Joona Linna, Axel Riessen, Niko Kapanen und der grauhaarige Leibwächter werden mit Rettungshubschraubern ins HUCS Chirurgische Krankenhaus in Helsinki transportiert. Noch im Krankenhaus musste Axel Riessen Joona einfach fragen, warum er stehen geblieben war, als Raphael Guidi die Pistole vom Boden aufhob.
»Haben Sie mich nicht rufen hören?«, wollte Axel wissen.
Joona hatte ihm nur in die Augen gesehen und erklärt, dass er bereits die Scharfschützen auf dem anderen Schiff bemerkt und geglaubt hatte, sie würden ihre Waffen vor Guidi abfeuern.
»Aber das haben sie nicht«, sagte Axel.
»Man kann nicht immer recht behalten«, antwortete Joona lächelnd.
Niko war bei Bewusstsein, als Joona und Axel hereinkamen, um sich zu verabschieden. Der Finne scherzte, er fühle sich wie Vanhala in dem Roman »Der unbekannte Soldat«.
»Schweden vor«, sagte er zu ihnen. »Aber … das kleine, zähe Finnland erreicht einen hervorragenden zweiten Platz!«
Nikos Verletzungen waren schwer, aber er schwebte nicht mehr in Lebensgefahr. Er würde in den nächsten Tagen einige Operationen durchstehen müssen, aber bereits zwei Wochen später in einem Rollstuhl zu seinen Eltern nach Haus kommen. Fast ein Jahr würde es allerdings dauern, bis er mit seiner Schwester wieder Eishockey spielen können würde.
Raphael Guidis Leibwächter wurde verhaftet und bis zum Prozess ins Gefängnis von Vanda gebracht. Joona Linna und Axel Riessen reisten nach Stockholm zurück.
Das große Containerschiff M/S Icelus verließ mit seiner Fracht nie den Göteborger Hafen. Die schwere, aus Munition bestehende Ladung wurde gelöscht und in die Lagerhallen des Zolls verfrachtet.
Jens Svanehjälm vertrat in dem langen Gerichtsverfahren die Anklage, aber außer Raphael Guidis anonymem Leibwächter waren die Schuldigen bereits tot.
Es ließ sich nicht beweisen, dass bei Silencia Defence AB außer Pontus Salman weitere Mitarbeiter in die kriminellen Machenschaften verwickelt gewesen waren. Bei der Staatlichen Waffenkontrollbehörde hatte allein der frühere Generaldirektor Carl Palmcrona das Gesetz gebrochen.
Jörgen Grünlicht wurde der Bestechlichkeit und der Vorbereitung eines Verstoßes gegen das Waffengesetz verdächtigt, aber die Ermittlungen mussten eingestellt werden. Man gelangte zu der Schlussfolgerung, dass der Exportkontrollrat und alle schwedischen Politiker, die mit dem Export zu tun hatten, hinters Licht geführt worden waren und in gutem Glauben gehandelt hatten.
Die Ermittlungen gegen zwei kenianische Politiker, die man der Bestechlichkeit verdächtigte, wurden Roland Lidonde übertragen, Antikorruptionsgeneral und Staatssekretär für Governance and Ethics, aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich herausstellen, dass auch die kenianischen Politiker in gutem Glauben gehandelt hatten.
Die Reederei Intersafe Shipping hatte keine Kenntnis davon, dass die Munition vom Hafen von Mombasa aus in den südlichen Sudan transportiert werden sollte, und der kenianische Frachtführer Trans Continent wusste nicht, dass die Ladung, die mit Lkws in den Sudan verfrachtet werden sollte, aus Munition bestand. Alle handelten nach bestem Wissen und Gewissen.
Axel Riessen spürt die Fäden an seinem Hals ziehen, als er das Taxi verlässt und das letzte Stück den Bragevägen hinaufgeht. Im grellen Sonnenlicht ist der Asphalt blass, fast weiß. Als er die Hand auf das Gartentor legt, wird im selben Moment die Haustür geöffnet. Robert tritt heraus, er hat am Fenster gewartet.
»Was hast du nur durchgemacht?«, sagt Robert und schüttelt den Kopf. »Ich habe mit Joona Linna gesprochen, und er hat mir ein bisschen erzählt, völliger Wahnsinn …«
»Du weißt doch, dass dein Bruder nicht aus Zucker ist«, erwidert Axel lächelnd.
Sie umarmen sich fest und gehen anschließend zum Haus.
»Wir haben im Garten gedeckt«, erklärt Robert.
»Wie geht es deinem Herzen? Ist es noch nicht stehen geblieben?«, erkundigt sich Axel und folgt seinem Bruder ins Haus.
»Ehrlich gesagt sollte ich nächste Woche operiert werden«, antwortet Robert.
»Das wusste ich gar nicht«, sagt Axel, dem ein Schauer über den Rücken läuft.
»Ich sollte einen Herzschrittmacher bekommen, ich glaube nicht, dass ich dir davon erzählt habe …«
»Eine Operation?«
»Sie wurde abgeblasen.«
Axel wirft einen Blick auf seinen Bruder und hat das Gefühl, seine Seele winde sich in der Dunkelheit. Er weiß sofort, dass Roberts Operation mit Raphael Guidi zu tun hat. Sie wäre tragisch verlaufen. Robert wäre auf dem Operationstisch gestorben und hätte ihm anschließend seine Leber gespendet.
Axel muss einen Moment im Flur stehen bleiben und sich beruhigen, ehe er weitergehen kann. Sein Gesicht ist gerötet, und er kämpft mit den Tränen.
»Kommst du?«, fragt Robert leichthin.
Axel bleibt noch einen Moment stehen und atmet tief durch, ehe er seinem jüngeren Bruder durch das Haus in den Garten folgt. Auf dem Marmorboden im Schatten unter dem großen Baum steht der gedeckte Tisch.
Er ist auf dem Weg zu Anette, als Robert seinen Arm nimmt und ihn zurückhält.
»Als Kinder hatten wir viel Spaß zusammen«, sagt Robert mit einem ernsten Blick. »Warum haben wir aufgehört, miteinander zu reden? Wie war das möglich?«
Axel betrachtet erstaunt das Gesicht seines Bruders, die Fältchen in seinen Augenwinkeln, die zerzausten Haare rund um den kahlen Scheitel.
»Es passieren Dinge im Leben, die …«
»Warte … ich wollte es dir am Telefon nicht erzählen«, unterbricht Robert ihn.
»Was ist?«
»Beverly hat mir erzählt, dass du glaubst, du seist schuld, dass Greta sich das Leben genommen hat, aber ich …«
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, unterbricht Axel ihn sofort.
»Du musst«, sagt Robert. »Ich war bei dem Wettbewerb dabei, ich habe alles gehört, ich habe Greta und ihren Vater sprechen hören, sie weinte die ganze Zeit, sie hatte sich verspielt, und ihr Vater hat sich schrecklich aufgeregt …«
Axel macht sich von der Hand seines Bruders frei.
»Ich weiß schon alles, was …«
»Lass mich sagen, was ich dir sagen muss«, unterbricht Robert ihn.
»Dann mach schon.«
»Axel, wenn du doch nur etwas gesagt hättest, wenn ich gewusst hätte, dass du dir die Schuld an Gretas Tod gibst. Ich habe ihren Vater gehört. Es war seine Schuld, es war einzig und allein seine Schuld … sie haben sich furchtbar gestritten, ich hörte ihn schreckliche Dinge sagen. Sie habe ihn lächerlich gemacht, sie sei nicht mehr seine Tochter. Sie solle sein Haus verlassen, von der Schule abgehen und zu ihrer Mutter, der Fixerin, nach Mora ziehen.«
»Das hat er gesagt?«
»Ich werde Gretas Stimme nie vergessen«, fährt Robert fort. »Wie ängstlich sie klang, als sie ihrem Vater zu erklären versuchte, dass sich jeder einmal verspielen könne, dass sie ihr Bestes gegeben habe, dass es nicht weiter schlimm sei und es noch mehr Wettbewerbe geben werde …«
»Ich habe immer …«
Axel schaut sich um, weiß nicht, was er tun soll, alle Kraft weicht aus seinem Körper. Also setzt er sich einfach langsam auf den Marmorboden und hält sich beide Hände vors Gesicht.
»Sie hat geweint und ihrem Vater gesagt, dass sie sich umbringen werde, wenn sie nicht bleiben und weiter Musik studieren dürfe.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüstert Axel.
»Bedank dich bei Beverly«, erwidert Robert.
Es fängt an zu nieseln, als Beverly im Stockholmer Hauptbahnhof auf dem Bahnsteig steht.
Die Reise nach Süden führt durch eine sommerliche Landschaft, die in einen grauen Dunst gehüllt ist. Erst unten in Hässleholm kommt die Sonne wieder heraus. Nachdem sie in Lund in einen anderen Zug gestiegen und von Landskrona aus den Bus genommen hat, kommt sie in Svalöv an.
Es ist lange her, dass sie zu Hause gewesen ist.
Doktor Saxéus hat ihr versprochen, dass die Sache gut gehen wird.
Ich habe mit deinem Vater gesprochen, hatte der Arzt gesagt. Er meint es ernst.
Beverly geht über einen staubigen Platz. Sie sieht sich selbst zwei Jahre zuvor mitten auf dem Platz liegen und sich übergeben. Ein paar Jungen hatten sie dazu verführt, selbst gebrannten Schnaps zu trinken. Sie hatten Fotos von ihr gemacht und sie anschließend auf dem Platz abgesetzt. Nach diesem Vorfall hatte ihr Vater sie nicht mehr zu Hause haben wollen.
Sie geht weiter. Als sie die Landstraße sieht, die sich in Richtung des drei Kilometer entfernten Bauernhofs erstreckt, hat sie ein mulmiges Gefühl im Bauch. An dieser Landstraße hatten die Autos sie immer mitgenommen. Heute kann sie sich nicht erinnern, warum sie mit ihnen fahren wollte. Sie hatte geglaubt, in ihren Augen etwas zu sehen. Eine Art Licht, hatte sie damals oft gedacht.
Beverly nimmt den schweren Koffer in die andere Hand.
Weit vor ihr kommt ein Auto auf sie zu, es wirbelt Staub auf.
Kennt sie diesen Wagen nicht?
Beverly lächelt und winkt.
Papa kommt.
Die Roslags-Kulla-Kirche ist eine kleine rot schimmernde Holzkirche mit einem großen und schönen, freistehenden Glockenturm. Die Kirche liegt abgeschieden auf dem Land nahe Vira bruk, ein ganzes Stück entfernt von den viel befahrenen Straßen in der Gemeinde Österåker. Der Himmel ist hellblau und die Luft klar, der Wind trägt den Duft von Wildblumen auf den friedvollen Kirchhof.
Gestern wurde Björn Almskog auf dem Stockholmer Nordfriedhof beerdigt, und nun tragen vier Männer in schwarzen Anzügen Viola Maria Liselott Fernandez zu ihrer letzten Ruhestätte. Hinter den Sargträgern, zwei Onkeln und zwei Cousins aus El Salvador, gehen Penelope Fernandez und ihre Mutter Claudia zusammen mit dem Pfarrer.
Sie bleiben am offenen Grab stehen. Das Kind eines Cousins, ein neunjähriges Mädchen, sieht ihren Vater fragend an. Als er ihr zunickt, greift sie zu ihrer Blockflöte und beginnt, »Wohl dem, der den Herrn fürchtet« zu spielen, während der Sarg in die Erde gesenkt wird.
Penelope Fernandez und ihre Mutter stehen Hand in Hand am Grab, und der Pfarrer liest aus der Offenbarung des Johannes.
»Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein.«
Claudia Fernandez sieht Penelope an, rückt ihren Kragen gerade und tätschelt ihre Wange, als wäre sie ein kleines Kind.
Als sie zu den Autos zurückkehren, surrt Penelopes Handy in ihrer schwarzen Leinentasche. Es ist Joona Linna. Penelope löst sich behutsam von der Hand ihrer Mutter und geht in den Schatten unter einem der großen Bäume, um dort das Gespräch anzunehmen.
»Hallo, Frau Fernandez«, sagt Joona in seinem singenden, aber ernsten Tonfall.
»Hallo, Herr Linna«, sagt Penelope.
»Ich dachte, Sie sollten wissen, dass Raphael Guidi tot ist.«
»Und die Munition für Darfur?«
»Wir haben den Frachter gestoppt.«
»Gut.«
Penelope lässt den Blick über Verwandte, Freunde und ihre Mutter schweifen, die sich nicht von der Stelle gerührt hat, ihre Mutter, die sie nicht aus den Augen lässt.
»Danke«, sagt sie.
Sie kehrt zu ihrer Mutter zurück, die sie mit ängstlicher Miene erwartet und wieder nach ihrer Hand greift. Gemeinsam gehen sie zu den anderen zurück, die bei den Autos warten.
»Penelope.«
Sie bleibt stehen und dreht sich um. Sie hat das Gefühl gehabt, die Stimme ihrer Schwester gehört zu haben, ganz nah. Ihr läuft ein Schauer über den Rücken, und ein Schatten zieht sachte über das zarte grüne Gras. Das kleine Mädchen, das Blockflöte gespielt hat, steht zwischen den Grabsteinen und sieht sie an. Es hat sein Haarband verloren, und seine Haare fliegen zerzaust in der sommerlichen Brise.
Die Sommertage nehmen kein Ende, bis zum Morgengrauen schimmert die Nacht wie Perlmutt.
Die Landespolizei feiert ihr Sommerfest im Barockgarten vor Schloss Drottningholm.
Joona Linna sitzt mit seinen Kollegen an einer langen Tafel unter einem großen Baum.
Auf einer Bühne vor einem Tanzboden aus rotem Holz steht eine Combo in weißen Anzügen und spielt eine schwedische Volksweise, das Hårga-Lied.
Petter Näslund tanzt Polka mit Fatima Zanjani aus dem Irak. Er sagt ihr etwas mit fröhlich hochgezogenen Mundwinkeln, was sie glücklich zu machen scheint.
Eigentlich erzählt das Lied vom Teufel, der so gut Geige spielte, dass die jungen Leute niemals aufhören wollten zu tanzen. Sie machten die ganze Nacht weiter, und als sie den Fehler begingen, das Läuten der Sonntagsglocken nicht zu respektieren, konnten sie nicht mehr aufhören zu tanzen. Die jungen Menschen waren so erschöpft, dass sie Tränen vergossen. Ihre Schuhe wurden verschlissen, ihre Füße wurden verschlissen, und am Ende sprangen nur noch ihre Köpfe zur Geigenmusik umher.
Auf einem Klappstuhl sitzt Anja Larsson in einem blau geblümten Kleid. Sie starrt die tanzenden Paare an. Ihr rundes Gesicht ist mürrisch, enttäuscht. Als sie jedoch sieht, dass Joona seinen Platz am Tisch verlässt, laufen ihre Wangen rot an.
»Einen schönen Sommer wünsche ich dir, Anja«, sagt er.
Zwischen den Bäumen bewegt sich Saga Bauer tanzend über das Gras. Sie jagt mit Magdalena Ronanders Zwillingen Seifenblasen hinterher. Ihre blonden gewellten Haare mit den bunten Bändchen glänzen in der Sonne. Zwei Frauen mittleren Alters sind stehen geblieben und betrachten sie erstaunt.
»Meine Damen und Herren«, sagt der Sänger nach dem Applaus. »Uns ist ein besonderer Wunsch zugetragen worden …«
Carlos Eliasson lächelt vor sich hin und schielt zu jemandem hinter der Bühne hinüber.
»Ich stamme aus dem finnischen Oulu«, fährt der Sänger lächelnd fort. »Und deshalb werde ich mit Freuden einen finnischen Tango für Sie singen, der den Titel ›Satumaa‹ trägt.«
Magdalena Ronander hat einen Blütenkranz im Haar, als sie sich Joona nähert und seinen Blick sucht. Anja starrt auf ihre neuen Schuhe hinab.
Die Kapelle beginnt, den schmachtenden Tango zu spielen. Joona dreht sich zu Anja um, deutet eine Verneigung an und fragt leise:
»Darf ich bitten?«
Anjas Stirn, Wange und Hals werden feuerrot. Sie begegnet seinem Blick und nickt ernst.
»Ja«, sagt sie. »Ja, das darfst du.«
Sie nimmt seinen Arm, wirft einen stolzen Blick auf Magdalena und folgt Joona mit hoch erhobenem Kopf auf den Tanzboden.
Anja tanzt konzentriert, ernsthaft, mit einer schmalen Falte auf der Stirn. Aber schon bald wird ihr Gesicht ruhig und glücklich.
Die stark eingesprayten Haare liegen in einem kunstvoll frisierten Dutt in ihrem Nacken. Sie lässt sich von Joona führen, ihr Körper ist folgsam.
Als sich das sentimentale Lied dem Ende zuneigt, spürt Joona auf einmal, dass Anja ihn in die Schulter beißt, ganz vorsichtig.
Sie beißt noch einmal, diesmal etwas fester.
»Was tust du da?«, fragt er sie.
Ihre Augen leuchten, sind etwas glasig.
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie aufrichtig. »Ich habe nur ausprobiert, was passiert, denn das weiß man nie, bevor man es nicht probiert hat …«
Im selben Moment verstummt die Musik. Er lässt sie los und bedankt sich für den Tanz. Ehe er dazu kommt, sie zu ihrem Platz zu eskortieren, tritt Carlos zu ihnen und fordert Anja auf.
Joona steht eine Weile etwas abseits und sieht seinen Kollegen beim Tanzen, Essen und Trinken zu und geht schließlich zu seinem Wagen.
Weiß gekleidete Menschen sitzen auf Picknickdecken oder flanieren zwischen den Bäumen.
Joona erreicht den Parkplatz und öffnet die Tür seines Volvos. Auf dem Rücksitz liegt gut verpackt ein riesiger Blumenstrauß. Er setzt sich ins Auto und ruft Disa an. Beim vierten Rufton meldet sich ihre Mailbox.
Disa sitzt in ihrer Wohnung am Karlaplan vor dem Computer. Sie hat ihre Lesebrille aufgesetzt und sich ein Plaid um die Schultern gelegt. Auf dem Schreibtisch liegt ihr Handy neben einer Tasse kalten Kaffees und einer Zimtschnecke.
Auf dem Computerbildschirm leuchtet das Bild eines verwitterten Steinhaufens in wildwüchsiger Vegetation. Überreste des Cholerafriedhofs bei Skanstull in Stockholm.
Sie schreibt ihre Notizen in die Computerdatei, streckt sich und hebt die Tasse halb zum Mund, überlegt es sich dann aber anders. Als sie aufsteht, um neuen Kaffee aufzusetzen, surrt das Handy auf ihrem Schreibtisch.
Ohne nachzusehen, wer sie anruft, schaltet sie es aus und bleibt stehen, schaut aus dem Fenster. Staubstriemen leuchten in der Sonne. Disas Herz schlägt schnell und hart, als sie sich wieder an den Computer setzt. Sie hat nicht die Absicht, jemals wieder mit Joona Linna zu sprechen.
Es herrscht Wochenendstimmung in Stockholm, und es sind nur wenige Autos unterwegs, als Joona langsam die Tegnérgatan hinabgeht. Er hat den Versuch aufgegeben, Disa zu erreichen. Sie hat ihr Handy ausgeschaltet, und er geht davon aus, dass sie ihre Ruhe haben will. Joona biegt um die Ecke des Blauen Turms, in dem Strindberg seine letzten Lebensjahre verbrachte, und geht den Teil der Drottninggatan hinab, an dem die Antiquariate und kleinen Geschäfte liegen. Vor der esoterischen Buchhandlung Wassermann steht eine alte Frau und tut so, als würde sie sich das Schaufenster ansehen. Als Joona an ihr vorbeigeht, macht sie eine Geste in Richtung Fenster und folgt ihm mit etwas Abstand.
Es dauert eine Weile, bis er bemerkt, dass er verfolgt wird.
Erst als er sich an dem schwarzen Zaun vor der Adolf-Fredriks-Kirche befindet, dreht er sich um. Nur zehn Meter hinter ihm steht eine Frau von etwa achtzig Jahren. Sie sieht ihn ernst an und hält ihm einige Karten hin.
»Das sind Sie, nicht wahr?«, sagt sie und zeigt ihm eine der Karten. »Und hier ist der Kranz, die Brautkrone.«
Joona Linna geht zu ihr und nimmt die Spielkarten, das Spiel, zu dem sie gehören, heißt »Kille«, es ist eines der ältesten Kartenspiele Europas.
»Was wollen Sie?«, fragt er ruhig.
»Ich will nichts«, erwidert die Frau. »Aber ich soll Ihnen etwas von Rosa Bergman ausrichten.«
»Das muss ein Missverständnis sein, ich kenne niemanden, der …«
»Sie möchte wissen, warum Sie so tun, als wäre Ihre Tochter tot.«