In der Ferne, bei der Technischen Hochschule, hört Joona Trompeten röhren, Trillerpfeifen schrillen, und es wird dumpf und schnell auf große Trommeln geschlagen. Ein Demonstrationszug kommt die Odengatan hinunter. Es scheinen etwa siebzig junge Leute mit antifaschistischen Symbolen zu sein. Sie tragen Transparente, auf denen sie dagegen protestieren, wie der Staatsschutz die Mitglieder der Brigade behandelt. Joona sieht ein buntes Tuch mit dem Regenbogensymbol und Hammer und Sichel in der Luft flattern und hört die Jugendlichen mit jungen, hellen Stimmen skandieren:
»Der Staatsschutz stinkt faschistisch, der Staat handelt terroristisch!«
Die erregten Geräusche von der Odengatan verschwinden langsam, während Joona Linna und Saga Bauer den idyllischen Bragevägen hinaufgehen, einen kurvigen Anstieg, der bis zur Engelbrektskirche führt. Sie haben sich mit der Staatlichen Kontrollbehörde in Verbindung gesetzt und erfahren, dass der Generaldirektor an diesem Vormittag zu Hause arbeitet.
Linkerhand steht der schöne Privatpalast, in dem die Gebrüder Riessen in zwei separaten Wohnungen leben. Eine massive Fassade: dunkle, handgefertigte Ziegel, Fensterscheiben mit Bleieinfassungen, kunstvolle Schnitzereien und mit Grünspan überzogene Kupferarbeiten rund um Erker und Schornsteine.
Sie gehen zu der dunkel glänzenden Haustür mit einem Messingschild, auf dem der Name Axel Riessen steht. Saga betätigt den Knopf der Türklingel. Kurz darauf wird die schwere Tür von einem großen sonnengebräunten Mann mit freundlichem Gesicht geöffnet.
Saga stellt sich als Kommissarin beim Staatsschutz vor und erklärt kurz ihr Anliegen. Axel Riessen mustert sorgsam ihren Ausweis und blickt dann auf:
»Ich bezweifle, dass ich Ihnen irgendwie nützlich sein kann, aber …«
»Es ist uns trotzdem immer ein Vergnügen, vorbeizuschauen«, sagt Joona Linna.
Axel Riessen wirft ihm einen erstaunten Blick zu, lächelt dann jedoch anerkennend über den ironischen Kommentar. Er bittet sie in den hellen, hohen Flur. Axel Riessen trägt eine dunkelblaue Anzughose und ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen, seine Füße stecken in Pantoffeln. Er holt zwei weitere Paare Pantoffeln aus einem flachen, glänzenden Schrank und bietet sie Saga und Joona an.
»Ich schlage vor, dass wir uns in die Orangerie setzen, dort ist es ein wenig kühler.«
Sie folgen Axel Riessen durch die große Wohnung, vorbei an der breiten Mahagonitreppe, dunklen Wandvertäfelungen und zwei großen Salons.
Die Orangerie erweist sich als verglaste Veranda zum Garten hin, in dem die hohe Hecke grüne Schatten wirft und eine Wand aus Blättern und Bewegung erschafft. Geruchslose Orchideen und würzige Kräuter stehen säuberlich aufgereiht auf Kupfertischen und gekachelten Flächen.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagt Axel Riessen und zeigt auf die Sitzmöbel. »Ich wollte mir gerade Tee und Crumpets gönnen. Es wäre nett, wenn Sie mir Gesellschaft leisten würden.«
»Crumpets habe ich nicht mehr gegessen, seit ich auf einem Sprachkurs in Edinburgh war«, erwidert Saga lächelnd.
»Na also«, sagt Axel zufrieden und verlässt den Raum.
Wenige Minuten später kehrt er mit einem Metalltablett zurück. Er platziert die Kanne, den Dessertteller mit Zitronenschnitzen und die Zuckerdose auf dem Tisch. Die warmen Pfannkuchen liegen in einem Leinentuch neben einer Butterdose. Axel deckt sorgfältig für alle drei, stellt Teetassen und Teller auf den Tisch, legt neben jedes Gedeck eine Leinenserviette und gießt anschließend Tee ein.
Durch Türen und Wände hören sie leise Geigenmusik.
»Schießen Sie los, womit kann ich Ihnen dienen?«, fragt Axel.
Saga stellt vorsichtig ihre Tasse ab. Sie räuspert sich.
»Wir müssen Ihnen einige Fragen zur Staatlichen Waffenkontrollbehörde stellen und hoffen, dass Sie uns unterstützen werden.«
»Natürlich, aber wenn das so ist, muss ich kurz telefonieren und überprüfen, dass alles seine Ordnung hat«, sagt Axel Riessen freundlich und greift nach seinem Handy.
»Selbstverständlich«, erwidert Saga.
»Entschuldigen Sie bitte, wie war noch gleich Ihr Name?«
»Saga Bauer.«
»Dürfte ich mir noch einmal Ihren Ausweis borgen, Frau Bauer?«
Sie reicht ihm das Dokument, er steht auf und verlässt den Raum. Sie hören ihn kurz telefonieren, wonach er wieder hereinkommt, sich bedankt und ihr den Dienstausweis zurückgibt.
»Im letzten Jahr hat die Staatliche Kontrollbehörde Ausfuhrgenehmigungen für Südafrika, Namibia, Tansania, Algerien und Tunesien ausgestellt«, beginnt Saga, als wäre sie gar nicht unterbrochen worden. »Munition für schwere Maschinengewehre, tragbare Panzerabwehrwaffen, Panzerfäuste, Granatwerfer …«
»Nicht zu vergessen das Kampfflugzeug Saab JAS 39 Gripen«, fährt Axel Riessen fort. »Mit einigen dieser Länder arbeitet Schweden seit vielen Jahren zusammen.«
»Aber nie mit dem Sudan?«
Er begegnet erneut ihrem Blick, und der Ansatz eines Lächelns huscht über sein Gesicht.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich meine, vor dem Haftbefehl gegen Präsident al-Bashir«, erläutert sie.
»Das habe ich schon verstanden«, antwortet er. »Seitdem ist es ja ohnehin völlig undenkbar, wir nennen das einen unumstößlichen Hinderungsgrund, da gibt es keinen Verhandlungsspielraum.«
»Sie haben vermutlich bereits die Zeit gefunden, einige der Entscheidungen durchzusehen, die von Palmcrona getroffen wurden«, erkundigt sich Saga.
»Selbstverständlich«, erwidert Axel Riessen.
»Ist ihnen irgendetwas aufgefallen?«
»Was soll mir aufgefallen sein?«
»Entscheidungen, die Ihnen seltsam vorkommen«, erläutert Saga und nippt an ihrem Tee.
»Gibt es Gründe, für einen solchen Verdacht?«
»Das fragen wir Sie«, entgegnet sie lächelnd.
»Dann lautet meine Antwort Nein.«
»Wie weit sind Sie zurückgegangen?«
Joona lauscht Sagas Fragen zu Klassifizierungen, vorläufigen Bescheiden und Ausfuhrgenehmigungen, während er Axel Riessens ruhiges, lauschendes Gesicht beobachtet. Auf einmal hört er erneut Geigenmusik. Sie kommt von draußen, durch das offene Fenster zum Hof. Eine Mazurka mit hohen, traurigen Tönen. Dann verstummt die Musik abrupt, das Stück fängt noch einmal von vorne an, hört erneut auf und wird dann weitergespielt.
Joona lauscht der Musik und denkt an das Foto von den vier Personen in der privaten Loge. Gedankenverloren berührt er seine Tasche, in der er eine Kopie des Bildes aufbewahrt.
Er denkt an Palmcrona, der mit einer Wäscheleine um den Hals von der Decke herabhing, an das Testament und den Tod des Sohns.
Joona sieht, dass Saga zu etwas nickt, was Axel Riessen sagt. Ein grüner Streifen bewegt sich zitternd über das Gesicht des Mannes, irgendetwas spiegelt sich in dem Kupfertablett auf dem Tisch.
Palmcrona erkannte sofort den Ernst der Lage, überlegt Joona. Björn Almskog musste in seinem Erpresserbrief nur schreiben, dass Palmcrona auf einem Foto zusammen mit dem Waffenhändler Raphael Guidi in einer Loge zu sehen war. Carl Palmcrona bezweifelte keine Sekunde, dass die Aufnahme echt war.
Vielleicht wusste er bereits von ihrer Existenz.
Oder die Tatsache, dass der Erpresser von dem Treffen in der Loge wusste, war ein Beweis für die Existenz des Bildes.
Axel Riessen gießt Saga noch etwas Tee ein. Sie wischt sich einen Krümel aus dem Mundwinkel.
Hier stimmt etwas nicht, denkt Joona.
Pontus Salman konnte den Zeitpunkt des Treffens bestimmen. Er schien das Foto nicht als Bedrohung zu empfinden.
Warum war es dann in Palmcronas Augen so gravierend?
Er hört Axel Riessen und Saga diskutieren, wie sich die Rahmenbedingungen für die Sicherheitspolitik verändern, wenn über ein Land ein Embargo verhängt oder ein bereits bestehendes aufgehoben wird.
Joona brummt kurz, damit die anderen glauben, dass er ihrem Gespräch folgt, konzentriert sich in Wirklichkeit aber weiter auf seine Gedankengänge zu dem Foto.
Der Tisch in der privaten Loge war für vier gedeckt, und auf dem Bild waren vier Personen zu sehen. Das heißt, dass die fünfte Person, die eine Kamera in der Hand hielt, nicht zu den Gästen gehörte, ihr weder ein Platz am Tisch noch ein Glas Champagner angeboten wurde.
Die fünfte Person könnte die Antwort auf alle Fragen kennen.
Wir müssen Penelope Fernandez unbedingt schnell zum Sprechen bringen, denkt Joona. Auch wenn sie nicht die Fotografin ist, könnte sie der Schlüssel zur Lösung des Rätsels sein.
Er kehrt in Gedanken zu den Personen auf dem Foto zurück: Palmcrona, Guidi, Agathe al-Haji und Pontus Salman.
Joona erinnert sich an ihre Begegnung mit Pontus Salman, bei der dieser sich selbst auf dem Foto identifiziert hat. Das einzig Bemerkenswerte an dem Bild war ihm zufolge die Tatsache, dass Carl Palmcrona den Champagner nicht dankend abgelehnt hatte, da es doch nichts zu feiern gab, weil es sich nur um eine erste Besprechung handelte.
Und wenn es doch etwas zu feiern gab?
Joonas Puls schlägt schneller.
Man stelle sich vor, alle vier hätten im nächsten Moment ihr Glas erhoben und angestoßen.
Pontus Salman identifizierte sich selbst und erläuterte den Hintergrund für das Treffen und Ort und Zeitpunkt.
Der Zeitpunkt, denkt Joona, das Foto könnte zu einem anderen Zeitpunkt gemacht worden sein.
Wir wissen nur, was Pontus Salman uns gesagt hat, dass die Besprechung in Frankfurt am Main im Frühjahr 2008 stattfand.
Wir brauchen Penelope Fernandez’ Hilfe.
Joona sieht seine eigenen Hände auf der Tasche liegen. Er überlegt, dass es möglich sein müsste, die Musiker im Hintergrund der Aufnahme zu identifizieren, ihre Gesichter sind gut zu sehen. Jemand müsste sie erkennen können.
Denn wenn wir die Musiker identifizieren können, lässt sich eventuell auch der Zeitpunkt des Treffens bestimmen. Es spielen vier Personen, ein Quartett.
Vielleicht haben diese vier ja nur einmal zusammengespielt. Das würde den Zeitpunkt natürlich zweifelsfrei festlegen.
Aber natürlich, sagt er sich. Das hätten wir längst tun sollen. Er überlegt, Saga bei Axel Riessen zu lassen und zum Präsidium zu fahren, um mit Petter Näslund zu sprechen, ihn zu fragen, ob sie daran gedacht haben, dass die Konstellation der Musiker eine exakte Zeitbestimmung ermöglichen könnte.
Er sieht Saga an, sieht sie Axel Riessen anlächeln und ihn dann nach der Konsolidierung der amerikanischen Rüstungsindustrie fragen. Sie erwähnt zwei neue Megakonzerne, Raytheon und Lockheed Martin.
Erneut hört er durch das offene Fenster Geigenmusik, diesmal ein schnelleres Stück. Es bricht plötzlich ab, und danach hört es sich an, als würden prüfend zwei Saiten angeschlagen.
»Wer spielt da?«, fragt Joona und steht auf.
»Mein Bruder Robert«, antwortet Axel Riessen etwas erstaunt.
»Ich verstehe – er ist Geiger?«
»Der Stolz unserer Familie … aber in erster Linie ist er Geigenbauer, er hat sein Atelier hier im Haus, auf der Rückseite.«
»Meinen Sie, ich könnte ihn etwas fragen?«