75 Köder

Saga Bauer ist in der Turnhalle der Polizei fünfzig Minuten Seil gesprungen, als ein besorgter Kollege zu ihr kommt und sie fragt, wie es ihr geht. Ihr Gesicht ist schweißgebadet und verbissen, aber ihre Füße tanzen scheinbar unbeeindruckt von dem schnellen, vorübersausenden Seil.

»Du bist zu hart gegen dich selbst«, sagt der Mann.

»Nein«, widerspricht sie und springt weiter mit zusammengepressten Kiefern.

Fünfundzwanzig Minuten später kommt Joona Linna in die Turnhalle, geht zu ihr und setzt sich auf eine schräge Hantelbank.

»Was für eine Scheiße«, sagt sie und springt weiter. »Sie werden Darfur mit Munition vollpumpen, und wir können nichts dagegen tun.«

»Jedenfalls wissen wir jetzt, worum es geht«, erwidert Joona. »Wir wissen, dass sie den Umweg über Kenia nehmen wollen und …«

»Aber was zum Teufel sollen wir tun?«, fragt sie, während sie weiterspringt. »Diesen Dreckskerl Pontus Salman zu einer Vernehmung einbestellen? Wegen Raphael Guidi Europol einschalten?«

»Wir haben nach wie vor keine Beweise.«

»Das ist eine große Sache, eine viel größere Sache, als es irgendwer will. Nicht einmal wir wollen, dass es so ein Riesending ist«, überlegt sie laut, während das Sprungseil um sie herumwirbelt und auf den Hallenboden tickt. »In Schweden sind Carl Palmcrona und Pontus Salman in die Sache verwickelt … Raphael Guidi ist ein Gigant, aber in der kenianischen Regierung muss auch jemand mitmachen, sonst würde die Sache nicht funktionieren. Vielleicht sogar jemand aus der schwedischen Regierung …«

»Wir werden niemals an alle herankommen«, stellt Joona fest.

»Am cleversten wäre es vermutlich, die Ermittlungen einzustellen«, sagt sie.

»Dann tun wir das doch.«

Sie lacht über seinen Scherz und springt mit verkniffenem Mund weiter.

»Palmcrona hat wahrscheinlich über viele Jahre hinweg Schmiergelder angenommen«, meint Joona nachdenklich. »Aber als er Björn Almskogs Erpresserschreiben bekam, trieb ihn die Sorge um, die Party könnte vorbei sein … also rief er jemanden an, wahrscheinlich Raphael Guidi … Im Laufe des Gesprächs musste er dann jedoch erkennen, dass er austauschbar war … und wegen des Fotos als Unsicherheitsfaktor betrachtet wurde. Er war für die Leute, die Geld in dieses Geschäft investiert hatten, zu einem Problem geworden. Sie waren nicht bereit, seinetwegen ihr Geld zu verlieren und Kopf und Kragen zu riskieren.«

»Deshalb nimmt er sich das Leben«, sagt Saga und springt schneller.

»Er ist fort … und übrig bleiben nur das Foto und der Erpresser.«

»Also wird ein Profikiller angeheuert«, fährt sie außer Atem fort.

Joona nickt, und sie beginnt, mit angezogenen Knien zu springen.

»Wenn Viola nicht in letzter Sekunde mitgekommen wäre, hätte er Björn und Penelope ermordet und das Boot versenkt«, sagt Joona.

Saga erhöht nochmals das Tempo und bleibt dann stehen.

»Wir hätten … Wir hätten das Ganze als Unfall abgetan«, keucht sie. »Er hätte das Foto an sich genommen, die Daten auf allen Computern gelöscht und spurlos, vollkommen unsichtbar, das Land verlassen.«

»Aber so, wie ich ihn wahrnehme, fürchtet er sich im Grunde nicht davor, entdeckt zu werden, er ist nur pragmatisch«, erklärt Joona. »Es ist leichter, die Probleme zu lösen, wenn die Polizei nicht eingeschaltet ist, aber er konzentriert sich auf die Probleme … sonst würde er nicht die Wohnungen niederbrennen. Das erregt immerhin jede Menge Aufmerksamkeit, aber er will gründlich sein und Gründlichkeit hat bei ihm oberste Priorität.«

Saga stützt sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab, Schweiß tropft von ihrem Gesicht.

»Natürlich hätten wir die Wohnungsbrände früher oder später mit dem Bootsunfall in Verbindung gebracht«, sagt sie und richtet sich auf.

»Aber da wäre es längst zu spät gewesen«, erwidert er. »Der Auftrag des Killers lautet, alle Spuren zu vernichten und alle Zeugen auszulöschen.«

»Aber jetzt haben wir das Foto und Penelope Fernandez«, sagt sie lächelnd. »Der Problemlöser hat die Probleme nicht gelöst.«

»Noch nicht …«

Sie schlägt lose und prüfend gegen einen Sandsack, der von der Decke herabhängt, und sieht Joona anschließend nachdenklich an.

»In meiner Ausbildung hat man uns einen Film von einem Banküberfall gezeigt, bei dem du einen Mann mit einer defekten Pistole unschädlich machst.«

»Ich hatte Glück«, antwortet er.

»Ja.«

Er lacht, und sie nähert sich ihm, trainiert ein wenig Fußarbeit, umkreist ihn und bleibt stehen. Sie streckt die Arme mit offenen Händen aus und begegnet seinem Blick. Sie winkt ihn mit den Fingern sanft zu sich. Sie will, dass er versucht, sie zu schlagen. Er lächelt und versteht die Anspielung auf Bruce Lee: die winkende Hand. Er schüttelt den Kopf, lässt sie aber nicht aus den Augen.

»Ich habe gesehen, wie du dich bewegst«, sagt er.

»Dann weißt du ja Bescheid«, antwortet sie kurz.

»Du bist schnell und könntest mit deinem ersten Schlag eventuell einen Treffer setzen, aber danach …«

»Bin ich verschwunden«, ergänzt sie.

»Gute Idee, aber …«

Sie wiederholt ihre Geste, lockt ihn zu sich, diesmal jedoch etwas ungeduldiger.

»Aber du wirst wahrscheinlich zu viel Schwung haben.«

»Nein«, widerspricht sie.

»Probier’s aus, und du wirst sehen«, erwidert Joona.

Sie winkt ihm zu, aber er beachtet sie nicht weiter, sondern kehrt ihr den Rücken zu und geht Richtung Tür. Sie verfolgt Joona schnell und schlägt einen rechten Haken. Er zieht nur den Kopf ein, sodass ihr Schlag über seinen Kopf hinwegzischt. Als Fortsetzung seiner minimalen Bewegung wirbelt er herum, zieht seine Pistole und bringt sie gleichzeitig zu Fall, indem er ihr in die Kniekehle tritt.

»Ich muss dir was sagen«, sagt Saga schnell.

»Du meinst, dass ich recht hatte.«

»Bild dir bloß nichts ein«, entgegnet sie wütend und steht auf.

»Wenn man sich seinem Gegner mit zu viel Schwung …«

»Ich hatte nicht zu viel Schwung«, unterbricht sie ihn. »Ich habe abgebremst, weil mir etwas Wichtiges eingefallen ist, das …«

»Verstehe«, sagt er lachend.

»Es ist mir scheißegal, was du glaubst«, fährt sie fort. »Aber mir ist die Idee gekommen, dass wir Penelope als Köder benutzen können.«

»Wovon redest du?«

»Mir ist eingefallen, dass sie in eine andere Wohnung verlegt werden soll, und als ich zuschlagen wollte, kam mir im selben Moment eine Idee. Ich habe abgebremst, weil ich dich ja schlecht k .o. schlagen kann, wenn wir reden wollen.«

»Dann rede«, sagt er.

»Mir ist klar geworden, dass Penelope für den Killer ein Köder ist, ob wir es wollen oder nicht, sie wird ihn anlocken.«

Joona lächelt nicht mehr, nickt nur nachdenklich.

»Weiter.«

»Wir wissen nicht genau, ob er unseren Funkverkehr abhören kann, ob er alles hört, was über RAKEL gesagt wird … aber angesichts der Tatsache, dass er Penelope auf Kymmendö gefunden hat, liegt die Vermutung nahe.«

»Ja.«

»Er wird sie irgendwie finden, davon bin ich fest überzeugt. Und es ist ihm egal, dass sie unter Polizeischutz steht. Wir werden alles tun, um ihren Aufenthaltsort geheimzuhalten, aber, verdammt, es ist schlichtweg unmöglich, sie ohne Funkverkehr zu schützen.«

»Er wird sie finden«, bestätigt Joona.

»Ich habe mir Folgendes überlegt … Penelope wird so oder so zum Köder, bleibt die Frage, ob wir vorbereitet sein werden, wenn er kommt, oder ob wir es nicht sind. Wir werden sie natürlich wie geplant beschützen, aber wenn wir gleichzeitig die Fahndung darauf ansetzen, den Ort zu überwachen, könnten wir den Killer vielleicht fassen.«

»Das ist absolut richtig … du hast vollkommen recht«, sagt Joona.

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