Bibliothek. Ein relativ enger Raum mit kleinen, in Blei eingefassten Fensterscheiben in Gelb, Braun und Rosa, Büchern hinter Glas, braunen Ledermöbeln, einem offenen Kamin und einem Samowar aus Messing.
»Sie müssen entschuldigen, wenn ich Ihnen nichts anbiete, aber ich habe es ziemlich eilig, ich verreise in einer Stunde …«
Veronique Salman schaut sich nervös um und streicht mit der Hand über ihren Rock, ehe sie weiterspricht.
»Ich muss … ich sage nur, was ich sagen muss«, sagt sie gedämpft. »Ich werde nicht als Zeugin aussagen; falls Sie versuchen sollten, mich zu einer Zeugenaussage zu zwingen, werde ich ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen alles leugnen, was ich gesagt habe.«
Sie will einen Lampenschirm gerade rücken, aber ihre Hand zittert so sehr, dass der Schirm erst recht schief hängt.
»Ich reise ohne Pontus, er wird mich nicht begleiten«, sagt sie mit gesenktem Blick. Ihr Mund zittert, und sie sammelt sich einige Sekunden, ehe sie weiterspricht.
»Frau Fernandez«, sagt sie und sieht Penelope in die Augen. »Wissen Sie, ich kann verstehen, dass Pontus in Ihren Augen Abschaum ist, aber das ist er nicht, das ist er wirklich nicht.«
»Ich habe auch gar nicht gesagt …«
»Warten Sie bitte«, unterbricht Veronique Salman sie. »Ich möchte nur sagen, dass ich meinen Mann liebe, aber dass ich … dass ich nicht mehr weiß, was ich davon halten soll, was er tut. Früher habe ich mir gesagt, dass die Menschen immer schon mit Waffen gehandelt haben. Waffenhandel hat es gegeben, solange es Menschen gegeben hat. Ich meine das nicht als Entschuldigung. Ich habe mich im Außenministerium jahrelang mit Sicherheitspolitik beschäftigt. Und wenn man sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, muss man akzeptieren, dass es noch ein weiter Weg ist bis zur Utopie von einer Welt ohne bewaffnete Konflikte. In der Praxis kommt kein Land in der Welt ohne Armee aus, aber … es gibt Nuancen, so denke ich mir das …«
Sie geht zur Tür, öffnet sie, schaut hinaus und schließt sie wieder.
»Waffen in kriegsführende Länder zu exportieren, in einen Konfliktherd, Unruhen weiter zu schüren, indem man ihnen immer mehr Waffen zuführt, so etwas darf man nicht tun.«
»Nein«, flüstert Penelope.
»Ich verstehe den Geschäftsmann Pontus«, fährt Veronique Salman fort. »Denn Silencia brauchte diesen Auftrag wirklich sehr. Der Sudan ist ein großes Land mit unsicherem Munitionsnachschub für seine Sturmgewehre, sie benutzen fast ausschließlich Fabrique Nationale, und Belgien liefert allem Anschein nach keine Munition. Die Augen der Welt sind auf das Land gerichtet, Schweden ist dagegen niemals Kolonialmacht gewesen, wir genießen einen guten Ruf in der Region und so weiter. Pontus sah die Chance, und als der Bürgerkrieg im Sudan vorbei war, handelte er schnell. Raphael Guidi vermittelte das Geschäft. Sie wollten den Vertrag unterzeichnen. Es war alles vorbereitet, als der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wegen der Verwicklung in den Völkermord der Miliz in Darfur auf einmal einen Haftbefehl gegen Präsident al-Bashir ausstellte.«
»Ein Export würde gegen internationales Recht verstoßen«, erläutert Saga.
»Das wussten natürlich alle, aber Raphael blies das Geschäft trotzdem nicht ab, er meinte nur, er habe neue Interessenten gefunden. Es dauerte ein paar Monate, aber dann erklärte er, die kenianische Armee werde als Geschäftspartner einspringen. Ich versuchte, mit Pontus zu sprechen, ihm zu sagen, dass die Munition ganz offensichtlich für den Sudan bestimmt sei, aber Pontus antwortete nur, Kenia habe die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, weil es ein gutes Geschäft sei und das Land Munition brauche. Ich weiß nicht, ob er das selbst geglaubt hat, ehrlich gesagt denke ich es nicht, aber er schob die ganze Verantwortung auf Carl Palmcrona und die Staatliche Waffenkontrollbehörde. Wenn Palmcrona eine Ausfuhrgenehmigung ausstellt, ist alles in bester Ordnung, meinte er und …«
»Damit macht man es sich aber leicht«, wirft Penelope ein.
»Deshalb habe ich das Foto gemacht, ich wollte wissen, wer in dieser Loge saß, ich bin einfach hineingegangen und habe mit meinem Handy ein Bild geschossen, gesagt, ich würde versuchen zu telefonieren, Pontus habe ich erzählt, mir ginge es nicht gut, deshalb würde ich ein Taxi ins Hotel nehmen.«
»Das war mutig«, sagt Penelope.
»Ich wusste ja gar nicht, wie gefährlich es war, sonst hätte ich es mit Sicherheit nicht getan«, sagt Veronique. »Ich war wütend auf Pontus und wollte ihn dazu bringen, sich zu ändern. Ich verließ die Alte Oper mitten im Konzert und sah mir das Bild im Taxi an. Und was ich sah, war reiner Wahnsinn. Die Käuferseite wurde von Agathe al-Haji repräsentiert, sie ist die Sicherheitsberaterin des sudanesischen Präsidenten, ich meine, die Munition würde doch direkt in diesen Bürgerkrieg gepumpt werden, von dem keiner etwas hören will.«
»Völkermord«, flüstert Penelope.
»Als wir nach Hause kamen, sagte ich Pontus, dass er einen Rückzieher machen muss … Ich werde niemals seinen Blick vergessen, als er mich ansah und meinte, das gehe nicht. Er habe einen Paganini-Vertrag geschlossen, erklärte er, und als ich seinen Blick sah, bekam ich Angst. Er war vor Furcht wie gelähmt. Ich wagte es nicht, das Bild auf meinem Handy zu behalten, also druckte ich es aus, löschte es von Speicherkarte und Festplatte und schickte es Ihnen zu.«
Mit hängenden Armen und resigniertem Gesicht steht Veronique Salman vor Penelope.
»Ich wusste nicht, was passieren würde«, sagt sie leise. »Woher sollte ich das wissen? Es tut mir unendlich leid, ich kann Ihnen gar nicht sagen …«
Für einen Moment wird es still im Raum, in der Ferne hört man das Rauschen des Pools.
»Was ist ein Paganini-Vertrag?«, fragt Joona.
»Raphael Guidi besitzt mehrere Geigen von unschätzbarem Wert«, sagt Veronique. »Er sammelt Instrumente, auf denen Paganini vor mehr als hundert Jahren gespielt hat. Manche Geigen bewahrt er zu Hause auf, andere leiht er herausragenden Musikern und …«
Ehe sie weiterspricht, streicht sie sich nervös übers Haar.
»Das mit Paganini … also ganz habe ich es nicht verstanden, aber Pontus sagt, dass Raphael Paganini mit dem Vertrag in Verbindung bringt, er sagt immer, seine Verträge seien ewig gültig, darum geht es ihm. Es werden keine Papiere unterzeichnet, es … Pontus hat mir erzählt, Raphael habe alles vorbereitet. Er habe alle Zahlen im Kopf, kenne die Logistik, wie und wann das Geschäft durchgeführt werden solle. Er erklärte jedem Einzelnen, was von ihm verlangt wurde und wie viel er an dem Geschäft verdienen würde. Wenn man seine Hand geküsst hat, gibt es keinen Ausweg mehr, keine Möglichkeit zur Flucht, keinen Schutz, nicht einmal die Chance zu sterben …«
»Warum nicht?«, fragt Joona.
»Das ist Raphael … ich weiß nicht, er … es ist so grauenvoll«, sagt sie mit zitterndem Mund. »Es gelingt ihm, allen Beteiligten zu entlocken, wie sie … wie sie sich ihren schlimmsten Albtraum vorstellen.«
»Wie bitte?«, sagt Saga.
»Das waren Pontus’ Worte, er meinte, Raphael besitze diese Fähigkeit«, antwortet Veronique Salman.
»Aber was meint er mit Albtraum?«, will Joona wissen.
»Ich habe Pontus gefragt, ob er Raphael etwas erzählt hat, natürlich habe ich ihm diese Frage gestellt«, erwidert sie mit gequältem Gesicht. »Aber er wollte mir nicht antworten, ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Es wird still in der Bibliothek. Unter den Armen von Veronique Salmans Bluse haben sich Schweißflecken gebildet.
»Sie können Raphael Guidi nicht aufhalten«, sagt sie nach einer Weile und sieht Joona in die Augen. »Aber Sie müssen dafür sorgen, dass diese Munition niemals Darfur erreicht.«
»Das werden wir«, versichert Saga.
»Sie müssen wissen … dass die Unruhe nach der Wahl im Sudan nicht in einer Katastrophe endet, liegt vor allem daran, dass es an Munition fehlt, es … wenn der Bürgerkrieg wieder aufflammt, werden die Hilfsorganisationen Darfur verlassen.«
Veronique Salman sieht auf die Uhr, sagt an Joona gewandt, dass sie bald zum Flughafen fahren muss, geht zum Fenster und blickt verträumt durch das farbige Glas.
»Mein Freund ist tot«, sagt Penelope und wischt sich Tränen von den Wangen. »Meine Schwester ist tot, ich weiß nicht, wie viele Menschen noch.«
Veronique Salman dreht sich zu ihr um.
»Frau Fernandez, ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich hatte dieses Foto, ich dachte, wenn überhaupt jemand die Personen in der Loge erkennen würde, dann Sie. Ich dachte, dass Sie verstehen würden, was es heißt, dass Agathe al-Haji Munition kauft, Sie sind doch in Darfur gewesen, Sie haben Kontakte dort, Sie sind Friedensaktivistin und …«
»Aber Sie haben sich geirrt«, unterbricht Penelope sie. »Sie haben das Foto der Falschen geschickt, ich wusste, wer Agathe al-Haji ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie sie aussieht.«
»Ich konnte die Aufnahme doch nicht der Polizei oder einer Zeitungsredaktion schicken, dort hätte niemand ihre Bedeutung erkannt, nicht ohne Erklärungen, und ich konnte die Umstände nicht erläutern, wie hätte ich das tun sollen, das wäre undenkbar gewesen, denn eins war mir klar, man durfte mich nicht mit dem Bild in Verbindung bringen, deshalb habe ich es Ihnen geschickt, ich wollte jede Spur davon entfernen, und ich wusste, dass ich meine Verbindung zu dem Foto niemals enthüllen durfte.«
»Trotzdem haben Sie genau das jetzt getan«, sagt Joona.
»Ja, denn ich … ich …«
»Warum?«, fragt er. »Warum haben Sie es sich anders überlegt?«
»Weil ich das Land verlasse und …«
Sie verstummt und blickt auf ihre Hände hinab.
»Was ist passiert?«
»Nichts«, antwortet sie unter Tränen.
»Sie können es uns erzählen«, sagt Joona.
»Nein, das …«
»Keine Sorge«, flüstert Saga.
Veronique Salman wischt sich die Tränen von ihren Wangen und schaut auf.
»Pontus hat mich aus unserem Sommerhaus angerufen und nur geweint und um Verzeihung gebeten, und ich weiß nicht, was er mit alldem gemeint hat, aber jedenfalls sagte er, er würde alles tun, um nicht mit ansehen zu müssen, dass sein Albtraum in Erfüllung geht.«