Joona liest die Mail, bleibt kurz regungslos stehen, öffnet die beiden anderen Mails, liest sie zwei Mal und geht zu Saga Bauer, die sich noch im Musikzimmer aufhält.
»Habt ihr was gefunden?«, erkundigt sie sich.
»Ja … am zweiten Juni«, beginnt Joona, »ist über einen anonymen Absender ein Erpresserschreiben von Björn Almskog auf Carl Palmcronas Computer eingegangen.«
»Dann geht es bei dem allen also um Erpressung«, sagt sie seufzend.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwidert Joona.
Er berichtet weiter von Carl Palmcronas letzten Tagen. Gemeinsam mit Gerald James vom Technisch-Wissenschaftlichen Rat hatte Palmcrona die Waffenfabrik von Silencia Defence in Trollhättan besucht. Aller Wahrscheinlichkeit nach las er Björn Almskogs Mail deshalb nach seiner Heimkehr am Abend, denn seine Mail an den Erpresser wurde erst um 18.25 Uhr versendet. In seiner Antwort warnt Palmcrona den Erpresser vor ernsten Konsequenzen. Um die Mittagszeit am nächsten Tag schickt Palmcrona dem Erpresser eine zweite Mail, in der er seine vollkommene Resignation zum Ausdruck bringt. Danach hat er vermutlich eine Schlinge an der Decke befestigt und die Haushälterin gebeten, ihn in Ruhe zu lassen. Als sie gegangen ist, macht er Musik an, geht in den kleinen Salon, stellt seine Aktentasche hochkant, steigt hinauf, legt sich die Schlinge um den Hals und stößt die Tasche um. Kurz nach seinem Tod geht Björn Almskogs zweite Mail auf Palmcronas Server ein und am nächsten Tag die dritte.
Joona legt die fünf ausgedruckten Mails in der richtigen Reihenfolge auf den Tisch. Saga stellt sich neben ihn und liest die gesamte Korrespondenz.
Björn Almskogs erste Mail, Mittwoch, 2. Juni, 11.37 Uhr:
Bester Carl Palmcrona,
ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, dass ich in den Besitz eines kompromittierenden Originalfotos gelangt bin. Auf dem Bild sieht man Sie in einer privaten Loge sitzen und mit Raphael Guidi Champagner trinken. Da ich Verständnis dafür habe, wie unangenehm dieses Dokument für Sie ist, bin ich bereit, Ihnen das Foto für eine Million Kronen zu verkaufen. Sobald Sie diese Summe auf das Transitkonto 837-9 222701730 eingezahlt haben, werde ich Ihnen das Foto zuschicken und diese Korrespondenz löschen.
Mit freundlichen Grüßen
Carl Palmcronas Antwort, Mittwoch, 2. Juni, 18.25 Uhr:
Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber eins weiß ich genau, Sie haben keine Ahnung, worauf Sie sich da eingelassen haben, Sie haben nicht die geringste Ahnung. Ich warne Sie, die Sache ist sehr ernst, und ich flehe Sie an: Bitte, geben Sie mir das Foto, ehe es zu spät ist.
Carl Palmcronas nächste Mail, Donnerstag, 3. Juni, 14.02 Uhr:
Jetzt ist es zu spät, Sie und ich, wir werden beide sterben.
Björn Almskogs zweite Mail, Donnerstag, 3. Juni, 16.02 Uhr:
Gut, ich tue, was Sie wollen.
Björn Almskogs dritte Mail, Freitag, 4. Juni, 07.45 Uhr:
Bester Carl Palmcrona,
ich habe Ihnen das Foto geschickt. Vergessen Sie, dass ich mich jemals bei Ihnen gemeldet habe.
Mit freundlichen Grüßen
Nachdem Saga die Mails zwei Mal gelesen hat, wirft sie Joona einen ernsten Blick zu. Der Briefwechsel sagt alles über die Tragödie, die sich abgespielt hat.
»Björn Almskog will Palmcrona ein kompromittierendes Foto verkaufen. Ganz offensichtlich glaubt Palmcrona an die Existenz der Aufnahme, und das Foto hat anscheinend eine viel gravierendere Bedeutung, als Björn vermutet hatte. Palmcrona warnt Björn, er zieht überhaupt nicht in Erwägung, Björn Geld anzubieten. Offensichtlich glaubt er, dass die bloße Existenz des Bildes für beide gefährlich ist.«
»Was denkst du, was ist dann passiert?«, fragt Joona.
»Palmcrona wartet auf eine Antwort, entweder per Mail oder per Post«, antwortet Saga. »Als diese ausbleibt, schickt er seine zweite Mail, in der er erklärt, dass sie beide sterben werden.«
»Und erhängt sich anschließend«, sagt Joona.
»Als Björn in das Internetcafé kommt und Palmcronas zweite Mail liest, «Jetzt ist es zu spät, Sie und ich, wir werden beide sterben«, bekommt er es mit der Angst zu tun und antwortet, dass er tun wird, was Palmcrona will.«
»Nicht ahnend, dass Palmcrona zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist.«
»Genau, es ist schon zu spät, und alles, was er danach tut, bleibt im Grunde vergeblich.«
»Nach Palmcronas zweiter Mail scheint er in Panik gehandelt zu haben«, sagt Joona. »Er gibt jeden Gedanken an eine Erpressung auf und will nur noch seine Haut retten.«
»Sein Problem ist aber, dass das Foto an Penelopes Glastür hängt.«
»Erst als sie zu der Diskussion im Sender fährt, bietet sich ihm die Gelegenheit, das Bild zu holen«, fährt Joona fort. »Er wartet draußen, sieht Penelope im Taxi davonfahren, begegnet dem kleinen Mädchen im Treppenhaus, eilt in die Wohnung, reißt das Bild von der Tür, nimmt die U-Bahn, schickt das Foto an Palmcrona, sendet ihm eine Mail, fährt in seine Wohnung in der Pontonjärgatan 47, holt das Gepäck, nimmt den Bus nach Södermalm und beeilt sich, zu seinem Boot auf Långholmen zu kommen.«
»Und was lässt dich glauben, dass es hier um mehr geht als eine gewöhnliche Erpressung?«
»Drei Stunden nachdem er sie verlassen hatte, wurde Björns Wohnung bei einem Feuer vollständig zerstört. Die Brandexperten sind überzeugt, dass ein vergessenes Bügeleisen in der Nachbarwohnung die Ursache für das Feuer gewesen ist, aber …«
»Ich habe es mir abgewöhnt, in diesem Fall an Zufälle zu glauben«, bemerkt Saga.
»Ich auch.«
Sie schauen sich erneut den Mailwechsel an, und Joona zeigt auf die beiden Mails von Palmcrona.
»Zwischen seiner ersten und zweiten Mail muss Palmcrona mit jemandem in Kontakt getreten sein«, sagt er.
»Die erste enthält eine Warnung«, hält Saga fest. »Die zweite sagt, dass es zu spät ist und sie beide sterben werden.«
»Ich glaube, dass Palmcrona jemanden anruft, als er die Mail mit dem Erpressungsversuch liest, er hat Todesangst, hofft jedoch, Hilfe zu bekommen«, sagt Joona. »Erst als er erkennt, dass es keine Rettung mehr gibt, schreibt er seine zweite Mail, in der er ohne Umschweife feststellt, dass sie sterben werden.«
»Jemand muss seine Anruflisten überprüfen«, meint Saga.
»Erixon ist schon dabei.«
»Was noch?«
»Wir müssen uns über die Person informieren, die in Björns erster Mail erwähnt wird«, erklärt Joona.
»Raphael Guidi?«
»Du kennst ihn?«
»Alle nennen ihn nur Raphael, nach dem Erzengel«, berichtet Saga. »Er ist ein italienischer Geschäftsmann, der Waffengeschäfte im Mittleren Osten und in Afrika vermittelt.«
»Waffenhandel«, sagt Joona.
»Raphael ist seit dreißig Jahren im Geschäft und hat ein privates Imperium aufgebaut, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er in diese Sache verwickelt ist. Interpol hat nie etwas gegen ihn in der Hand gehabt, es hat zwar Verdachtsmomente gegeben, mehr aber auch nicht.«
»Ist es seltsam, dass Carl Palmcrona sich mit Raphael Guidi trifft?«, erkundigt sich Joona.
»Im Gegenteil«, antwortet Saga. »Es gehört zu seinem Job, auch wenn man es unpassend finden mag, dass er mit ihm mit Champagner anstößt.«
»Aber wegen so etwas bringt man sich weder um, noch ermordet man jemanden«, sagt Joona.
»Nein«, bestätigt sie.
»Also muss auf dem Foto noch etwas anderes zu sehen sein, etwas Gefährliches.«
»Wenn Björn Almskog Palmcrona das Foto geschickt hat, müsste es eigentlich in dessen Wohnung sein«, bemerkt Saga.
»Ich bin die Post im Fach durchgegangen und …«
Er verstummt abrupt, und Saga sieht ihn an.
»Was ist? Woran denkst du?«, fragt sie.
»Dort waren nur persönliche Briefe in dem Fach, keine Reklame, keine Rechnungen«, sagt er. »Die Post ist bereits vorsortiert worden, wenn sie hier ankommt.«