Der Sommerhimmel ist noch klar, aber die Luft wird immer schwüler, als läge ein Gewitter in der Luft.
Joona Linna und Erixon parken vor einem alteingesessenen Angelsportladen, der jede Woche ein Bild desjenigen im Fenster ausstellt, der aktuell in den Gewässern der Stockholmer Innenstadt den größten Lachs gefangen hat.
Das Telefon klingelt. Es ist Claudia Fernandez. Joona stellt sich in den schmalen Schatten der Hauswand und meldet sich.
»Sie haben gesagt, dass ich Sie anrufen kann«, sagt Claudia Fernandez mit schwacher Stimme.
»Selbstverständlich.«
»Mir ist klar, dass Sie das allen sagen, aber ich dachte … Meine Tochter, Penelope... Ich meine … Ich muss erfahren, wenn Sie etwas finden, auch wenn sie …«
Claudia Fernandez’ Stimme verschwindet.
»Hallo? Frau Fernandez?«
»Ja, entschuldigen Sie bitte«, flüstert sie.
»Ich bin Kommissar, und ich versuche herauszufinden, ob den Ereignissen ein Verbrechen zugrunde liegt. Der Seenotrettungsdienst sucht nach Penelope.«
»Wann werden diese Leute sie finden?«
»In der Regel fängt man damit an, das Gebiet mit Hubschraubern abzusuchen und gleichzeitig eine Suchaktion zu organisieren. Aber das dauert nun mal ein bisschen länger. Deshalb fängt man mit den Hubschraubern an.«
Joona hört, dass Claudia Fernandez ihre Tränen zu verbergen sucht.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich … Ich muss einfach wissen, ob ich etwas tun kann, ob ich mit ihren Freunden sprechen soll.«
»Am besten bleiben Sie zu Hause«, erklärt Joona. »Penelope versucht möglicherweise, sich bei Ihnen zu melden, und dann …«
»Sie wird mich nicht anrufen«, unterbricht die Frau ihn.
»Ich denke schon, dass …«
»Ich bin immer viel zu streng mit Penny gewesen, ich werde so schnell wütend auf sie, ich weiß nicht warum, ich … Ich will sie nicht verlieren, ich kann Penelope nicht verlieren, ich …«
Claudia Fernandez weint am Telefon, versucht sich zu beherrschen, bittet hastig um Entschuldigung und beendet das Gespräch.
Dem Angelsportladen gegenüber liegt das Haus Sankt Paulsgatan 3, in dem Penelope Fernandez wohnt. Joona geht auf Erixon zu, der vor einem Schaufenster voller Bilder mit japanischen Schriftzeichen und Mangas wartet. In den Regalen des Ladens drängen sich hunderte Hello-Kitty-Puppen mit großen, unschuldigen Gesichtern. Das ganze Geschäft bildet einen verblüffenden, jäh bunten Kontrast zur schmutzig braunen Farbe der Fassade.
»Kleiner Körper, großer Kopf«, sagt Erixon und zeigt auf eine Hello-Kitty-Puppe, als Joona neben ihm stehen bleibt.
»Ganz süß«, murmelt Joona.
»Ich habe da wohl was verwechselt, ich setze auf einen großen Körper und einen kleinen Kopf«, scherzt Erixon.
Joona schenkt ihm ein Lächeln und öffnet die breite Eingangstür für ihn. Sie steigen die Treppe hinauf und betrachten die Namensschilder, die leuchtenden Schalter für die Flurbeleuchtung und die verschlossenen Müllschlucker. In dem Treppenhaus riecht es nach Staub und Schmierseife. Erixon stützt sich so auf den blank gewetzten Handlauf, dass die Schrauben und Verankerungen knirschen, während er Joona keuchend folgt. Sie erreichen die dritte Etage und sehen sich an. Erixons Gesicht zittert vor Anstrengung, er nickt und wischt sich den Schweiß aus der Stirn, während er Joona entschuldigend zuflüstert:
»Bedauere.«
»Es ist schwül heute«, sagt Joona.
An der Klingel finden sich einige Aufkleber, ein Anti-Atomenergie-Symbol, das Fair-Trade-Logo und ein Peace-Zeichen. Joona wirft Erixon einen kurzen Blick zu, und seine grauen Augen werden schmaler, als er ein Ohr an die Tür legt und lauscht.
»Was ist?«, flüstert Erixon.
Joona klingelt und horcht. Er wartet einen Moment und zieht dann ein Etui aus der Innentasche seines Mantels.
»Es war vielleicht gar nichts«, sagt er und öffnet mit seinem Dietrich behutsam das simple Schloss.
Joona öffnet die Tür, scheint es sich dann jedoch anders zu überlegen und schließt sie wieder. Er weist Erixon mit Gesten an, zu bleiben, wo er ist, ohne eigentlich zu wissen, warum er dies tut. Auf der Straße ertönt die Melodie eines Eiswagens. Erixon wirkt besorgt, er streicht sich mit der Hand unter dem Kinn entlang. Joonas Arme bekommen eine Gänsehaut. Doch schließlich öffnet er mit entspannter Ruhe die Tür und tritt ein. Tageszeitungen, Reklame und ein Brief von der Linkspartei liegen im Wohnungsflur auf dem Boden. Die Luft steht, riecht schlecht. Vor dem Kleiderschrank hängt ein Samtvorhang.
Es rauscht tief unten in den Leitungen und tickt anschließend schnell in der Wand.
Joona weiß nicht, warum seine Hand zur Dienstwaffe im Halfter wandert. Er berührt sie unter seinem Jackett mit den Fingerspitzen, lässt sie dann jedoch stecken. Sein Blick schweift über den blutroten Vorhang und anschließend zur Küchentür. Er atmet verhalten und versucht, durch die geriffelte Glasscheibe und die Glastür zum Wohnzimmer zu sehen.
Joona machte einen Schritt nach vorn, würde die Wohnung im Grunde aber lieber verlassen, denn sein Instinkt sagt ihm, dass er besser Verstärkung anfordern sollte. Hinter dem geriffelten Glas entsteht ein Schatten. Ein Windspiel aus kleinen, herabhängenden Messingstäben schaukelt, ohne zu erklingen. Joona sieht Staubkörner in der Luft die Richtung wechseln, einer neuen Luftbewegung folgen.
Er ist nicht allein in Penelopes Wohnung.
Joonas Herz schlägt schneller. Jemand bewegt sich durch die Zimmer. Er spürt es und wendet den Blick der Küchentür zu.
Dann geht alles sehr schnell. Der Holzboden knarrt. Man hört ein rhythmisches Geräusch, ein schnelles, leises Klicken. Die Tür zur Küche steht halb offen. Joona sieht die Bewegung zuerst im Spalt an den Türangeln. Er presst sich wie in einem Eisenbahntunnel an die Wand. Jemand bewegt sich geschmeidig durch die Dunkelheit des langen Flurs. Ein Rücken, eine Schulter, ein Arm. Die Gestalt nähert sich schnell und fährt herum. Joona sieht das Messer nur kurz, als weiße Zunge. Es schießt von schräg unten wie ein Projektil nach oben. Der Winkel ist so überraschend, dass ihm keine Zeit mehr bleibt, die Klinge abzuwehren. Das scharfe Messer durchschneidet seine Kleider, und seine Spitze trifft Joonas Dienstwaffe. Joona schlägt nach dem Unbekannten, verfehlt ihn jedoch.
Er hört das Messer ein zweites Mal durch die Luft fahren und wirft sich zur Seite. Diesmal kommt die Klinge fast senkrecht von oben. Joona stößt mit dem Kopf gegen die Badezimmertür und sieht, dass ein langer Holzspan aus dem Türrahmen geschnitten wird, als das Messer ins Holz eindringt. Joona stolpert und fällt hin, fährt herum, tritt in einem flachen Bogen und trifft etwas, vielleicht den Fußknöchel des Angreifers. Er rollt zur Seite und zieht und entsichert seine Pistole in einer einzigen Bewegung. Die Wohnungstür steht offen, und schnelle Schritte entfernen sich die Treppe hinunter. Joona rappelt sich auf, will den Mann verfolgen, bleibt aber stehen, als er hinter sich ein brummendes Geräusch wahrnimmt. Er begreift sofort, was er hört, und rennt in die Küche. Die Mikrowelle ist eingeschaltet. Es knistert, und hinter der Glasscheibe sieht er dunkle Funken. Die Hähne der vier Brenner des alten Gasherds sind ganz geöffnet, und Gas strömt in den Raum. Erfüllt von dem Gefühl, dass die Zeit eigentümlich zähflüssig geworden ist, stürzt Joona zur Mikrowelle. Der runde Timer tickt eifrig. Das sprühende Geräusch wird lauter. Auf der Glasplatte im Innern des Geräts rotiert eine Sprühdose mit Insektenspray. Joona reißt das Kabel aus der Steckdose, und es wird still. Nur das monotone Rauschen der offenen Gasventile am Herd ist noch zu hören. Joona dreht sie zu. Von dem chemischen Geruch wird ihm übel. Er öffnet das Küchenfenster und betrachtet anschließend die Sprayflasche in der Mikrowelle. Sie ist stark ausgebeult und könnte immer noch bei jeder kleinsten Berührung explodieren.
Joona verlässt die Küche und durchsucht eilig die Wohnung. Die Zimmer sind leer, unangetastet. Intensiver Gasgeruch hängt noch in der Luft.
Im Treppenhaus vor der Tür liegt Erixon mit einer Zigarette im Mund.
»Nicht anzünden«, ruft Joona.
Erixon lächelt und winkt abwehrend mit einer müden Hand.
»Schokoladenzigaretten«, flüstert er.
Erixon hustet schwach, und plötzlich sieht Joona die Blutlache unter ihm.
»Du blutest.«
»Halb so wild«, sagt Erixon. »Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, aber er hat meine Achillessehne durchtrennt.«
Joona ruft einen Krankenwagen. Er setzt sich neben seinen Kollegen. Erixon ist blass, und seine Wangen sind verschwitzt. Ihm scheint schlecht zu sein.
»Er hat zugestochen, ohne stehen zu bleiben, es war … als würde man von einer verdammten Spinne attackiert.«
Es wird still, und Joona denkt an die blitzschnellen Bewegungen hinter der Tür, an die Klinge, die sich mit einer Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit bewegt hat, die mit nichts vergleichbar ist, was er jemals zuvor erlebt hat.
»Ist sie da drin?«, keucht Erixon.
»Nein.«
Erixon lächelt erleichtert, wird dann jedoch ernst.
»Trotzdem wollte er den Kasten in die Luft jagen?«, fragt er.
»Wahrscheinlich wollte er Spuren oder Hinweise auf irgendwelche Verbindungen beseitigen.«
Erixon versucht, das Papier von der Zigarette zu schälen, kann sie jedoch nicht festhalten. Er schließt kurz die Augen. Seine Wangen sind inzwischen gräulich weiß.
»Ich gehe mal davon aus, dass du sein Gesicht auch nicht gesehen hast?«, sagt Joona.
»Nein«, antwortet Erixon schwach.
»Aber irgendetwas haben wir gesehen, man sieht immer etwas …«