Ein Kind der Sünde.
Erstes Kapitel
Gideon Gray führte im Flecken Middlemas in einer Grafschaft des mittleren Schottlands das mühevolle, arbeitsreiche und schlecht lohnende Leben eines schottischen Arztes, ein schlichter derber Mann, abgeneigt jedem Zwang und jeder Förmlichkeit, wie sie in der gebildeten Gesellschaft nun einmal doch im Schwange sind.
Doktor Gray war anspruchslos und hatte sein Auskommen in seiner Praxis, die ihm etwa 200 Pfd. jährlich eintrug. Dafür hatte er im Laufe eines Jahres durchschnittlich 5000 englische Meilen zu Pferde zurückzulegen. So sattsam aber nährte ihn sein Einkommen, daß er sich entschloß, es mit einem Mädchen zu teilen. Er heiratete die rotwangige Tochter eines ehrsamen Pächters, Johanna Watson, die aus einer Familie von zwölf Kindern war und, bei dem kärglichen Einkommen ihres Vaters von 80 Pfd. jährlich an ein bescheidenes Leben gewöhnt, sich nicht gut denken konnte, daß bei zwei Leuten, die das Doppelte zu verzehren hatten, jemals die Armut einkehren könnte. Obwohl nun Gray von der spottlustigen Jugend der alte Doktor genannt wurde, sah das Mädchen ihn doch für eine sehr vorteilhafte Partie an.
Mehrere Jahre hindurch war die Ehe kinderlos, und es hatte auch den Anschein, als ob Doktor Gray, so oft er auch im Dienste der Göttin Lucina [Beiname der römischen Göttin Juno als Göttin der Geburt] tätig gewesen war, in seinem Hause doch niemals die gleiche Tätigkeit entfalten sollte.
Das Schicksal aber wollte es, daß sein Haus unter merkwürdigen, abenteuerlichen Umständen der Schauplatz einer Geburt werden sollte.
Eines Tages kam eine Kutsche mit vier Pferden vor der Haustür vorgefahren. Zwei Personen waren darin. Ein Herr im Reitanzug sprang heraus und eröffnete dem Doktor, daß er eine Dame von hohem Stande bei ihm unterzubringen wünsche, da er den Gasthof zum Schwanen zur Aufnahme einer Frau bei solchem Anlaß nicht für geeignet halte.
Der Doktor gab dem Herrn die Versicherung, daß die Dame in seinem Hause gut aufgehoben sein werde. Der Fremde half dann der Dame zum Wagen heraus und äußerte hohe Zufriedenheit, als er die Dame in einem bequemen Schlafgemach untergebracht und der Obhut des Arztes und seiner Gattin anvertraut sah. Er händigte dem Doktor zwanzig Guineen ein mit dem Ersuchen, er möge keine Kosten scheuen und alles Erforderliche und Wünschenswerte beschaffen. Er erklärte dann, daß er sich in dem Gasthofe einquartieren werde und dort Nachricht über das Befinden der Dame erwarte.
»Sie ist fremd hier und von hohem Stande,« sagte er, »ich bitte daher, es ihr an nichts fehlen zu lassen. Wir wollten bis Edinburgh, aber ein Zufall hat uns genötigt, vom Wege abzubiegen. Noch einmal, spart keine Kosten und behandelt sie recht verständig, daß sie sobald wie möglich weiterreisen kann.«
»Das liegt nicht in meiner Macht,« sagte der Doktor, »bei solchem Anlaß darf nichts übereilt werden, jeder derartige Versuch rächt sich.«
»Die Geschicklichkeit aber vermag viel«, versetzte der Fremde.
Und er reichte dem Arzte eine zweite Börse, die ebenso schwer zu sein schien wie die erste.
»Geschicklichkeit und Kunst,« antwortete der Doktor, »kann wohl belohnt, doch nicht erkauft werden. Ihr habt mir schon genug gezahlt, so daß ich für alles Sorge tragen kann, wessen die Dame nur irgend bedürfen mag. Wollte ich mehr annehmen, so würde ich damit stillschweigend das Versprechen eingehen, etwas zu leisten, was über meine Kräfte geht. Ich werde Eurer Dame jede nur mögliche Sorgfalt angedeihen lassen, und damit ist die Gewähr gegeben, daß sie in Bälde weiterreisen kann. Und nun, Herr, geht nach dem Gasthof, denn vielleicht ist meine Anwesenheit im Augenblick erforderlich, und wir haben bis jetzt weder eine Wärterin für die Frau noch eine Amme für das Kind besorgt. Beides soll jetzt geschehen.«
»Noch eine Frage, Doktor, welche Sprachen sprecht Ihr?«
»Latein und Französisch, wenigstens so, daß ich mich verständlich machen kann, auch Italienisch kann ich ein bißchen lesen.«
»Also nicht Portugiesisch oder Spanisch?« fragte der Fremde. – »Das trifft sich unglücklich. Dann könnt Ihr Euch eben nur auf französisch verständlich machen. Aber kommt jedem Wunsche nach, den sie ausspricht, und wenn Ihr dazu Geld braucht, so wendet Euch an mich.«
»Darf ich fragen, Herr, mit welchem Namen ich die Dame...«
»Das tut gar nichts zur Sache,« fiel ihm der Fremde ins Wort, – »den werdet Ihr bei Gelegenheit erfahren.«
Mit diesen Worten schlug er den weiten Mantel um sich und ging die Straße hinab zum Gasthof.
Als der Doktor zu seiner Schutzbefohlenen zurückkehrte, fand er seine Frau in einer von Überraschung und Furcht gemischten Stimmung.
»Sie kann kein Wort reden wie eine Christin«, sagte Frau Gray.
»Ich weiß es«, antwortete der Arzt.
»Und sie trägt eine schwarze Maske, die will sie durchaus nicht ablegen.«
»So soll sie sie aufbehalten, was schadet das?«
»Was es schadet? Ist denn jemals ein ehrsames Weib entbunden worden mit einer Maske vor dem Gesicht?«
»In der Regel nicht. Aber, liebe Johanna, wenn sie nicht so ganz ehrsam sind, dann müssen sie eben so entbunden werden. Wir dürfen nicht das Leben des armen Wesens gefährden, indem wir uns jetzt ihren Launen widersetzen.«
Er trat an das Bett der kranken Frau und sah, daß sie in der Tat eine dünne seidene Maske vor dem Gesichte trug. Die Frau des Arztes mochte ihr deshalb wohl zugesetzt haben, denn als der Doktor selber zu ihr trat, legte sie die Hand aufs Gesicht, als fürchte sie, daß er sie zwingen könne, sie abzunehmen. Er aber gab ihr in leidlich gutem Französisch zu verstehen, daß hier ihr Wille Gesetz sei, und daß sie die Maske tragen könne, so lange sie sie nicht selber abzulegen wünsche.
Sie verstand, was er zu ihr sagte, denn sie erwiderte in einem unbeholfenen Versuche, die gleiche Sprache zu reden, und drückte ihm ihre Dankbarkeit aus.
Um ein Uhr morgens erschien der Doktor im Gasthofe zum Schwanen und setzte den fremden Herrn in Kenntnis, daß er ihm als dem Vater eines gesunden Knaben Glück wünschen könne und daß es der Mutter soweit gut gehe.
Der Fremde vernahm die Mitteilung mit scheinbarer Zufriedenheit und sagte:
»Der Knabe soll sogleich getauft werden.«
»Das hat doch keine Eile.«
»Wir denken aber anders«, erwiderte der Fremde, indem er dem Arzte kurz das Wort abschnitt. – »Ich bin Katholik, Doktor, und da ich wahrscheinlich diese Stadt werde verlassen müssen, noch bevor die Dame imstande sein wird, die Reise fortzusetzen, so soll das Kind vorher in den Schoß der Kirche aufgenommen sein. Wie ich höre, ist ein katholischer Prediger am Orte.«
»Es wohnt hier allerdings ein katholischer Herr namens Goodriche.«
»Ich werde morgen mit ihm zu Euch kommen«, sagte der Fremde.
Am folgenden Tage erschien er im Hause des Arztes mit dem genannten Herrn und noch zwei andern. Sie schlossen sich mit dem Kinde ein, und es wurde nun wahrscheinlich die Tauffeierlichkeit an dem kleinen Wesen vollzogen.
Als der Priester und die Zeugen gegangen waren, teilte der Fremde dem Doktor mit, daß er jetzt abreisen müsse, er werde in zehn Tagen wiederkommen und hoffe, daß dann seine Gefährtin reisefähig sei.
»Mit welchem Namen sollen wir Kind und Mutter nennen?«
»Das Kind heißt Richard.«
»Es muß aber auch einen Familiennamen haben und die Dame auch, ohne Namen kann sie in meinem Hause nicht bleiben.«
»So gebt ihr den Namen Eures Städtchens – Middlemas, nicht wahr?« sagte der Fremde. – »Wohlan denn, sie soll Frau Middlemas heißen und der Junge Richard Middlemas, und ich selber bin Matthias Middlemas, zu Diensten.«
Darauf legte er dem Doktor 100 Pfd. in die Hand.
»Die Frau wird sich hiervon alles, was sie haben will, kaufen können«, setzte er hinzu. Gray trug Bedenken, die Summe anzunehmen.
»Ich glaube,« sagte er, »die Dame kann ihre Börse selber verwahren.«
»Beileibe nicht!« versetzte der Fremde. »Wenn sie zum Beispiel hier die Papiernote einwechseln sollte, so wüßte sie nicht, wie viel Guineen sie dafür zu bekommen hat. Nein, Herr Gray, sie ist in weltlichen Dingen völlig unerfahren. Ihr müßt einstweilen ihr Vermögensverwalter sein.«
Zur Verwunderung des Doktors sagte der Fremde dies in stolzem, hochfahrendem Tone, wie einer, der an Widerspruch nicht gewöhnt war. Dies bestärkte den Arzt in seinem Verdacht, daß er es hier mit einer Entführung oder mit einer heimlichen Ehe zwischen Personen höchsten Ranges zu tun habe. Das ganze Wesen der Dame wie des Herrn bestätigte diese Vermutung.
Zudringlichkeit oder Neugierde war nicht Grays Art. Es konnte ihm aber nicht verborgen bleiben, daß die Dame keinen Ehering trug. Da sie tiefbetrübt war und in beständiger Angst schwebte, so kam er auf den Gedanken, sie sei ein unglückliches Mädchen, das sich den Schutz der Eltern verscherzt und auf den Schutz eines Gatten noch keinen rechtmäßigen Anspruch habe.
Er war daher in lebhafter Besorgnis, als der sogenannte Herr Middlemas nach einer langwierigen Unterredung mit der Dame sich von ihm verabschiedete. Allerdings versicherte er abermals, daß er in zehn Tagen wiederkommen werde.
Kurz nach der Abreise des Herrn Middlemas besuchte der Arzt seine Patientin. Er fand sie in heftigster Aufregung. Gray war erfahren genug, das sicherste Mittel zur Beruhigung sofort anzuwenden. Er ließ ihr das Kind bringen. Sie weinte lange, aber unter der Einwirkung der mütterlichen Gefühle legte sich ihre Erregung. Sie erschien noch so blutjung, daß man mit Gewißheit annehmen konnte, sie habe das Gefühl, Mutter geworden zu sein, zum erstenmal kennen gelernt.
Der Arzt erkannte nach diesem heftigen Anfall sogleich, daß alles Sinnen und Denken der Kranken sich auf die Zeit konzentrierte, zu welcher die Rückkehr ihres Gatten – sofern es ihr Gatte war – erwartet werden konnte.
Aber dieser Zeitraum ging vorüber, und der Mann blieb fern. Die vereitelte Hoffnung versetzte die Wöchnerin in heftige Unruhe und in eine halb ärgerliche, halb von Zweifel und Angst erfüllte Stimmung.
Als einige Tage verstrichen waren, ohne daß eine Nachricht oder ein Brief von dem Manne eingetroffen wäre, wurde Gray selber um seinet- wie um der Dame willen besorgt, und fürchtete nun alles Ernstes, der Fremde habe in der Tat die Absicht gehabt, das schutzlose und wahrscheinlich schwer hintergangene Weib zu verlassen. Er wollte sie selber sprechen und von ihr zu erfahren suchen, nach welcher Richtung man am besten Erkundigungen einziehen könne, oder ob sich sonst irgend etwas tun lasse. Aber entweder verstand die Unglückliche nur unvollkommen die französische Sprache oder sie war entschlossen, über ihre Lage nicht das mindeste zu verraten, so daß jeder derartige Versuch erfolglos blieb.
Zweites Kapitel
Die vierte Woche nach der Niederkunft der Frau war verflossen und sie war völlig genesen, da sah Gray eines Tages, als er von einem Krankenbesuche heimkehrte, eine Postkutsche vor seiner Tür halten.
»Der Mann wird zurückgekehrt sein,« dachte er bei sich, »und ich habe ihm mit meinem Verdacht unrecht getan.«
Mit diesen Worten gab er seinem Pferde die Sporen, und das treue Tier gehorchte dem Winke seines Herrn um so bereitwilliger, als es ja nach seinem Stalle ging.
Als er aber in seine Wohnung hinaufeilte, fand er seine Frau in heftigem Streit mit zwei Fremden, von denen der eine ein schon älterer Herr von dunkler Gesichtsfarbe und schwarzen stechenden Augen war, während der andere, der in der Hauptsache den Streit zu führen schien, eine beherzte und grausame Miene zeigte und mit ein paar Pistolen renommierte, die er im Gürtel trug.
»Da ist mein Mann«, sagte Frau Gray in siegesgewissem Tone. »Was wollt ihr nun noch?«
»Immer noch dasselbe«, versetzte der Mann, »Meinem Haftbefehl muß Folge geleistet werden, er ist in gesetzmäßiger Form ausgestellt.«
Mit diesen Worten wies er mit dem Zeigefinger auf ein Blatt Papier, das er der Frau Gray mit der linken Hand unter die Nase hielt.
»Wendet Euch gefälligst an mich«, sagte der Arzt. »Ich bin der Herr dieses Hauses und wünsche zu wissen, was Ihr hier zu tun habt.«
»Was ich hier zu tun habe, ist bald gesagt«, antwortete der Mann. Ich bin ein Königsbote – die Frau hier aber behandelt mich, als wäre ich der Häscher eines Schuldgefängnisses.«
»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte der Doktor. »Wenn Ihr ein Königsbote seid, so zeigt Euren Haftbefehl vor und sagt, was Ihr tun wollt.«
Gleichzeitig raunte er dem Stubenmädchen zu, den Stadtschreiber, Herrn Lawford, zu holen.
»Hier ist mein Haftbefehl«, sagte der Beamte. »Überzeugt Euch, daß alles seine Richtigkeit hat.«
»Dies ist ein Haftbefehl,« sagte der Doktor, nachdem er das Papier geprüft hatte, »gegen Richard Tresham und Zilia de Moncada wegen Hochverrats. Herr, ich habe im Dienste Seiner Majestät gestanden – und mein Haus ist keine Herberge für Hochverräter. Ich weiß nichts von diesen beiden Personen und habe noch nicht einmal ihre Namen je zuvor gehört.«
»Die Dame, die Ihr aufgenommen habt, ist Zilia de Moncada, und hier steht ihr Vater Matthias de Moncada, der es beeiden wird.«
»Wenn dies auf Wahrheit beruht,« erwiderte Gray, »so habt Ihr einen sonderbaren Dienst auf Euch genommen. Es ist nicht meine Art, etwas abzustreiten, was ich getan habe, oder den Gesetzen dieses Landes den Gehorsam zu verweigern. In diesem Hause befindet sich eine Dame im Zustande langsamer Genesung von ihrer Niederkunft – hier in diesem Hause hat sie einem gesunden Knaben das Leben geschenkt. Wenn sie diejenige ist, die in diesem Haftbefehl genannt ist, und ist sie die Tochter dieses Herrn, so muß ich sie den Gesetzen des Landes entsprechend ausliefern. Ihr Herren, das ist eine schlimme Geschichte. Wegen eines schweren Verbrechens ist hier ein Haftbefehl erlassen worden gegen eine Person, deren Zustand es kaum erlaubt, sie von einem Hause zum andern zu schaffen. Wenn Ihr in der Tat der Vater seid, Herr, so ist es Eure Pflicht, zu bedenken, die Lage der Armen zu verbessern, statt sie aufs äußerste zu verschlimmern.«
»Besser tot als geschändet!« erwiderte der finstere Greis in rauhem Ton. »Ihr Staatsbote, tut Eures Amtes und vollzieht den Haftbefehl!«
»Ihr hört,« sagte der Mann, »ich muß augenblicklich Zutritt zu der Dame haben.«
»Es trifft sich glücklich, daß hier gerade Herr Lawford, der Stadtsekretär, kommt. – Seid willkommen, wir bedürfen hier sowohl Eures Urteils als Juristen wie auch Eurer Meinung als eines verständigen und menschlich gesonnenen Mannes.«
In aller Eile stellte er den Fall dar, und der Königsbote wies, als er sah, daß ein Mann der Obrigkeit vor ihm stand, von neuem seinen Haftbefehl vor.
Nach kurzem Bedenken sagte Lawford:
»Der Vater muß die Tochter sehen, wenn auch beide sich veruneinigt haben, und der Diener des Staates muß seinen Haftbefehl vollziehen, wenn auch die Missetäterin an dem Schrecken zugrunde gehen könnte. Ihr habt die Dame auszuliefern, so natürlich auch Eure Bedenken dagegen sind.«
»Läßt sich nicht eine Bürgschaft stellen?« fragte Gray.
»In Fällen des Hochverrats ist das nicht zulässig«, erwiderte der Stadtsekretär.
»Dann folgt mir, meine Herren«, sagte der Arzt ohne weitere Gegenwehr.
Er führte die Herren die kleine Treppe hinauf, öffnete die Tür und sagte zu Moncada, der zunächst hinter ihm ging:
»Hier ist der einzige Ort, wo Eure Tochter Zuflucht gefunden hat und wo sie zu schützen ich, ach, zu schwach bin!«
Der Fremde warf ihm einen mürrischen Blick zu und trat dann mit stolzem Schritt in das Gemach. Lawford und Gray folgten in einiger Entfernung und der Exekutor blieb in der Tür stehen.
Die unglückliche junge Dame hatte den Lärm schon vernommen und die Ursache nur zu richtig erraten. Vielleicht hatte sie auch die Fremden gesehen, als sie aus dem Wagen stiegen.
Als sie in das Zimmer traten, lag sie auf den Knieen, das Gesicht durch ihre seidene Maske verhüllt.
Der Mann, der sich Moncada genannt hatte, sprach nur ein Wort, das niemand verstehen konnte. Die Dame fuhr krampfhaft zusammen, wie ein Soldat, der schon halbtot ist und noch eine zweite Wunde erhält. Moncada kümmerte sich aber nicht um ihre Empfindungen, er faßte sie beim Arme und riß sie empor – sodaß sie schwankend dastand, nur von seiner Faust gehalten.
Die arme Frau suchte das Gesicht zu verbergen, indem sie es mit der linken Hand bedeckte, aber es kostete ihren Vater wenig Mühe, ihr auch diese Hand noch wegzureißen.
Nun zeigte sich ihr schönes, von Schamröte glühendes und von Tränen überströmtes Gesicht.
»Ihr Mann der Obrigkeit und Ihr Arzt,« sagte er mit fremden Akzent zu Lawford und Gray, »diese Frau ist meine Tochter – dieselbe Zilia de Moncada, auf die der Haftbefehl lautet. Gebt Raum, daß ich sie wegführe, damit sie ihre Strafe für ihr Verbrechen finden möge.«
»Seid Ihr die Tochter dieses Mannes?« fragte Lawford die Frau.
»Sie kann nicht Englisch«, sagte Gray und redete die Kranke auf französisch an.
Er beschwor sie zu erklären, ob sie in der Tat die Tochter dieses Mannes sei, wenn es nicht der Fall wäre, könne sie seines Schutzes sicher sein.
Sie gab mit schwacher Stimme Antwort, aber es war deutlich zu verstehen, daß sie sagte, es sei ihr Vater.
Damit schien jedes weitere Recht, sich einzumischen, erloschen, und der Exekutor erklärte die Dame für verhaftet.
Doch noch einmal schritt Gray ein.
»Ihr wollt doch nicht etwa die Mutter von ihrem Kinde trennen?« fragte er.
Zilia de Moncada hörte die Frage, die Gray unbedachterweise in französischer Sprache an den Vater gerichtet hatte. Ein Schrei bittersten Schmerzes entrang sich ihr, und mit dem Ausdruck innigsten Flehens sah sie ihren Vater an.
»Den Bastard mag die Gemeinde aufziehen«, sagte Moncada, während die hilflose Mutter zu Boden sank.
»Ein derartiges Verfahren ist unstatthaft, Herr«, sagte Gray. »Wenn Ihr der Vater dieser Dame seid, so seid Ihr auch der Großvater dieses hilflosen Kindes und habt auf irgend eine Weise für seine Zukunft zu sorgen oder uns an eine Zwischenperson zu verweisen, die diese Sorge auf sich nimmt.«
Moncada sah auf Lawford, der sich dahin aussprach, daß der Doktor recht habe.
»Ich bin bereit, alles zu zahlen,« sagte Moncada, »was für dieses Kind des Unglücks nötig ist; wenn Ihr, Herr,« dabei wandte er sich an Gray, »es annehmen und aufziehen wollt, so sollt Ihr soviel erhalten, daß Euer Einkommen reichlich aufgebessert ist.«
Der Doktor wollte das Anerbieten schon zurückweisen, aber er besann sich und erwiderte:
»Ich werde dieses Anerbieten nur dann annehmen, wenn die Mutter es wünscht.«
Moncada sprach mit seiner Tochter, die gerade aus ihrer Ohnmacht zu sich gekommen war, der Vorschlag, den er ihr machte, schien im höchsten Grade annehmbar, sie trat auf den Doktor zu, küßte ihm die Hand, die sie mit ihren Tränen benetzte. Mit der Notwendigkeit, sich von dem Kinde zu trennen, schien sie sich sogar bei dem Gedanken auszusöhnen, daß es in der Obhut des Doktors bleiben solle.
»Guter, freundlicher Mann,« sagte sie, »Ihr habt Mutter und Kind gerettet.«
Mit kaufmännischer Umsicht überreichte inzwischen der Vater Herrn Lawford Banknoten im Betrage von 1000 Pfd. Diese Summe sollte für die Erziehung des Kindes bestimmt sein und je nach Bedarf sollten die Raten ausgezahlt werden. Er gab außerdem die Adresse eines Londoner Bankiers an, durch den Mitteilungen an ihn zu befördern seien, falls sich einmal in dringenden Angelegenheiten ein besonderer Schriftwechsel erforderlich machen sollte.
Während Lawford ein genaues Protokoll der Verhandlung aufsetzte, durch die sie, er und Gray, zu Vormündern des Kindes bestellt worden waren, wollte der Arzt der Dame den Rest des Betrages zurückgeben, den ihm Tresham – wenn er wirklich so hieß – anvertraut hatte. Sie weigerte sich aufs heftigste, das Geld zu nehmen, und bat den Arzt, es als sein Eigentum zu betrachten. Gleichzeitig drang sie ihm als Geschenk einen mit Brillanten besetzten Ring auf, der einen hohen Wert zu haben schien.
Nachdem dann der Vater in hartem Tone ein paar Worte zu ihr gesprochen hatte, sagte er zu den andern:
»Ich habe ihr noch ein paar Worte vergönnt, von dem elenden Wesen, das ihre Schande besiegelt, Abschied zu nehmen. Wir wollen uns solange zurückziehen, Ihr, Exekutor, bewacht von außen die Tür!«
Gray, Lawford und Moncada zogen sich zurück und warteten in Schweigen, bis nach einer halben Stunde die Meldung kam, daß die Dame zur Abreise bereit sei.
Drittes Kapitel
Vier Jahre nach diesem Auftritt geschah das Langersehnte: Frau Gray schenkte ihrem Mann eine Tochter. Allein Glück und Unglück sind auf dieser Welt seltsam gemischt. Die Erfüllung seines innigen Wunsches nach Nachkommenschaft hatte den Verlust seiner schlichten, gutmütigen Gattin zur Folge. Das war einer der schwersten Schläge, mit denen das Schicksal den armen Gideon Gray treffen konnte.
Gray trug das Unglück, wie eben Menschen von Verstand und festem Charakter eine entscheidende Schicksalswendung hinnehmen, von der sie sich niemals wieder völlig zu erholen hoffen können. Er ging den Pflichten seines Berufes mit der gleichen Pünktlichkeit nach wie zuvor, und blieb im Umgang mit den Leuten nach außen hin heiter, aber der Sonnenschein seines Lebens war dahin.
Das helle, laute Pfeifen, das er immer anstimmte, wenn er den Kirchturm von Middlemas erblickte, war für immer verstummt, der Reiter hielt das Haupt gesenkt, und das Pferd, dem die Aufmunterung durch die Hand und Stimme seines Herrn fehlte, schlenderte müde dahin, als sei es mit ihm niedergeschlagen und trostlos.
Mitunter war er so traurig gestimmt, daß er den Anblick der kleinen Marie nicht zu ertragen vermochte, deren Kinderantlitz ihn an die Züge der Mutter erinnerte.
Den größten Trost nach dem schweren Verluste fand der arme Mann in der fröhlichen Zärtlichkeit des Richard Middlemas, des Kindes, das in so seltsamer Weise in seine Pflege gekommen war. Von frühester Jugend auf war er von großer Schönheit. Wenn er schwieg oder mißgestimmt war, dann zeigte sein Gesicht im dunklen Ausdruck der Augen und der finstern Miene Ähnlichkeit mit dem unheimlichen Charakter, den das Gesicht seines vermutlichen Vaters offenbart hatte. Wenn er aber munter und glücklich war – eine Stimmung, die bei ihm die häufigere war – dann hatte er die fröhlichste, heiterste Miene, die je auf dem lachenden, gedankenlosen Antlitz eines Kindes gestrahlt hat.
Er zeigte die zärtlichste, liebevollste Anhänglichkeit an seinen Vormund und Wohltäter. Er war stets willig und folgsam und verstand es mit einem über seine Jahre gehenden Geschick, seinem Pflegevater zu helfen oder ihm Zerstreuung zu bereiten.
Diese dankbare Liebe schien mit der Entwicklung seiner Geisteskräfte zuzunehmen und äußerte sich bald auch in Aufmerksamkeiten gegen die kleine Marie Gray. Im selben Verhältnis zu Richards liebevoller Aufmerksamkeit wuchs Maries Anhänglichkeit an Richard. Der Vater sah mit Vergnügen jedes neue Zeichen der Liebe, das sein Schützling seinem Kinde erwies. Während Richard allmählich aus einem schönen Kinde zu einem hübschen Knaben wurde, schrieb Doktor Gray jährlich mit großer Regelmäßigkeit an Herrn von Moncada unter der ihm angegebenen Adresse. Der rechtlich denkende Mann war der Meinung, der Großvater werde nicht, wenn er seinen Enkel sähe, auf den die ganze Familie stolz sein könne, auf seinem Entschluß bestehen, einen ihm durch Blutsverwandtschaft so nahen und an Gestalt und Charakter ihm so ähnlichen Knaben als einen Verstoßenen zu behandeln.
Er hielt es daher für seine Pflicht, die Verbindung zwischen dem Großvater und dem Enkel aufrecht zu erhalten, da die beiden in Zukunft vielleicht einander näher gebracht werden konnten. Andrerseits konnte ein derartiger Briefwechsel einem Manne von dem Selbstgefühl Grays nicht angenehm sein. Er faßte daher seine Briefe so kurz wie möglich, legte lediglich Rechenschaft ab über die für sein Mündel gemachten Ausgaben unter Einschluß eines geringen Kostgeldes, das er selber in Anschlag, brachte, fügte die Beglaubigung des Herrn Lawford bei und berichtete dann über Richards Gesundheitszustand und seine Fortschritte in der Erziehung. Den Schluß bildete in der Regel eine kurze aber herzliche Lobrede auf Richards Klugheit und Gutherzigkeit.
Die Antworten waren stets kurz und lauteten immer etwa folgendermaßen:
»Herr von Moncada bescheinigt den Eingang der Briefe des Herrn Gray von dem und dem Datum und ersucht Herrn Gray, es bei dem vereinbarten Verkehr bewenden zu lassen.«
Sobald außergewöhnliche Ausgaben sich erforderlich machten, wurden ohne Umstände und umgehend Geldbeträge eingesandt.
Als der Knabe vierzehn Jahre alt wurde, schrieb der Doktor einen ausführlichen Bericht von dem Charakter, den Fortschritten und den Fähigkeiten seines Pflegekindes. Er setzte hinzu, daß er diese Mitteilungen mache, damit Herr von Moncada sich ein Urteil darüber bilden könne, für welchen Beruf der junge Mann herangezogen werden könne. Er wolle nach besten Kräften alles tun, um die Wünsche des Herrn von Moncada auszuführen, denn der Knabe sei bei seinem liebenswürdigen Wesen ihm so lieb und wert, als sei er sein eigen Kind.
Die Antwort, die nach etwa zehn Tagen eintraf, war ausführlicher als sonst und hatte folgenden Inhalt:
»Sehr geehrter Herr Gray! – Wir haben uns unter nicht gerade günstigen Umständen kennen gelernt. Allein ich bin im Vorteil gegen Euch. Denn es war mir ja bekannt, aus welchem Grunde Ihr eine schlechte Meinung von mir hattet, und so konnte ich Eure Gründe und Euch selber zur gleichen Zeit achten, Ihr aber wart nicht in der Lage, meine Handlungsweise zu begreifen – weil Ihr nicht unterrichtet wart, in wie schändlicher Weise man mir mitgespielt hatte. Ein Schurke hat mir meine Tochter geraubt und entehrt, und ich kann es nicht über mich gewinnen, ein ob noch so unschuldiges Wesen vor Augen zu haben, dessen Anblick mich stets an Haß und Schande erinnert. Behaltet das arme Kind bei Euch und bildet es zu Euerm eigenen Berufe heran. Nur tragt dafür Sorge, daß der Knabe nicht über eine Stellung – wie Ihr sie so würdig einnehmt – oder über eine andre gleichwertige Stellung hinaus will. Die Mittel, um einen Pächter, Rechtsgelehrten oder Arzt aus ihm zu machen, oder ihn zu sonst welchem andern zurückgezogenen Stande heranzubilden, werden aufs freigiebigste ausgehändigt werden. Ich muß jedoch den Knaben und Euch davor warnen, Ansprüche an mich zu stellen, die mich veranlassen könnten, jede weitere Unterstützung abzuschlagen. Ich habe Euch nun hiermit meine Ansicht und meine Absichten mitgeteilt und erwarte, daß Ihr Euch danach richten werdet.«
Der Empfang dieses Briefes bewog den Doktor, mit dem Knaben zu sprechen und ihn selber zu fragen, für welchen der ihm freistehenden Berufe er sich entscheide. Er war zugleich überzeugt, daß der Knabe die Wahl dem Urteil seines Pflegevaters anheimstellen werde.
Vorher jedoch hatte er die unangenehme Pflicht, Richard Middlemas in die geheimnisvollen Umstände seiner Geburt einzuweihen. Er war nämlich der Meinung, der Knabe wisse nichts davon, weil er selber nie mit ihm darüber gesprochen hatte, sondern ihn stets in dem Glauben erzogen hatte, er sei das Waisenkind einer entfernten Verwandten.
Was aber der Doktor unterlassen hatte, das hatte die geschwätzige Amme getan. Von früher Jugend an war dem Kinde von der Amme der Kopf mit allerlei Märchen und Sagen verdreht worden, und das redselige Weib hatte dabei vor allem nicht jene Legende vergessen, die sie die entsetzliche Zeit seiner Geburt betitelte. – Da wurde denn nun alles in das grellste Licht gesetzt: die Persönlichkeit seines Vater, – der ganz so ausgesehen hätte, als ob die ganze Welt ihm zu Füßen gelegen hätte, – die Schönheit seiner Mutter und die schreckliche schwarze Maske, die sie getragen habe – ihre Augen, die wie Diamanten gefunkelt hätten, und die Diamanten, die sie am Finger gehabt hätte und die mit nichts zu vergleichen gewesen wären als mit ihren Augen – ihr zarter Teint und die Farbe ihres seidenen Mantels – und allerlei derartiges Geschwätz.
Dann sprach sie weitläufig von der Ankunft seines Großvaters und des furchtbaren, mit Pistolen und Schwert bewaffneten Mannes – dann über die Entführung seiner Mutter, wobei die Banknoten im Hause herumflogen wie Fetzen Löschpapiers und es Goldguineen hagelte wie Kieselsteine.
Das alles erzählte die Amme, teils um die Teilnahme des Knaben zu wecken, teils um ihr eignes Gelüst nach Übertreibung zu befriedigen. Der tatsächliche Vorgang – so geheimnisvoll er auch an sich war – wurde zu einem Nichts vor der Darstellung der Amme und nahm sich aus wie die demütigste Prosa gegenüber dem kühnsten Fluge der Poesie.
Das alles war Musik für Richards Ohr. Er malte sich mit wahrer Wonne aus, daß eines Tages sein tapferer Vater unerwartet an der Spitze eines tapfern Regimentes mit klingendem Spiel und fliegenden Standarten einziehen werde, um seinen Sohn auf dem schönsten Pferde, das Menschenaugen je erschaut hätten, wegzuführen. Oder seine Mutter, schön wie der Tag, werde plötzlich in einer Kalesche mit sechs Pferden erscheinen und ihr geliebtes Kind abholen. Oder sein reicher Großvater werde mit den Taschen voll Banknoten ankommen und seinen Enkel mit Reichtümern überhäufen.
Kurz, während der gute Doktor Gray sich einbildete, sein Pflegekind wisse nichts von seiner Herkunft, dachte Richard nur noch daran, wann und in welcher Weise er eines Tages wohl aus dem beschränkten Dunkel seines jetzigen Lebens emporgehoben und in eine Stellung gelangen würde, auf die er seiner Meinung nach durch seine Geburt ein Anrecht hatte.
Viertes Kapitel
Solche Empfindungen beseelten den jungen Mann, als eines Tages der Doktor nach Tisch die große lederne Brieftasche hervorholte, in welcher er seine wichtigen Dokumente aufbewahrte. Er nahm das Schreiben Moncadas heraus und bat Richard, ihm aufmerksam zuzuhören, denn er habe ihm betreffs seiner eigenen Person mehreres mitzuteilen, was von größter Bedeutung für ihn sei.
Richards Augen funkelten, endlich war die Stunde der Erklärung gekommen. Auf seiner breiten, gut geformten Stirn füllten die Adern sich mit Blut – er horchte hoch auf, als Gideon Gray ihm alles erzählte, wobei freilich das phantastische Beiwerk gänzlich fehlte, mit dem die Amme die Vorgänge ausgeschmückt hatte.
Der Bericht war ferner seinem Inhalt nach auf das, was die Geschäftsmänner das Wesentlichste nennen, zusammengedrängt und enthielt somit nichts weiter als die Geschichte eines Kindes der Schande eines von Vater und Mutter verlassenen Kindes, das von den nur widerwillig gegebenen Almosen eines entfernten Verwandten aufgezogen worden war – eines Großvaters, der das Kind als den leibhaftigen Beweis für die Schande seiner Familie ansah und weit lieber die Kosten seiner Beerdigung als die seiner Erziehung getragen hätte.
Alle Tempel und Burgen und lieblichen Luftschlösser, die Richard in kindlicher Einbildungskraft gebaut hatte, fielen jäh in sich zusammen, und der Schmerz, sie einstürzen zu sehen, war um so bitterer, als noch die Scham hinzukam, sich solchen Träumereien hingegeben zu haben.
Während Gideon weitererzählte, stand er wie zu Boden geschmettert, die Augen hafteten auf der Erde, auf der Stirn waren im Kampfe der Leidenschaften die Adern geschwollen.
»Und nun, lieber Richard,« sagte der Arzt, »mußt du dir überlegen, was du tun willst, da dir dein Großvater die Wahl zwischen drei ehrenwerten Berufen freistellt. In jedem kannst du, wenn du die eingeschlagene Bahn rechtschaffen und vernünftig verfolgst, ein unabhängiger, allerdings kein reicher, ein achtbarer, wenn auch kein vornehmer Mann werden. Nun wirst du natürlich eine kurze Bedenkzeit haben wollen.«
Der junge Mann hob den Kopf und heftete einen kühnen Blick auf seinen Pflegevater.
»Nicht eine Minute!« rief er im Tone beleidigten Stolzes. »Sagt meinem Großvater, meine Seele empört sich über die niedrige Stellung, die er mir zumutet. Ich bin entschlossen, die Laufbahn meines Vaters einzuschlagen und in die Armee zu treten, sofern mein Großvater mich nicht zu sich nehmen und in sein Geschäft aufnehmen will.«
»Er soll dich zum Teilhaber machen und als Erben anerkennen, nicht wahr? Darauf ist ja freilich nicht zu rechnen, wenn man bedenkt, in welcher Weise er dich hat erziehen lassen und welche Bedingungen er betreffs deiner Person gestellt hat.«
»Auf jeden Fall, Herr,« antwortete der Knabe, »darf ich ein Verlangen aussprechen. Eine große mir gehörige Geldsumme ist in Euern Händen, sie ist Euch überwiesen worden, um für mich verwendet zu werden, und ich verlange, daß Ihr mir die Vorschüsse gewährt, deren ich bedarf, um eine Offiziersstelle zu erhalten. Den Rest händigt mir gefälligst aus, und ich will Euch dann nicht länger behelligen.«
»Junger Mann,« versetzte der Doktor mit Ernst, »es tut mir recht leid, daß deine Klugheit und deine gute Stimmung gleich Schiffbruch gelitten haben, weil die törichten Erwartungen, die zu hegen du nicht die mindeste Veranlassung hattest, vereitelt worden sind. Ich habe allerdings eine für dich bestimmte Summe in Händen, die sich trotz mehrerer Ausgaben noch immer auf 1000 Pfd., vielleicht auf etwas mehr belaufen mag. Ich habe aber die Verpflichtung, sie nur in der Weise anzuwenden, die der Geber festgesetzt hat, und vor allem hast du selber nicht eher Anspruch darauf, als bis du großjährig geworden bist, und das hat noch sechs Jahre Zeit. – Aber sei gut, Richard, es ist das erste Mal, daß ich dich in so alberner Laune sehe, ich gebe allerdings zu, daß bei deiner Lage so mancherlei vorliegt, was eine noch größere Verstimmung deinerseits entschuldigen möchte. Aber du solltest doch deinen Ärger nicht an mir auslassen, denn ich habe keine Schuld an deinem Unglück. Du solltest vielmehr bedenken, daß ich dein erster und einziger Freund war und lange Zeit hindurch allein die Sorge für dich auf mich genommen habe, wo alle Welt dich aufgegeben hatte.«
»Das danke ich Euch nicht,« versetzte Richard in ungezügeltem Ausbruch wilder Leidenschaft, »Ihr hättet mich weit besser versorgen können, wenn Ihr nur gewollt hättet.«
»Und wie denn, undankbarer Bursch?« rief Gray, der die Geduld verlor.
»Unter die Räder des Wagens hättet Ihr mich werfen sollen, als die Leute wegfuhren, daß der Leib ihres Kindes zermalmt worden wäre!«
Mit diesen Worten stürzte er hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Sein Pflegevater blieb zurück in tiefster Verwunderung über die so plötzliche und eingreifende Veränderung, die in dem ganzen Wesen des Knaben vor sich gegangen zu sein schien.
Richard Middlemas ging unverzüglich zum alten Stadtsekretär Lawford. Er begann die Unterredung hier, indem er den Vorschlag darlegte, der ihm über die Wahl eines Berufes gemacht worden war. Er berührte dann die geheimnisvollen Umstände seiner Geburt und seine unsichern Aussichten und brachte auf diese Weise den Sekretär leicht dahin, ihm genaue Auskunft über den Geldbetrag zu geben, den sein Pflegevater noch in Händen hatte – welche Angabe mit der des Doktors völlig übereinstimmte.
Alsdann fragte er den Sekretär, ob es anginge, daß er Offizier würde, erhielt aber auch in diesem Punkte einen abschlägigen Bescheid, der sich mit der Ausführung des Doktors deckte. Er erfuhr, daß kein Teil des Geldbetrages ihm vor der Großjährigkeit zur Verfügung gestellt werden dürfe ohne die ausdrückliche Einwilligung seiner beiden Vormünder und vor allem seines Pflegevaters.
Er verabschiedete sich daher von dem Sekretär, der sich sehr lobend über die Vorsicht und Klugheit aussprach, daß der Knabe vor einem so wichtigen Schritte seines Lebens sich an einen umsichtigen und einschlägigen Ratgeber gewandt habe, und gab ihm zu verstehen, daß er ihn gern gegen ein geringes Lehrgeld als Schreiber aufnehmen wolle, sofern er zur Rechtslaufbahn Neigung habe.
Middlemas dankte ihm für seine Güte und versprach, sein freundliches Anerbieten in Erwägung zu ziehen, falls er sich für diesen Beruf entscheiden sollte.
Am kommenden Morgen stand Richard Middlemas mit der Sonne auf. Die nächtliche Ruhe schien seine Leidenschaft gedämpft und seinen Verstand wieder ins rechte Geleise gebracht zu haben.
Er ging zu Herrn Gray, der in der Tat noch willens war, Richard mit kalter Zurückhaltung zu behandeln, aber er fühlte sich sofort entwaffnet durch das freimütige Geständnis des jungen Mannes, daß er sich durch das Trugbild seiner Phantasie, einstmals zum Range und der Stellung seiner Eltern emporsteigen zu können, habe hinreißen lassen. Der Brief seines Großvaters, durch den er für die Zeit seines Lebens verurteilt werde, fern zu bleiben und in niedriger Stellung, sei freilich ein schwerer Schlag. Es erfülle ihn jetzt mit tiefem Kummer, daß die Verzweiflung über getäuschte Hoffnungen ihn veranlaßt habe, sich in einer Weise auszudrücken, die die schuldige Achtung und Ehrerbietung eines Pflegekindes gröblich verletzt habe. Er fühle sich Herrn Gray gegenüber zu der Liebe und dem Gehorsam eines Sohnes verpflichtet und wolle jede Entscheidung über seine Zukunft ihm anheimstellen.
Gerührt über ein so aufrichtiges und demütiges Eingeständnis, vergaß der Doktor seinen Zorn und fragte in gütigem Tone, ob Richard sich die Wahl eines Berufes überlegt habe. Zugleich erklärte er sich bereit, ihm die zur Entschließung erforderliche Frist zu lassen.
Da der junge Mann erklärte, es sei sein fester, unabänderlicher Entschluß, bei seinem Pflegevater Medizin zu studieren und in seiner Familie zu bleiben, so setzte der Arzt Herrn von Moncada hiervon in Kenntnis und erhielt daraufhin sofort den Betrag von hundert Pfund als Lehrgeld, zum Zeichen, daß der Großvater mit dieser Wendung der Angelegenheit voll einverstanden sei.
Fünftes Kapitel
Um dieselbe Zeit, als Gray die ärztliche Ausbildung seines Pflegesohnes auf sich genommen hatte, wandte sich ein gewisser Adam Hartley an ihn mit dem Ansuchen, bei ihm in die Lehre treten zu dürfen.
Der junge Mann war der Sohn eines achtbaren Pächters, der den ältesten Sohn zu seinem eignen Berufe herangezogen hatte und aus dem zweiten einen Arzt zu machen wünschte. Er nahm hiermit das freundliche Anerbieten seines Gutsherrn an, den Sohn in seiner Laufbahn zu unterstützen – eine Hilfe, die besonders bei der Beförderung eines Arztes sich als wertvoll geltend machen könne.
Middlemas und Hartley wurden also Lehrkameraden. Während des Winters kamen sie nach Edinburgh in Pension, um dort die medizinischen Vorlesungen zu hören, da der Besuch der Universität zur Erlangung des Doktortitels erforderlich war.
So gingen drei, vier Jahre hin – die zwei Studenten der Medizin waren nun keine Knaben mehr, es waren junge Leute geworden, die als stattliche Jünglinge, gut gekleidet und wohl erzogen, auch mit Geld versehen, in dem kleinen Orte, wo es kaum jemand gab, der zu den obersten Zehntausend zu rechnen gewesen wäre, Personen von Bedeutung wurden, da an jungen Männern ein Mangel, an Mädchen dagegen ein Überfluß vorhanden war.
In ihrer äußeren Erscheinung waren sie sehr von einander verschieden. Adam Hartley war mittelgroß, robust und starkknochig, unter den kastanienbraunen Locken zeigte sich ein offnes, biedres, echt angelsächsisches Gesicht. Er trieb mit Vorliebe Leibesübungen, wie Ringen, Boxen, Springen und Fechten, und besuchte jedesmal die Stierhatz, die in dem Städtchen ab und zu gehalten wurde.
Richard dagegen hatte schwarzes Haar wie sein Vater und seine Mutter – stolze, schön gebildete Züge, die aber einen etwas fremdländischen Charakter hatten. Seine Gestalt war groß und schlank, muskulös und schmiegsam zugleich. Ein überaus graziöses und leichtes Benehmen – wie es sonst niemand im ganzen Orte zu eigen war – mußte ihm angeboren sein.
Die Einwohnerschaft war in der Beurteilung der beiden in zwei Parteien geteilt. In Ermangelung eines besseren Gesprächsstoffes stellten sie Vergleiche zwischen ihnen an und beriefen sich dabei auf das Urteil des Arztes, aber Herr Gray war hierin sehr zurückhaltend und beschränkte seine Äußerung in der Regel darauf, die beiden Jünglinge seien wackre Burschen und würden tüchtige Leute in ihrem Fache werden, wenn sie sich nicht den Kopf durch allerlei alberne Aufmerksamkeiten, die die Leute im Orte ihnen erwiesen, verdrehen ließen.
Es gab Personen in Middlemas, die so unbedacht waren zu glauben, Marie Gray allein sei die beste Richterin über die beiderseitigen Verdienste der jungen Männer, über deren Vorzüge die öffentliche Meinung geteilt sei.
Allerdings wagte niemand – selbst ihre vertrautesten Freundinnen nicht – die Frage offen an sie zu richten. Aber ihre Handlungsweise wurde scharf überwacht und man kam zu der Ansicht, daß sie in ihren Aufmerksamkeiten gegen Adam Hartley offener und freier sei. Mit ihm lachte, schwatzte und tanzte sie, während sie gegen Richard scheu und zurückhaltend war. An diesen Beobachtungen war nicht zu zweifeln, aber über die Folgerungen, die daraus zu ziehen wären, war die Meinung abermals geteilt.
Es war nicht gut möglich, daß die beiden jungen Leute es nicht hätten merken sollen, in wie angelegentlicher Weise sich die Gesellschaft von Middlemas mit ihnen beschäftigte. Da sie von der kleinen Welt, in der sie sich bewegten, gegeneinander abgewogen wurden, hätte ihr beiderseitiger Charakter über dem Durchschnittsschlage stehen müssen, um nicht eifersüchtig aufeinander zu werden, nicht nur als Nebenbuhler um den Beifall der Öffentlichkeit und von dieser zum Wetteifer angespornt, sondern auch durch eigenen Antrieb aus sich selber heraus dazu getrieben, miteinander um die Palme zu ringen.
Dazu kam noch, daß Marie Gray zu einem der schönsten Mädchen nicht nur von Middlemas, sondern von der ganzen Grafschaft herangewachsen war. Ihr Vater schien nicht im mindesten um sie besorgt, obwohl sie fast ununterbrochen mit den beiden jungen Männern zusammen war, während er häufig und fast täglich vom Hause weg war.
Es läßt sich begreifen, daß die jungen Leute ihren Ehrgeiz darein setzten, wer von beiden ihr am meisten gefiel, und so wurden sie auch hier zu stillen, doch heftigen Nebenbuhlern.
Gideon Gray aber wußte, daß seine Tochter von Charakter ebenso fest, aufrichtig und rechtschaffen war wie er selber und daß er nicht den geringsten Grund zu der Besorgnis habe, seine Tochter könne sein Vertrauen mißbrauchen oder sich seiner unwürdig zeigen. Er verließ sich daher mit vollem Recht auf die Festigkeit ihrer Grundsätze, übersah jedoch die Gefahren, in die ihr Herz und ihre Neigungen geraten mußten.
Im Umgange zwischen Marie und den beiden Jünglingen schien jetzt allerseits eine große Zurückhaltung eingetreten zu sein. Nur bei Tische sahen sie sich, und Marie gab sich – vielleicht auf den Rat ihres Vaters hin – alle Mühe, beiden die gleiche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Das war indessen gar nicht leicht. Hartley benahm sich jetzt mit einemmal so kalt und förmlich, daß es ihr unmöglich wurde, noch länger mit ihm zu verkehren. Middlemas dagegen behielt mit der ihm eignen sichern Grazie des Wesens sein bisheriges Verhalten bei.
Schließlich nahte die Zeit, daß die jungen Leute, deren vertragsmäßige Lehrzeit ablief, sich nach einem eignen Weg in die Welt und das Leben hinein umsehen mußten.
Doktor Gray teilte Richard mit, er habe in dieser Angelegenheit schon mehrmals dringend an Herrn von Moncada geschrieben, ohne jedoch bisher eine Antwort zu erhalten. Er wolle ihm nicht seinen eigenen Rat erteilen, ehe nicht die Meinung des Großvaters eingegangen sei.
Diese Verzögerung schien Richard mit größerer Geduld hinzunehmen, als seinem Charakter zu entsprechen schien. Er fragte nicht, sprach keine Vermutungen aus und ließ durch nichts erkennen, daß es ihm um eine Beschleunigung der Angelegenheit zu tun sei. Er schien mit Geduld abwarten zu wollen, wie die Dinge sich weiter entwickeln würden.
In der Tat hatte nämlich Richard selber einen Versuch gemacht, sich seinem unerbittlichen Verwandten zu nähern. Er hatte an Herrn von Moncada einen Brief voll Dankbarkeit, Liebe und kindlicher Ergebung gesandt und um die Erlaubnis gebeten, persönlich mit ihm zu korrespondieren, indem er versprach, sich in jeder Einzelheit nach dem großväterlichen Willen zu richten.
Die Antwort war, daß der Brief zurückgeschickt wurde. Die Sendung enthielt nur ein Anschreiben des Bankiers, durch den der Brief versandt worden war, mit der Bemerkung, daß Herr von Moncada jede weitere Geldsendung oder irgendwelche Unterstützung unterlassen und einstellen werde, sobald noch ein einziger Versuch gemacht würde, sich ihm aufzudrängen.
Sechstes Kapitel
Lange Zeit hatten die beiden Lehrkameraden in dieser beiderseitigen Stimmung nicht miteinander geredet. Eines Abends ersuchte nun Adam Hartley seinem bisherigen Verhalten entgegen seinen Gefährten um eine Unterredung.
»Ich hätte gern mit dir gesprochen, Middlemas«, sagte er. »Ich fürchte nur, ich störe dich.«
»Durchaus nicht,« sagte der andere, die Hacke niederlegend, mit der er in dem kleinen Kräutergarten des Arztes arbeitete. »Ich habe nur etwas Unkraut ausgejätet, das nach dem letzten Regen stark emporgewuchert ist, und stehe dir jetzt zur Verfügung.«
Hartley ging nach einer nahen Bank und setzte sich. Middlemas folgte seinem Beispiel.
»Ich habe soeben eine wichtige Unterredung mit Herrn Gray gehabt«, begann Hartley nach einer Pause. Man merkte ihm an, daß ihm nicht sehr leicht fiel, was er sich vorgenommen hatte.
»Ich hoffe, ihr seid zu einem beide Teile befriedigenden Einverständnis gelangt«, warf Middlemas hin.
»Darüber magst du selber urteilen«, fuhr Adam fort. »Doktor Gray hatte die Güte, sich über meine Fortschritte in meinem Berufe sehr lobend auszusprechen, und hat mir zu meinem nicht geringen Erstaunen die Frage vorgelegt, ob ich, da er doch jetzt alt würde, willens wäre, in meiner gegenwärtigen Stellung noch zwei Jahre zu bleiben und zwar gegen ein entsprechendes Salär. Ich solle dann nach Ablauf dieser Zeit sein Teilhaber werden.«
»Herr Gray hat allein das maßgebende Urteil,« sagte Middlemas, »wer sich am besten zum Assistenzarzt für ihn eignet. Die Praxis bringt jährlich 200 Pfd. ein, und ein fleißiger Assistenzarzt, der die Praxis bis nach Strath-Devan und Carse ausdehnen kann, vermag am Ende die Einnahme zu verdoppeln. Aber selbst dann ist sie noch recht mäßig, wenn sie in zwei Teile geht,«
»Das ist aber noch nicht alles«, fuhr Hartley fort. »Der Doktor sagte ferner noch – er hat mir vorgeschlagen – kurz, er hat mir angeboten, ich solle in diesen zwei Jahren um die Gunst des Fräulein Gray werben und dann nicht nur sein Teilhaber, sondern auch sein Schwiegersohn werden.«
Bei diesen Worten sah er Richard fest ins Gesicht, der für einen Augenblick die Fassung zu verlieren schien. Aber dieser hatte sogleich die Kaltblütigkeit wieder erlangt und antwortete in einem Tone, in welchem sich Ärger und gekränkter Stolz vergebens unter erkünstelter Gleichgültigkeit zu verbergen versuchten:
»Ei, zu dieser patriarchalischen Ordnung deiner Angelegenheiten kann ich dir nur Glück wünschen. Fünf Jahre lang hast du gedient um dein Doktordiplom – zwei Jahre wirst du nun dienen um das Töchterlein des Doktors. Sicherlich – doch es ist vielleicht unartig von mir, danach zu fragen – sicherlich hast du das schmeichelhafte Anerbieten angenommen.«
»Du bedenkst nicht, daß eine Bedingung daran geknüpft wurde. Schon lange, Middlemas, habe ich den Verdacht gehegt, daß du den unschätzbaren Vorteil hast, Fräulein Grays Zuneigung erworben zu haben.«
»Ich?« fiel ihm Middlemas ins Wort. »Du scherzest oder bist eifersüchtig. Du traust dir selber zu wenig zu und mir mehr als zuviel.«
»Du solltest dir selber sagen,« versetzte Hartley, »daß hier von Vermutungen oder von dem, was du Eifersucht nennst, nicht die Rede ist. Ich sage dir offen, Marie Gray hat mir selber ihre Liebe zu dir eingestanden, denn ich habe sie natürlich von meiner Unterredung mit ihrem Vater in Kenntnis gesetzt. Ich sagte ihr, ich sei freilich überzeugt, daß ich zurzeit noch nicht den Platz in ihrem Herzen hätte, der allein mir das Recht geben könnte, sie zu bitten, daß sie sich dem anschlösse, was ihr Vater mir angeboten habe. Ich ersuchte sie aber, sich nicht vorschnell zu meinen Ungunsten zu entscheiden, denn ich hegte die Hoffnung, daß die Zeit und die Dienste, die ich ihrem Vater erweisen würde, eine Änderung zu meinen Gunsten bewirken würden.«
»Ein ganz natürliches und sehr bescheidenes Ansuchen; was hat die junge Dame dir geantwortet?«
»Sie ist ein Mädchen von edler Gesinnung, Richard Middlemas,« erwiderte Adam. – »Ich kann nicht genug die jungfräuliche Bescheidenheit preisen, mit der sie mir sagte, sie kenne zu wohl meine Herzensgüte – dies waren ihre eignen Worte – als daß sie es über sich gewinnen könne, mir die Pein einer unerwiderten Liebe zu verlängern. Sie erklärte mir nun aufrichtig, daß sie schon geraume Zeit heimlich mit dir verlobt sei, daß ihr euch gegenseitig eure Bilder geschenkt hättet. Und wenn sie auch niemals ohne die Einwilligung ihres Vaters dir die Hand geben werde, so sei es ihr doch unmöglich, ihren Gefühlen soweit Zwang anzutun, daß sie jemals einem andern Hoffnung auf Erfolg machen könne.«
»Das muß ich sagen,« rief Middlemas, »sie ist sehr aufrichtig, und ich bin ihr sehr verbunden.«
»Und das muß ich sagen, Middlemas,« versetzte Hartley, »du tust Fräulein Gray unrecht, ja du bist undankbar gegen sie, wenn du dich darüber ärgerst, daß sie mir das vertraut hat. Sie liebt dich, wie nur ein Weib bei ihrer ersten Liebe lieben kann – sie liebt dich mehr, als....«
Er brach ab, und Middlemas vollendete seinen Satz:
»Mehr als ich verdiene, nicht wahr? Das kann schon sein – doch ich habe ihre Liebe nicht unerwidert gelassen. Du mußt aber einsehen, daß das Geheimnis unserer Liebe ebensowohl mir als ihr gehörte, und daß es wohl besser gewesen wäre, sie hätte mich zuvor um Rat gefragt, ehe sie es einem Dritten verriet.«
»Middlemas,« sagte Hartley voller Ernst, »wenn du auch nur im geringsten die Besorgnis hegst, daß dein Geheimnis in meinem Besitz nicht sicher sei, so kann ich dir mein Wort darauf geben, meine Dankbarkeit für Fräulein Gray dafür, daß sie mir ein so zartes Geheimnis mitgeteilt hat, um mir Schmerz zu ersparen, ist so groß, daß ich mir eher von wilden Pferden ein Glied nach dem andern abreißen lasse, ehe ich mir auch nur die geringste Silbe abzwingen ließe.«
»Nun, mein lieber Freund,« sagte Middlemas mit einer offnen Herzlichkeit, wie sie zwischen beiden lange Zeit nicht mehr zum Ausdruck gekommen war, »du darfst es mir nicht verübeln, wenn auch ich ein wenig eifersüchtig bin. Wer ein echter Liebhaber ist, muß zuweilen auch ein bißchen verrückt sein, und auf alle Fälle muß es mich seltsam berühren, daß sie jemand zu ihrem Vertrauten macht, den ich selber für einen heftigen Rivalen gehalten habe. Es ist aber die höchste Zeit, daß wir die alberne Kälte fallen lassen, die wir in letzter Zeit gegeneinander beobachtet haben. Denn, wie du begreifen wirst, ist die eigentliche Ursache dazu eben unsre Nebenbuhlerschaft gewesen. Nun aber bedarf ich eines guten Rates, und wer könnte mir da einen bessern geben, als der alte Kamerad, den ich stets um sein gesundes Urteil beneidet habe.«
Hartley ergriff Richards Hand, doch nicht mit der gleichen zwanglosen Herzlichkeit, wie sie ihm hingereicht wurde.
»Ich habe nicht die Absicht,« sagte er, »noch lange hier zu bleiben, und in ein paar Stunden, denke ich, ist mein Bündel geschnürt. Wenn ich dir bis dahin noch einen guten Rat erteilen oder dir sonst einen Dienst erweisen kann, so soll das von Herzen gern geschehen. Das ist ja die einzige Art, wie ich Marie Gray noch zu Diensten sein kann.«
»Nun sieh, du bist sozusagen nur Zuschauer, willst du nicht uns, die wir die Schauspieler sind, die unglücklichen Darsteller, deine Meinung sagen, was du über dieses unser Spiel denkst?«
»Wie kannst du eine solche Frage an mich richten, da ein so schönes Feld sich dir eröffnet? Sicherlich wird Herr Gray unter denselben Bedingungen, wie er sie mir gemacht hat, dich als Assistenzarzt behalten. Du bist nebenbei auch eine bessere Partie für seine Tochter, denn du hast etwas Geld, so daß dir fürs erste der Weg geebnet ist.«
»Das stimmt freilich, nur vermute ich, ich habe in dieser Hinsicht bei Herrn Gray keinen sehr großen Stein im Brett.«
»Wenn er bisher deiner Tüchtigkeit keine Gerechtigkeit hat angedeihen lassen, so wird das anders sein, sobald er weiß, daß seine Tochter dir den Vorzug gegeben hat.«
»Das kann sein, und ich liebe sie deshalb auch über alles. Sonst, lieber Adam, bin ich nicht der Mann, der nach dem greift, was andre übrig gelassen haben.«
»Richard,« erwiderte Hartley, »dieser Stolz macht dich undankbar und wird dich auch noch unglücklich machen, wenn du ihn nicht beizeiten unterdrückst. Herr Gray ist dir sehr freundlich gesonnen, allein er glaubte, du würdest durchaus unzufrieden sein mit den bescheidenen Aussichten, die sein Anerbieten dir gewährt. Er glaubte, du hegtest den Wunsch, in die weite Welt zu gehen und dein Glück zu suchen. Er meinte, wenn du auch seine Tochter innig genug liebtest, daß du ihretwegen die ehrgeizigen Ideen aufgeben könntest, so würden doch die Teufel der Ruhmsucht und Habsucht schließlich wiederkehren, sobald erst die Zauberkraft der Liebe, die diese bösen Geister eine Zeitlang bezwungen hatten, an Macht verloren hätte. Er glaubte daher triftigen Grund zu haben, um das Glück seiner Tochter besorgt zu sein.«
»Meiner Treu, der würdige alte Herr spricht gelehrt und weise,« versetzte Richard, »ich hatte ihm einen so prophetischen Blick gar nicht zugetraut. Soll ich dir die Wahrheit sagen? – Wenn die schöne Marie nicht wäre, so würde ich mich so wohl fühlen wie ein Droschkengaul, wenn er seine tägliche Tour abgeklappert hat, während andre lustige Abenteurer dreist den Versuch machen, wie sie in der Welt zurecht kommen. – So zum Beispiel, wohin willst du?«
»Ein Verwandter von mir mütterlicherseits ist Kapitän eines Schiffes von der ostindischen Gesellschaft, ich will bei ihm als Unterarzt eintreten; wenn mir der Seedienst zusagt, bleib ich dabei, wo nicht, versuch ich was andres.«
Hartley begleitete seine Worte mit einem Seufzer.
»Nach Indien!« rief Richard. »Du Glückspilz! Da kannst du dich freilich mit vollem Gleichmut darüber hinwegsetzen, daß deine Hoffnungen auf dieser Seite unsers Erdenballes sich nicht erfüllt haben. – Oh Delhi! Oh Golkonda! liegt in diesen Namen nicht eine Kraft, die alle eitlen Erinnerungen verbannt? – Indien, wo man Gold mit Eisen gewinnt, wo ein tapfrer Mann sein Verlangen nach Reichtum noch so hoch schrauben mag, er wird sein Ziel doch erreichen, wenn ihm einigermaßen das Glück hold ist. Wie ist es nur möglich, daß ein Bursch wie du, dem es vergönnt ist, in die weite Welt zu ziehen, in eigensinniger Schwermut den Kopf hängen kann, weil ein blauäugiges Mädel einen andern vorgezogen hat, der nicht halb so glücklich ist wie du? Wie ist es nur möglich?«
»Nicht halb so glücklich?« fragte Hartley. »Kannst du, der glückliche Geliebte der Marie Gray, auch nur im Scherze so sprechen?«
»Sei nicht böse, Adam,« sagte Richard, »weil ich, der ich doch den Sieg davongetragen habe, meines Glückes nicht ganz so froh bin, als du vielleicht es wärest. Trotzdem kann ich ohne meine süße Marie nicht leben, und ich will sie zur Frau haben. Aber noch zwei Jahre lang in dieser höllischen Ödenei leben zu müssen und hier sich um Kronen und halbe Kronen plagen zu müssen, dieweil Kerls, die nicht halb soviel los haben, die Rupien säckeweise verdienen – weiß der Kuckuck, Adam, das ist ein gar erbärmliches Los. Nun gib mir einen Rat, Freund, kannst du mir nicht sagen, wie ich um diese zwei Jahre der Langeweile herumkommen kann?«
Hartley vermochte seinen Widerwillen nicht länger zu verhehlen.
»Nein!« versetzte er kurz. »Du bist einundzwanzig Jahre alt, und wenn der Doktor in seiner Klugheit eine solche Prüfzeit für mich für nötig hält, wo ich doch zwei Jahre älter bin als du, so wird er sie dir wohl schwerlich erlassen.«
»Das mag sein,« erwiderte Middlemas, »meinst du nicht aber, daß ich diese zwei oder meinetwegen auch drei Prüfungsjahre nicht besser in Indien abmachen könnte, da kann man's doch in kurzem viel weiter bringen als hier, wo man doch nur das Salz zur Suppe verdient? Meiner Meinung habe ich einen angeborenen Trieb nach Indien. Das ist auch ganz natürlich. Mein Vater war Soldat. Der Vater meiner Mutter ist ein reicher Kaufmann. Ein so bescheidenes Einkommen von 200 Pfd. im Jahre mit dem alten Herrn zu teilen, das muß einem jungen Mann wie mir, dem die weite Welt offen steht und der einen Degen hat, sich einen Weg zu bahnen, doch im Grunde recht bettelhaft vorkommen. Marie freilich ist ein Edelstein – ein Diamant – das gebe ich zu; aber ein so kostbares Juwel möchte man auch lieber in Gold und Brillanten fassen statt in Blei und Kupfer. Sei ein guter Kamerad, Adam, und unterbreite dem Doktor meinen Plan. Meiner Meinung nach kann er für sich und Marie nichts Bessres tun, als daß er mich die zwei Prüfungsjahre im Lande der Kaurie-Muscheln zubringen läßt.«
»Herr Richard Middlemas,« entgegnete Hartley, »ich wünschte nur, es wäre mir gegeben, in den wenigen Worten, die ich noch an Euch zu richten denke, Euch erklären zu können, ob ich Euch mehr bemitleide oder mehr verachte. Der Himmel hat Euch Glück, Auskommen und Zufriedenheit beschert, und Ihr wollt diese Güter von Euch stoßen, um Eurem Ehrgeiz und Eurer Habsucht nachzugehen. Würde ich in dieser Hinsicht dem Doktor oder seiner Tochter einen Rat erteilen, so könnte es höchstens der sein, jeden Verkehr mit einem Manne abzubrechen, der sich in kurzem, wenn auch noch so von der Natur begabt, als ein großer Tor erweisen wird – und der ferner, wenn auch noch so ordentlich erzogen, sich bei der ersten Versuchung obendrein auch als Schurke erweisen könnte. Ich werde aber meinen Rat für mich behalten, denn helfen würde er doch nichts. Ich werde so rasch wie möglich abreisen und wir werden uns nicht wiedersehen. Ich werde es Gott anheimstellen, Unschuld und Ehrlichkeit gegen die Gefahren zu schützen, die Eitelkeit und Torheit mit sich bringen.«
Mit diesen Worten wandte er sich verächtlich von dem jugendlichen Narr des Ehrgeizes ab und verließ den Garten.
»Halt ein!« rief Middlemas ihm nach, betroffen über die Vorstellungen, die der Kamerad seinem Gewissen gemacht hatte. »Halt ein, Adam Hartley, laß dir sagen –«
Aber entweder hörte Hartley seinen Ruf nicht mehr, oder er ließ sich dadurch nicht zur Umkehr bewegen.
Im nächsten Augenblick hatte bei Richard die Keckheit wieder die Oberhand gewonnen.
»Wenn er noch einen Moment länger geblieben wäre,« sagte er zu sich selber, »so hätte ich ihn zu meinem Beichtvater gemacht, den Bauernlümmel! Hat denn Marie Gray sich zu irgend etwas ihm gegenüber verpflichtet? Seinen Bescheid hat er ja bekommen – was mischt er sich denn nun noch zwischen mich und sie? Wenn nur der alte Moncada seine Pflicht als Großvater getan und mir ein anständiges Vermögen vermacht hätte, dann wäre das ja schließlich ganz fein zu machen gewesen und ich hätte das Mädel geheiratet und mich hier niedergelassen. Aber das Dasein ihres alten Packesels von Vater zu führen und hier im Umkreis von zwanzig Meilen jedem Bauern zu Befehl zu stehen! Weiß es Gott. Das ist ein Tagwerk, wie es ein Trödler hat, der mit Nadeln, Bändern und Tabak hausiert – ja er verdient dabei noch mehr und hat weniger Schererei, und das Renommee ist dasselbe. – Nein, wenn ich den Reichtum nicht näher antreffen kann, so will ich ihn dort aufsuchen, wo er für jedermann zu haben ist. Und somit will ich in die Schenke gehen und mal meinen Freund um Rat fragen.«
Siebentes Kapitel
Der Freund, den Richard Middlemas im Gasthaus zum Schwanen treffen wollte, war Tom Hillary, der vor einiger Zeit bei dem Staatssekretär Herrn Lawford als Schreiber angestellt gewesen war und mit er damals schon in Verkehr gestanden hatte. Tom Hillary wurde jetzt Kapitän betitelt, trug eine Uniform und führte eine kriegerische Sprache. Er schien viel Geld verdient zu haben. Er stand sogleich in hoher Achtung, da man erfuhr, daß er im Dienst der Ostindischen Gesellschaft stände – jener wunderbaren Gesellschaft von Kaufleuten, die man eigentlich passender Fürsten nennen könnte.
Ganz in der Stille legten um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Direktoren in Leadenhall-Street den Grund zu jenem gewaltigen Reiche, das jetzt ganz Europa und Asien durch seine riesige Ausdehnung und seine Macht in Verwunderung setzt. In England hatte man zuerst die märchenhaften Berichte von gewonnenen Schlachten und eroberten Städten im fernen Osten mit hellem Erstaunen vernommen. Das Erstaunen wurde noch größer, als Leute heimkehrten, die als Abenteuerer und Glücksritter ausgezogen waren und nun von orientalischem Reichtum und Luxus umgeben waren, daß selbst der Glanz des reichsten britischen Adels ihnen gegenüber farblos erschien.
In diesem neuentdeckten Eldorado hatte Hillary gearbeitet und zwar, wenn er selber die Wahrheit sagte, mit ganz nettem Erfolge, obwohl er noch bei weitem nicht soviel eingeheimst hatte, wie er beabsichtigte. Er sprach in der Tat davon, daß er sein Geld anlegen wolle, und erkundigte sich, ganz als ob er die augenblickliche Grille hätte, zu seinem bloßen Vergnügen ein Gut zu kaufen, bei seinem früheren Brotherrn, dem Stadtsekretär Lawford nach einem sumpfigen Landgut von 3000 Ackern, für das er 4000 Guineen anwenden wollte, wenn nur Reichtum an Wild und Gelegenheit zum Forellenfang vorhanden sei. Einen größeren Ankauf von Land, fügte er prahlerisch hinzu, wolle er jetzt zunächst nicht machen.
Augenblicklich sei es nur sein Zweck, ein paar tüchtige Burschen für sein Regiment oder vielmehr für seine Kompagnie anzuwerben, und da er auf all seinen Reisen nie schönere Menschen gesehen habe, als in Middlemas, so habe er seine Aushebung hier bewirken wollen.
Richard Middlemas erneuerte natürlich sogleich seine Beziehungen zu seinem ehemaligen Freunde, und Hillarys Reden hatten ihm jene Begeisterung für Indien eingeflößt, die wir ihn haben aussprechen hören. Es war nicht anders möglich, als daß ein junger Mann, der noch von der Welt nichts gesehen hatte und dabei von ungestümer Sinnesart war, sich von den glühenden Schilderungen Hillarys hinreißen ließ.
In seinen Beschreibungen wuchsen Paläste aus der Erde wie Pilze – Wälder von himmelhohen Bäumen und süß duftendem Gesträuch, wie sie der frostige Boden Europas nicht kannte, wimmelten von allem möglichen Wild vom Schakal bis zum Königstiger. Jeder Strom, von dem er sprach, floß über Goldsand, und jeder Palast, den er nannte, war herrlicher, als ihn eine Fata Morgana vorzugaukeln vermocht hätte. Seine Schilderungen selber schienen in Duft getaucht und seine Worte von Rosenessenz durchtränkt.
Diese Gespräche fanden oft ihren Abschluß bei einer feinern Flasche Wein, als der Gasthof zum Schwanen hätte liefern können, denn Kapitän Hillary war ein Freund von gutem Leben und hatte sich Wein und andere Leckerbissen aus Edinburgh mitgebracht. Und Middlemas war verurteilt, von so reicher Tafel weg zu der Hausmannskost seines Pflegevaters zurückzukehren, wo alle Schönheit der anmutigen Marie ihn nicht dazu vermochte, seinen Abscheu vor der groben Kost zu überwinden oder den Widerwillen niederzukämpfen, mit dem er die Fragen über die Krankheitsfälle, die seiner Fürsorge anvertraut waren, beantwortete.
Die Hoffnung, von seinem Vater anerkannt zu werden, hatte Richard längst aufgegeben, und nach der rauhen Zurückweisung von seiten des Herrn von Moncada war er auch zu der Überzeugung gelangt, daß sein Großvater unerbittlich sei. Dennoch war sein Ehrgeiz noch nicht eingeschlummert, wenn ihn auch nicht mehr die Hoffnungen beseelten, denen er früher sich hingegeben hatte.
Das einzige Hindernis war die Liebe zu Marie Gray und die Verpflichtung, die er ihr gegenüber auf sich genommen hatte. Als er um die Liebe der Marie Gray warb, war der Beweggrund wohl aufrichtige Zuneigung, ja heftige Leidenschaft gewesen, andrerseits hatte dabei aber auch das Verlangen, seine Eitelkeit zu befriedigen, mitgewirkt. Es war ihm darum zu tun, den Preis davonzutragen, um den Hartley mit ihm zu ringen den Mut hatte. Auch von andern Leuten, die ihm an Rang und Vermögen überlegen waren, sah er Marie Gray viel umworben, auch diesen Anbetern den Preis streitig zu machen und den Rang abzulaufen, kitzelte seinen Ehrgeiz.
Indessen machte er sich jetzt sofort klar, daß seine Liebe zu der Tochter des Arztes ihn nicht von der Laufbahn, zu der er sich nun entschloß, ernstlich abhalten dürfe. Er versöhnte sein Gewissen mit diesem Beschluß, indem er sich vorhielt, es sei ja in ebendemselben Maße auch Mariens Interesse, die Hochzeit solange zu verschieben, bis er sein Glück gemacht hätte.
Nun hatte allerdings die Verachtung, die ihm Hartley offen gezeigt hatte, seinen zuversichtlichen Glauben in die Richtigkeit seiner Folgerungen und Entschlüsse sehr erschüttert und den Argwohn in ihm erweckt, er spiele doch eine sehr klägliche und unmännliche Rolle, wenn er das Schicksal dieses lieben und unglücklichen Mädchens, das Wohl und Wehe seiner Geliebten so ganz wie eine nichtige Angelegenheit abtue. In dieser Stimmung des Zweifels und der Unschlüssigkeit ging Richard ins Gasthaus zum Schwanen und wartete dort in Ungeduld auf seinen Freund, den Kapitän.
Als beide gemütlich bei einer Flasche Wein saßen, begann Middlemas mit der ihm eignen ebenso graziösen wie zielbewußten Vorsicht seinen Freund auszuhorchen, ob jemand, der in die Dienste der ostindischen Gesellschaft trete, Aussicht hätte, in nicht allzu langer Zeit Offizier zu werden.
»Wenn Ihr, mein teurer Freund,« antwortete Hillary, »die Absicht hegt, Hammelfleisch mit Brühe gegen die würzigen Suppen und Pasteten zu vertauschen, so kann ich nur sagen, Ihr werdet freilich zuerst als bloßer Kadett eintreten müssen, aber Ihr sollt schon auf der Überfahrt – bei allen Teufeln – wie mein eigner Bruder gehalten werden. Wenn wir aber erst in Madras angelangt sind, so werde ich Euch schon auf den rechten Weg bringen, um zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Ihr habt, glaube ich, eine Kleinigkeit an Geld – so etwa 1000 Pfd., was?«
»So annähernd, ja,« antwortete Richard.
»Das reicht gerade aus für Ausrüstung und Überfahrt,« sagte sein Freund. »Und wenn Ihr auch keinen Heller hättet, das wäre einerlei. Wenn ich nämlich einmal zu einem Freunde sage, ich will ihm beistehen, so bin ich nicht derjenige, der wieder zurücktritt aus Furcht, es wäre kein Geld da. Es ist aber gut, daß Ihr etwas Kapital habt, denn das ist doch wenigstens eine Grundlage.«
»Gewiß,« antwortete Richard, »Ich mag auch niemand zur Last fallen. Daß ich Euch die Wahrheit sage, ich beabsichtige mich vor meiner Abreise zu verheiraten. Dazu ist Geld nötig, wie Ihr Euch wohl denken könnt, ob nun meine Frau mitkommt oder ob sie hierbleibt, bis sie hört, ob ich mein Glück gemacht habe. Dann würde ich sogar mir von Euch eben noch ein paar Pfund borgen müssen.«
»Was den Teufel schwatzt Ihr da von Heiraten, Richard?« rief der Kapitän. »Ein schmucker, einundzwanzigjähriger Bursch wie Ihr, der sechs Fuß hoch aus seinen Schuhen herausragt, will sich's einfallen lassen, sich auf Lebenszeit zum Sklaven zu machen?«
»Besinnt Ihr Euch auf Marie, die Tochter meines Lehrherrn?« fragte Middlemas.
»Ach, die!« entgegnete Hillary. »Ist sie denn zu etwas zu gebrauchen?«
»Sie ist ein verständiges Mädchen. Sie ist das sanfteste, schlichteste und gefügigste Wesen auf Erden,« sagte der Verehrer.
»Na, dann taugt sie nichts,« sagte sein Berater. »Tut mir leid, Richard, aber dann ist sie nicht zu gebrauchen. Ich sage Euch, wir haben Weiber in Indien, die in dem Spektakeldasein dort eine Rolle spielen – ein paar habe ich selber gekannt, die haben ihre Männer vorwärts bugsiert, sonst wären sie bis zum jüngsten Tage im Dreck stecken geblieben. Laßt Euch sagen, es geht nur eins, entweder heiraten oder auf Indien verzichten, aber beides gibt's nicht! Wenn Ihr Euch freiwillig einen Klotz um den Hals hängt, so müßt Ihr es eben aufgeben, ein Wettrennen mitzumachen. Übrigens braucht Ihr nicht etwa zu denken, daß es gleich ein Ende mit Schrecken gibt, wenn Ihr mit dem Mädel brecht. Der Abschied wird freilich ein unangenehmer Auftritt werden, aber unter den indischen Weibern werdet Ihr sie bald vergessen. Für den Markt in Indien ist sie keine Ware, das kann ich Euch versichern.«
Der Einfluß, den der prahlerische und großmäulige Soldat auf Middlemas erlangt hatte, war bei aller Eigensinnigkeit des letztern von despotischer Art. Der Kapitän war dem jungen Manne an Bildung und Kenntnissen und Begabung durchaus unterlegen, aber jener hatte eine große Gewandtheit, ihm verlockende Aussichten vorzuspiegeln – Aussichten von jener Art, wie sie von Kindheit auf Richards Phantasie beherrscht hatten.
Als Bedingung des Dienstes, den er ihm zu erweisen sich bereit erklärte, nahm er ihm das Versprechen ab, unbedingt darüber Schweigen zu bewahren, daß er mit ihm nach Indien ginge und welche Pläne ihn dabei geleitet hätten.
Das versprach denn Richard auch. Die beiden Freunde trafen sogar die Verabredung, sich nicht mehr zusammen in Middlemas sehen zu lassen und auch nicht zusammen Middlemas zu verlassen. Der Kapitän wollte zuerst abreisen und Richard sollte ihn in Edinburgh treffen. Dort sollte er förmlich für den Dienst angeworben und alles geregelt werden, was zur Überfahrt nach Indien erforderlich wäre.
Achtes Kapitel
Obgleich sich Richard in also bestimmter Weise zur Abreise verabredet hatte, dachte er doch von Zeit zu Zeit mit Kummer und Beklemmung an den Abschied von Marie Gray und an den Plan, den sie beide sich gemacht hatten. Aber sein Entschluß war gefaßt, er konnte ihr den Schmerz nicht mehr ersparen. Der undankbare Verehrer, der längst schon den Gedanken an ein häuslich glückliches Leben von sich gewiesen hatte, das er hätte genießen können, wenn er vernünftigeren Sinnes gewesen wäre, dachte nur noch daran, wie er es anstellen solle, um nicht gänzlich mit ihr zu brechen und doch alle Gedanken an ihre Vereinigung aufzugeben, bis er von seiner Expedition nach Indien erfolgreich zurückgekehrt sei.
In Hinsicht auf den letzten Punkt hätte er sich freilich alle Besorgnis ersparen können. Der Reichtum ganz Indiens hätte nie Marie Gray bewegen können, gegen den Willen ihres Vaters das Elternhaus zu verlassen. Jetzt, da der alte Mann seine zwei Hilfsärzte nicht mehr hatte, war das an sich ganz ausgeschlossen, denn er hätte sich völlig verlassen fühlen müssen, wenn er sich zu gleicher Zeit auch von seiner Tochter hätte trennen sollen.
Die Zeit war herangekommen, daß Richard Middlemas das Vermögen beanspruchen durfte, das seinen Vormündern, dem Stadtsekretär und dem Doktor Gray, zur Verwaltung übergeben worden war.
Sein Pflegevater fragte ihn natürlich, wozu er sich nun beim Antritt seiner Selbständigkeit entschlossen habe.
Er gab die trockene Antwort, es hätten sich ihm Aussichten eröffnet, über die er nicht weiter reden dürfe. Wenn er aber erst in London sei, wolle er seinem Pflegevater schreiben und ihm Näheres mitteilen.
Gideon war des Glaubens, der Vater oder Großvater des jungen Mannes hätten an diesem entscheidenden Wendepunkt seines Lebens sich endlich zu einer Annäherung bereit gefunden. Er erwiderte daher:
»Richard, du bist ein Kind des Geheimnisses. Wie du zu mir gekommen bist, so gehst du wieder von mir. Ich wußte nicht, woher du kamst, und nun weiß ich nicht, wohin du gehst. Daß also alles, was dich betrifft, ein Geheimnis bleibt, ist vielleicht nicht gerade günstig. Aber wie ich stets in Freundlichkeit dessen gedenken werde, den ich solange gekannt habe, so mußt auch du, wenn du dich des alten Mannes erinnerst, immer eingedenk sein, daß er dir gegenüber seine Pflicht getreu getan hat, soweit seine Mittel und sein Können gingen, und daß er dich den edlen Beruf lehrte, durch den du dir – wie auch immer dein Los sich gestalten mag – dein Brot verdienen und zugleich das Unglück deiner Mitmenschen lindern kannst.«
Durch die schlichte Güte des Doktors gerührt, sprach ihm Middlemas seinen herzlichen Dank aus.
»Noch ein Wort!« sagte Gray und zog ein kleines Schmuckkästchen hervor. »Deine unglückliche Mutter hat mir diesen wertvollen Ring gegeben, ich habe kein Recht daran, denn meine Bemühungen sind mehr als reichlich bezahlt worden, ich habe ihn auch nur in der Absicht angenommen, ihn für dich aufzuheben, bis die Stunde gekommen wäre. Er kann dir vielleicht von Nutzen sein, wenn einmal nach deiner Herkunft gefragt wird.«
»Ich danke Euch nochmals!« rief Richard. »Ihr wart mir mehr als ein Vater!«
Der Abschied von der armen Marie war noch rührender. Ihr Kummer rief wieder alle Innigkeit der ersten Liebe in ihm wach. Er machte sich von dem Vorwurf, ihr nicht aufrichtig zugetan zu sein, frei, indem er nicht nur um sofortige Verheiratung bat, sondern sich bereit erklärte, auf seine glänzenden Aussichten zu verzichten und Herrn Grays bescheidene Stellung zu teilen, wenn er gleich mit ihr getraut würde.
Aber obgleich in diesem Zeugnis von der Treue ihres Geliebten ein Trost für Marie lag, so war sie doch nicht so unklug, ein Opfer anzunehmen, das ihn nachher hätte gereuen können.
»Nein, Richard,« sagte sie, »es nimmt selten ein gutes Ende, wenn man unter dem Einfluß augenblicklicher Gefühle Entschlüsse ändert, die man nach reiflicher Überlegung gefaßt hat. Ich habe es lange gemerkt, daß deine Pläne weit über die bescheidne Stellung hinausgehen, die dir in diesem Orte winkt. So geh denn auf die Suche nach Rang und Reichtum, vielleicht denkt auch dein Herz bald anders. Dann vergiß Marie Gray, wenn das nicht eintrifft, so können wir uns wiedersehen und du kannst versichert sein, daß ich dir immerdar die Treue wahren werde.«
Als die Trennung vorüber war, stieg Richard auf ein Pferd und machte sich auf den Weg nach Edinburgh, wohin sein Gepäck schon vorausgeschickt worden war.
Unterwegs kam ihm öfters der Gedanke, er täte wohl besser daran, wieder umzukehren und sich sein Glück zu sichern, indem er Marie heiratete und sich mit dem bescheidenen Einkommen begnügte. Aber als er sich seinem Freunde Hillary angeschlossen hatte, war alles vergessen, und er fühlte sich bestärkt in dem Entschlusse, erst Rang und Reichtum zu erringen und sie dann mit Marie Gray zu teilen.
Aber die Dankbarkeit gegen ihren Vater schien noch rege zu sein, denn er übersandte ihm ein hübsches Petschaft mit einem Löwen in goldnem Felde. Marie kannte die Handschrift und beobachtete gespannt ihren Vater, als dieser den Brief kopfschüttelnd las.
»Richard Middlemas ist und bleibt ein Narr, Marie«, sagte der Doktor. »Ich werde ihn sicherlich nicht vergessen, er braucht mir gar kein Andenken erst zu schicken. Nun, hebe du das Ding auf, liebe Marie, gut gemeint wird es schon sein.«
Daß das Petschaft sorgfältigst aufbewahrt wurde, braucht wohl nicht erst gesagt zu werde.
Neuntes Kapitel
Ihr Reiseziel war zunächst die Insel Wright. Nach ruhiger Überfahrt ging das Schiff bald vor dem Städtchen Ryde vor Anker. Der Kapitän wollte seinen Passagieren und vor allem seinem früheren Gespielen zu Ehren ein Festessen an Bord geben, ehe sie das Schiff verlassen würden. Er hatte ein Zelt und eine Tafel aufschlagen lassen, und Seekrebse, Pasteten von Fisch und andre Leckereien des Seelebens waren in einem Überfluß aufgetischt worden, der zu der Zahl derer, die sie verzehren sollten, in gar keinem Verhältnis stand. Danach gab es einen Punsch, der vortrefflich schmeckte, aber merkwürdig stark war.
Kapitän Hillary ließ die Gläser wacker kreisen und trank seinem Freunde wacker zu. Mit erhöhtem Glanz gab er seine Beschreibungen indischer Szenerien und indischer Abenteuer zum besten, und versicherte Middlemas von neuem, wenn er ihm auch nicht sofort eine Offiziersstelle verschaffen könne, so handle es sich doch nur um einen kurzen Aufschub, der eben nötig sei, damit er überhaupt erst mal kennen lernte, worauf es beim Militär ankäme.
Middlemas war durch den genossenen Punsch in zu große Begeisterung versetzt worden, als daß er im Anfange seiner Laufbahn irgendwelche Schwierigkeit erblickt hätte. Ob nun diejenigen, die an dem Gelage teilnahmen, ausgepichte Zecher waren, ob nun Middlemas mehr als die andern getrunken hatte, ober ob man ihm, wie er später argwöhnte, etwas Betäubendes beigebracht hatte – fest steht jedenfalls, daß er binnen kurzem schwer berauscht war und alle Stadien dieses achtbaren Zustandes rasch durcheilte: er lachte – er sang – er schrie – er tobte – er wurde zärtlich – und er verfiel schließlich in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf.
Wie gewöhnlich zeigte die Wirkung des Rausches sich in hundert wirren wilden Träumen und Phantasien. Er sah sich in ausgedörrte Wüsten versetzt, von gräßlichen Schlangen umringt, deren Biß unerträglichen Durst erweckte – er sah indische Fakire am Marterpfahle leiden und fühlte sich selber in die Qualen der Hölle geschleudert.
Und als er schließlich erwachte, schien diese letzte Phase seines Traumes zur Wirklichkeit geworden zu sein. Die Laute, die zuerst sich in seine Träume vermischt und dann seinen Schlummer gestört hatten, hallten ihm jetzt in furchtbarer, vernichtender Deutlichkeit ins Ohr. Sie tönten aus langen Reihen von Strohbetten, die wie in einem Militär-Lazarett dicht aneinander standen. Eine verheerende Seuche schien der entsetzliche Dämon dieser grausigen Stätte zu sein.
Die Kranken lagen im Delirium, sie schrieen, kreischten und fluchten. Richard Middlemas war zugleich verwundert und entsetzt. Er hatte vor den Unglücklichen, mit denen er hier zusammen war, nur das eine voraus, daß er einen Strohsack für sich allein hatte, während die andern immer zu zweit auf einem lagen. Er konnte niemand sehen, der die Kranken gepflegt oder auf ihre Klagen gehört hätte. Er sah sich nach seinen Kleidern um, damit er aufstehen und sich aus dieser Höhle des Entsetzens retten könne, aber weder seine Kleider, noch seine Reisetasche oder seine Schiffskiste waren zu sehen. Es kam ihm die Furcht, daß er sie wohl nie wiedersehen würde.
Zu spät erinnerte er sich jetzt der Gerüchte, die über seinen Freund Hillary umgegangen waren – daß er von Herrn Lawford entlassen worden sei wegen einer Veruntreuung, die er sich in seinem Dienst habe zu schulden kommen lassen.
Wer aber hätte eine solche Schändlichkeit voraussehen können, daß er seinen Jugendfreund, der volles Vertrauen in ihn gesetzt hatte, in eine Falle hatte locken, seines Vermögens berauben und in dieses Pesthaus schaffen wollen, damit mit dem Tode seine Zunge für immer verstumme. Middlemas aber war entschlossen, alles zu seiner Rettung zu versuchen. Es mußte doch einmal ein Offizier oder ein Arzt hierher kommen, bei dem er Protest erheben konnte.
Neben diesen peinigenden Gedanken marterte ihn noch ein fürchterlicher Durst, den zu stillen ihm versagt war. Inzwischen versuchte er zu entdecken, ob sich nicht mit dem einen oder andern seiner Leidensgefährten ein Gespräch anknüpfen ließe, aus dem er Näheres über die Beschaffenheit dieses furchtbaren Ortes hätte erfahren können.
Auf dem Bette neben ihm lagen zwei Kerle, die zwar auf dem Wege der Genesung zu sein schienen, aber doch jedenfalls mit knapper Not dem Rachen des Todes entronnen waren. Ihre Beschäftigung bestand jetzt darin, sich im Kartenspiel um ein paar Hellerstücke zu bringen.
Neben diesen wiederum lagen zwei auf einer Lagerstätte, von denen nur noch einer am Leben war. Der andre Kranke war vor kurzem von seinen Leiden erlöst worden.
»Er ist tot, er ist tot«, rief der unglückliche Hinterbliebene.
»Na, dann krepier du auch und geh zur Hölle!« sagte einer der Spielenden, »dann macht ihr beide ein Paar, wie der Hanswurst sagt.«
»Er wird schon steif und kalt,« jammerte der andre. – »Es ist doch keine Sache, einen Toten mit einem Lebenden zusammenzubetten. Um Gotteswillen, befreit mich von diesem Leichnam!«
»Nicht wahr, damit es hinterher heißt, wir hätten ihm den Garaus gemacht? Er hatte ja auch noch zwei oder drei Silbermünzen bei sich.«
»Vor einer Stunde erst habt ihr ihm die letzte Münze aus der Hosentasche genommen, das werdet ihr wohl selber wissen,« erwiderte der Arme. »Aber helft mir den Leichnam aus dem Bett schaffen, dann sag' ich auch dem Aufseher nichts, daß ihr bei ihm lange Finger gemacht habt.«
»Was! Dem Aufseher willst du was sagen?« versetzte der Kartenspieler. »Noch ein Wort, und ich dreh dir das Genick um! Halt ja dein Maul und störe uns nicht im Spiel mit deinen Albernheiten, sonst mach ich dich so stumm wie deinen Bettgenossen.«
Der Unglückliche sank stöhnend zurück neben seinen schrecklichen Schlafkameraden, und das Kartenspiel nahm wieder unter Fluchen und abscheulichen Scherzen seinen Verlauf.
Aus diesem Beispiel der abgehärtetsten Gleichgültigkeit gegen das äußerste Elend gewann Richard Middlemas die Überzeugung, daß er von seiten seiner Leidensgefährten kaum auf Entgegenkommen rechnen durfte. Da verließ ihn jeglicher Mut. Gedanken an das glückliche und friedliche Heim, das er sein eigen hätte nennen können, traten vor seine fieberhaft erhitzte Phantasie mit einer Deutlichkeit und Lebendigkeit, die an Wahnsinn grenzte.
Plötzlich ließen sich Tritte im Raume hören, und die mancherlei Laute des Jammers, die ihn erfüllten, kamen alsobald zum Schweigen. Die Spielenden steckten die Karten weg und hörten auf zu fluchen. Andre Kranke, deren Gestöhn sich bis zur Raserei gesteigert hatte, verstummten jäh. Das Kreischen des Todeskampfes schwieg, das sinnlose Gebrüll des Wahnsinns brach ab, und sogar der Sterbende bemühte sich, sein Röcheln in Gegenwart des Kapitäns Seelencooper nicht laut werden zu lassen.
Dieser Beamte war der Oberaufseher des Lazaretts, ein vierschrötiger, krummbeiniger Mann mit einem Auge, das aber ebenso wild drein sah, wie es zwei wilde Augen nur immer vermögen. Er trug eine alte, verschossene Uniform, die gar nicht für ihn gemacht zu sein schien, in seinem Gürtel steckten ein Paar Pistolen und ein Hirschfänger, zwei Gehilfen, die Handschellen und Zwangsjacken trugen, folgten ihm.
Wenn Seelencooper revidieren kam, verstummte jedes Schmerzensgeschrei.
Der pfeifende Ton des Bambusrohres, das er in der Hand schwang, hatte die Gewalt eines Zauberstabes, Klagen und Beschwerden zum Schweigen zu bringen.
»Ich sage Euch, das Fleisch duftet wie ein Blumenstrauß, und das Brot ist noch viel zu gut für ein Pack von Faulenzern, die hier dem lieben Gott den Tag wegstehlen und der Gesellschaft die Lebensmittel wegfressen – von denen, die wirklich krank sind, rede ich hier nicht – denn ich bin immer für humane Behandlung.«
»Wenn das der Fall ist, Herr,« sagte Richard, als der Kapitän eben an sein Lager trat, »dann wird Euer humaner Sinn Euch geneigt machen, anzuhören, was ich zu sagen habe.«
»Wer zum Teufel seid Ihr?« fragte der Kapitän, während er sein eines glühendes Auge auf Richard heftete und sein Gesicht die Miene wilden Hohnes annahm, für die es vorzüglich geschaffen zu sein schien.
»Ich heiße Middlemas und komme von Schottland. Ich bin durch ein Versehen hierhergekommen – ich bin kein Gemeiner und auch gar nicht krank.«
»Na, mein lieber Freund, hier handelt es sich bloß darum, seid Ihr als Rekrut in die Werbeliste eingeschrieben worden?«
»Jawohl, in Edinburgh, aber ...«
»Na zum Satan, was wollt Ihr denn? Ihr steht in der Werbeliste – der Kapitän und der Doktor haben Euch hierher geschickt – die wissen doch wohl am besten, ob Ihr Offizier seid oder Soldat, und ob Ihr krank seid oder gesund.«
»Aber es sind mir Versprechungen gemacht worden,« sagte Middlemas, »Versprechungen von Tom Hillary ....«
»So? Versprechungen sind Euch gemacht worden? Hier ist nicht ein einziger, dem nicht von dem oder jenem irgendwelche Versprechungen gemacht worden wären. Na dann guten Morgen. Der Doktor macht gleich die Runde und wird euch alle kurieren.«
»Bleibt nur noch einen Augenblick! Ich bin bestohlen worden!«
»Bestohlen? Ei, seht an! Jeder, der hierher kommt, ist bestohlen worden. Bei Gott, ich bin der glücklichste Kerl von ganz Europa, andre Leute meines Standes kriegen lauter Spitzbuben und Diebe unter die Fuchtel, ich aber habe lauter ehrliche und anständige Herren, die selber samt und sonders bestohlen worden sind. – Na, guten Morgen.«
Er ging weiter. Richard wollte ihm nachrufen, aber die Stimme versagte ihm vor Durst und Aufregung. Ihm war, als sollte er den Verstand verlieren. Sein Mund war wie mit Asche gefüllt, Schwäche überfiel ihn, es summte und klang ihm in den Ohren, und für den Augenblick schien das Leben von ihm gewichen.
Zehntes Kapitel
Als Middlemas wieder zu sich kam, fühlte er, daß sein Blut ruhiger umlief, das Fieber nachgelassen hatte, und seine Lungen freier atmeten. Ein Hilfsarzt stand bei ihm und verband ihm eine Ader, aus der eben eine beträchtliche Menge Blutes genommen worden war. Ein andrer, der dem Kranken das Gesicht gewaschen hatte, hielt ihm eine stark riechende Essenz unter die Nase.
Richard schlug die Augen auf und erkannte in dem erstern seinen Lehrkameraden Adam Hartley, der ihm rasch einen Wink gab, sich nichts merken zu lassen.
»Ich muß jetzt gehen,« flüsterte Hartley ihm in einem unbewachten Augenblick zu, »aber faßt Mut – ich glaube ich kann Euch helfen – inzwischen nehmt von niemand Speise oder Trank an als von meinem Diener, den Ihr dort den Schwamm halten seht. Ihr seid hier an einem Orte, wo vor kurzem einer wegen einem Paar goldner Hemdknöpfe ermordet worden ist.«
»Wartet einen Augenblick!« sagte Middlemas, »ich will dann das hier in Sicherheit bringen, um meine Nachbarn nicht in Versuchung zu bringen.«
Mit diesen Worten zog er aus seiner Unterjacke ein kleines Päckchen hervor und reichte es Hartley.
»Wenn ich sterbe, mögt Ihr mein Erbe sein,« setzte er hinzu.
Die rauhe Stimme Seelencoopers verhinderte Hartley zu antworten.
»Na, Doktor, werdet Ihr Euren Patienten durchbringen?«
»Es war eine recht bedenkliche Ohnmacht,« erwiderte der Doktor, »Ihr müßt ihn in das bessre Krankenzimmer schaffen lassen, mein Gehilfe soll ihn dort pflegen.«
»Na, wenn Ihr es befehlt, so muß es ja wohl geschehen, Doktor, ich kann Euch aber sagen, es gibt einen, und wir kennen ihn beide, der hat mindestens tausend Gründe, daß der Bursch im allgemeinen Krankensaal bleibt.«
»Was gehen mich Eure tausend Gründe an?« entgegnete Hartley. »Ich kann Euch nur sagen, der junge Mann ist ein so gesunder und kräftiger Bursche, wie die Gesellschaft kaum einen zweiten unter ihren Rekruten hat. Es ist meine Pflicht, ihn für den Dienst zu retten, und wenn Ihr meine Weisungen nicht gehörig befolgt und er dadurch zugrunde geht, so könnt Ihr Euch darauf verlassen, daß ich dem General Bericht erstatte. Laßt daher den jungen Mann recht sorgfältig behandeln, Ihr habt die Verantwortung.«
Mit diesen Worten verließ er das Lazarett.
Richard hatte von diesem Gespräch genug vernommen, um neue Hoffnung auf Befreiung zu fassen. Die Hoffnung wurde noch bestärkt, als er gleich darauf in ein besonderes Krankenzimmer gebracht wurde, ein reinliches Gemach, in welchem sich nur zwei Patienten, anscheinend Unteroffiziere, befanden.
Obwohl er recht gut wußte, daß er nicht krank war, so hielt er es doch für das klügste, sich als Kranken behandeln zu lassen, weil er so unter der Obhut seines einstigen Gefährten bleiben konnte. Während ihm so Hartleys Dienste sehr willkommen waren und er sie zu seinem Besten zu nutzen entschlossen war, beherrschte ihn im geheimen doch das undankbare Gefühl: Konnte mich der Himmel nicht anders retten als durch die Hände dessen, den ich von allen Menschen auf Erden am wenigsten leiden mag?
Es erfordert eine nähere Darlegung, auf welche Weise Hartley in die Lage gekommen war, ihm in dieser Not behilflich zu sein.
Unsere Erzählung spielt zu einer Zeit, in der die Direktoren der Ostindischen Gesellschaft, in jener kühnen und zielbewußten Politik, der das britische Reich seine gewaltige Machtentfaltung im Orient verdankt, den Beschluß faßten und durchführten, bedeutende Verstärkungen europäischer Truppen zur Sicherung und Befestigung ihrer Stellung in Indien dorthin zu senden. Diese war damals durch den berühmten Haidar Ali bedroht, der nach Entthronung seines Fürsten die Regierung im Königreich Maisur an sich gerissen hatte.
Für diesen Dienst Rekruten zu werben, war mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Die Leute zogen den Militärdienst des Königs vor, und die Gesellschaft erhielt nur das allerschlechteste Material an Mannschaften, trotzdem ihre Agenten nicht die geringsten Bedenken hegten, die dreistesten Mittel, die oft an Verbrechen grenzten, bei ihren Werbungen anzuwenden.
Die Methode des Seelenkaufes oder, wie man es zu nennen pflegte, des Menschenfanges, war damals in der Tat im höchsten Schwange, und zwar nicht allein für den Kolonialdienst, sondern auch für den königlichen Garnisondienst. Da die Agenten, denen die Werbung oblag, natürlich durchaus gewissenlos vorgehen mußten, so kamen nicht allein viele Niederträchtigkeiten und Schlechtigkeiten vor, sondern es geschah ab und zu sogar ein Fall von Beraubung und Ermordung.
Solche Grausamkeiten und Verbrechen ließ der Staat nicht verfolgen, da es für ihn das oberste Gesetz war, Soldaten zu bekommen, und der Zweck hier die Mittel heiligte.
Die so gesammelten Truppen wurden zunächst insgesamt auf der Insel Wright untergebracht. Die Jahreszeit war ungesund und die Leute meistens auch von wenig widerstandsfähiger Natur, herabgekommen und elend, und so brach unter ihnen eine bösartige Seuche aus, die das Militärlazarett rasch überfüllte, dessen Verwaltung dem Kapitän Seelencooper, einem alten und erfahrenen Werbeoffizier, übertragen worden war.
Mehrere Ärzte wurden von der Direktion der Gesellschaft nach der Insel gesandt. Unter diesen befand sich auch Hartley, der in einer Prüfung vor einer medizinischen Kommission seine Fähigkeit bewiesen hatte und außerdem ein Doktordiplom der Universität Edinburgh besaß.
Um in die geworbene Mannschaft Manneszucht hineinzubringen, übertrug die Direktion einem ihrer Mitglieder, dem General Witherington, unbeschränkte Vollmacht. Der General war ein Offizier, der sich im Dienste der Gesellschaft schon in hohem Grade ausgezeichnet hatte. Vor etwa sechs Jahren war er als steinreicher Mann aus Indien zurückgekehrt und hatte sein Vermögen noch durch die Heirat mit einer sehr reichen Erbin vermehrt.
Sie verkehrten indessen wenig in der vornehmen Welt und schienen nur für ihre Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen, zu leben. Obgleich der General sich schon vom Dienst zurückgezogen hatte, übernahm er doch gern den ihm erteilten Auftrag und mietete sich ein gutes Stück außerhalb der Stadt Ryde ein. Er teilte seine Truppen in verschiedene Körper, ernannte fähige Offiziere und war bestrebt, durch regelmäßigen Dienst und Unterricht Disziplin zu schaffen.
Kapitän Seelencooper und seine Genossen vernahmen von ihm mit Zittern und Zagen, denn sie befürchteten, daß nun auch sie zur Rechenschaft gezogen würden, allein der General, der sonst alles persönlich untersuchte, schien nicht willig, das Lazarett selber zu revidieren. Man schrieb diese Abneigung der Furcht vor Ansteckung zu, und jedenfalls war die auch der Grund, doch ließ sich General Witherington zu dieser Handlungsweise nicht durch Besorgnis um seine eigene Person bestimmen, er fürchtete lediglich, er könne den Krankheitsstoff mit nach Hause in die Kinderstube bringen, in der der zärtliche Vater tagtäglich weilte.
Seine Gemahlin war noch ängstlicher. Wenn der Wind von der Seite her wehte, wo das Lazarett lag, so ließ sie die Kinder nicht aus dem Hause. Die Vorsehung macht jedoch oft alle Maßregeln der Sterblichen zu nichte.
Auf einem Spaziergange in einer Gegend, die als die entlegenste und vor der Seuche sicherste zu kleinen Ausflügen erwählt worden war, begegneten die Kinder einem Weibe, das auf dem Arme ein kaum von den Pocken genesenes Kind trug.
Der Vater hatte aus Ängstlichkeit und infolge religiöser Bedenken seitens der Mutter die Kinder noch nicht impfen lassen, auch war die Impfung damals noch nicht allgemein üblich.
Wie das Feuer an einer Zündschnur griff nun die Krankheit um sich und befiel alle Mitglieder der Familie, die die Seuche noch nicht gehabt hatten.
Der zweite Knabe starb, desgleichen zwei farbige Diener. Die Angst des Vaters und der Mutter hatte den Höhepunkt erreicht, als der Kammerdiener des Generals, der wie er selber aus Northumberland stammte, eines Tages mit der Nachricht nach Hause kam, unter den Ärzten des Lazaretts sei ein junger Mann, gleichfalls ein Northumbrier, der öffentlich die bisherige Behandlungsweise der Krankheit getadelt und eine andere empfohlen hätte, die er selber schon mit bestem Erfolge angewandt hätte.
»Laßt den jungen Mann sofort zu mir kommen«, entschied der General ohne weiteres.
Elftes Kapitel
Bekanntlich bestand die alte Behandlungsweise der Pocken darin, daß man den Kranken alles versagte, wonach sie naturgemäß verlangten, sie wurden in geheizte Zimmer geschlossen, in wollene Decken gehüllt und erhielten Glühwein als Getränk, während die Natur kaltes Wasser und frische Luft begehrte. Seit einigen Jahren war von mehreren Ärzten eine entgegengesetzte Behandlungsweise angewendet worden, die namentlich von Gideon Gray in hohem Maße vervollkommnet worden war.
Als General Witherington den jungen Arzt sah, machte ihn zunächst das jugendliche Alter ein wenig stutzig. Als er ihm aber zugehört hatte, wie er mit Bescheidenheit und Selbstvertrauen den Unterschied zwischen den beiden Heilverfahren auseinandersetzte, hatte er eine andere Meinung von ihm. Dennoch war er sich noch nicht sogleich schlüssig.
»Eure Beweisführung scheint einleuchtend,« sagte er zu Hartley, »aber sie beruht immerhin nur auf einer Vermutung. Was könnt Ihr zur Bekräftigung Eurer Theorie anführen, die doch eben dem allgemein üblichen Verfahren zuwiderläuft?«
»Die eigene Erfahrung«, antwortete Hartley. »Ich habe hier ein Tagebuch über Krankheitsfälle, deren Behandlung ich mit angesehen habe, es sind zwanzig Fälle von Pocken darin angeführt, von denen achtzehn geheilt wurden.«
»Und die anderen zwei?« fragte der General.
»Endeten mit dem Tode«, erwiderte Hartley. »Es ist uns noch nicht völlige Gewalt über diese Geißel des Menschengeschlechts gegeben.«
»Junger Mann,« fuhr der General fort, »wenn ich Euch nun sage, 1000 portugiesische Dukaten sind Euer, wenn es Euch gelingt, meine Kinder am Leben zu erhalten, was könnt Ihr als Gegengewähr aufstellen?«
»Ich setze meinen Ruf dagegen,« antwortete Hartley ruhig und fest.
»Und könnt Ihr Euren Ruf einsetzen für die Heilung Eurer Patienten?«
»Verhüts Gott, daß ich so anmaßend wäre! ich kann aber dafür einstehen, daß diejenigen Mittel angewendet werden, die mit Gottes Segen die beste Aussicht auf einen glücklichen Ausgang verbürgen.«
»Genug,« entschied der General, »Ihr seid vernünftig, bescheiden und kouragiert, ich will Euch vertrauen.«
Seine Gattin, auf die Hartleys Worte und Wesen einen tiefen Eindruck gemacht hatten, hegte schon längst den innigen Wunsch, daß mit dieser Behandlungsweise gebrochen würde, bei der die Kranken schmerzlichster Qual und Entbehrung preisgegeben waren, und die sich auch schon als verhängnisvoll erwiesen hatte, erklärte sich mit der Entscheidung ihres Mannes mit Freuden einverstanden, und Hartley erhielt unumschränkte Vollmacht im Krankenzimmer. Die Fenster wurden geöffnet, die Feuer ließ man ausgehen, und an Stelle des Glühweines und der gewürzten Getränke kam frisches Wasser.
So ging Hartley ruhig seinen Weg, und die Patienten befanden sich bald auf dem Wege der Besserung.
Der junge Schotte war weder dünkelhaft noch durchtrieben, aber er kannte bei aller Gradheit seines Wesens doch den Einfluß, den ein Arzt auf die Eltern, deren Kinder er eben vom sicheren Tode errettet hatte, gewinnen mußte, und diesen Einfluß beschloß er zugunsten seines ehemaligen Kameraden auszunutzen.
Auf seinem Wege nach dem Hause des Generals, wo er zurzeit ständig wohnte, untersuchte er das Paket, das Middlemas ihm anvertraut hatte, es enthielt ein einfaches Miniaturbild der Marie Gray und den Brillantring, den der Doktor dem jungen Manne beim Abschied als letzte Gabe seiner Mutter ausgehändigt hatte. Das erste dieser Andenken entlockte Hartley einen Seufzer, vielleicht eine Träne und erfüllte ihn mit traurigen Erinnerungen.
»Ich fürchte nur,« dachte Hartley bei sich, »sie hat keine ihrer würdige Wahl getroffen, aber sie soll glücklich werden, wenn es in meiner Macht liegt, sie glücklich zu machen.«
Im Hause des Generals angelangt, begab sich Hartley sofort ins Krankenzimmer und brachte dann den Eltern die frohe Kunde, daß die Heilung ihrer Kinder sich als gesichert betrachten ließe.
»Doktor,« sagte Witherington, »Ihr habt Euren Ruf eingesetzt, den Euer glänzender Erfolg nun nur noch gesteigert hat, gegen 1000 portugiesische Dukaten. Ihr findet den Betrag hier in diesem Taschenbuch.«
»Herr General,« sagte Hartley, »Ihr seid reich und habt ein Recht, Großmut zu üben, ich bin arm und kann es mir nicht leisten, ein Honorar für meine ärztlichen Bemühungen zurückzuweisen, aber selbst in der Freigebigkeit ist eine Grenze, und ich werde mir nur gestatten, die Hälfte dieser Summe als überreiche Belohnung meiner Dienste anzunehmen, und wenn Ihr noch in meiner Schuld zu stehen meint, so tragt sie damit ab, daß Ihr mir Eure gute Meinung wahrt und Eure Gunst.«
Nur mit Widerstreben steckte der General einen Teil des Geldes wieder zu sich.
»Und wenn ich mich mit Eurem Vorschlag einverstanden erkläre,« sagte er, »so geschieht es nur in Rücksicht darauf, weil ich Euch mit meinem Einfluß weit mehr helfen kann als mit meiner Börse.«
»Und in der Tat,« entgegnete Hartley, »wollte ich Euch gerade jetzt um eine kleine Gunst ersuchen.«
Der General und seine Gemahlin sprachen in einem Atem die Versicherung aus, daß sein Ansuchen im voraus gewährt sei.
»Dessen bin ich noch nicht so gewiß,« versetzte Hartley, »denn es betrifft etwas, worin Euer Exzellenz sonst durchaus unzugänglich ist: die Freigabe eines Rekruten.«
»Das verlangt meine Pflicht,« antwortete der General. »Ihr wißt, mit was für einer Sorte von Kerlen wir uns begnügen müssen. Sie betrinken sich, lassen sich am Abend anwerben, und am andern Morgen tut es ihnen wieder leid. Wenn ich da jeden wieder gehen lassen wollte, der von dem Sergeanten beschwindelt worden sein will, so würden wir herzlich wenig Freiwillige übrig behalten.«
»Dieser Fall liegt aber etwas eigentümlich. Der junge Mann ist um 1000 Pfund bestohlen worden.«
»Ein Rekrut, der sich für uns hat anwerben lassen, im Besitz von 1000 Pfund! Verlaßt Euch drauf, der Kerl hat Euch belogen, Doktor. Wie sollte denn einer, der 1000 Pfund hat, darauf hineinfallen, sich als Gemeiner für uns anwerben zu lassen.«
»Davon war auch gar keine Rede,« versetzte Hartley. »Der Schelm, von dem er sich hat übertölpeln lassen, hat ihm weisgemacht, er solle eine Offiziersstelle bekommen.«
»Das kann nur Tom Hillary gewesen sein, so frech ist sonst keiner, der Kerl kommt doch noch einmal an den Galgen. Aber habt Ihr auch bestimmten Anhalt dafür, daß der Mann diese Summe in der Tat besessen hat?«
»Das weiß ich ganz bestimmt,« erwiderte Hartley. »Wir sind beide zusammen bei dem gleichen trefflichen Manne in Lehre gewesen. Als nun mein Kamerad großjährig wurde, gefiel ihm der ärztliche Beruf nicht mehr, er bekam sein kleines Vermögen ausgezahlt und ist dann den Betrügereien Hillarys zum Opfer gefallen.«
»Der Fall soll genau untersucht werden,« versprach der General. »Wie schändlich ist es aber von den Angehörigen des jungen Mannes, sich so wenig um ihn zu kümmern. Einen Burschen, der noch von nichts was weiß, einem Gauner wie diesem Hillary in die Hände fallen zu lassen, ihn mit solch' einer Summe blindlings in die Welt zu schicken!«
»Der junge Mann muß wirklich hartherzige und sorglose Eltern haben!« sagte auch Frau Witherington im Tone des Mitleids.
»Er hat seine Eltern nie kennen gelernt,« antwortete Hartley. »Ein Geheimnis waltet über seiner Geburt. Von jemand, der ihn nie gesehen und nie zärtlich sich um ihn gesorgt hat, ist ihm sein Erbteil gegeben worden, und er ist in die Welt hinausgeschickt worden, wie ein Schiff ohne Steuer und Kompaß.«
Bei diesen Worten sah General Witherington unwillkürlich seine Gemahlin an, die, von dem gleichen innern Antrieb geleitet, ihrerseits ihn ansah. Sie tauschten einen raschen Blick von besonderer Bedeutung aus und senkten dann beide die Augen zu Boden.
»Ihr wart in Schottland in der Lehre,« fragte die Dame mit bebender Stimme, »und wie hieß Euer Lehrherr?«
»Ich war in Lehre bei Herrn Doktor Gideon Gray in dem Städtchen Middlemas.«
»Middlemas – Gray –« hauchte die Dame und fiel in Ohnmacht.
Hartley bot seinen ärztlichen Beistand an, der General aber stürzte zu ihr und flüsterte ihr in halb drohendem, halb warnendem Tone zu:
»Zilia, hüte dich!«
Sie lallte ein paar unverständliche Laute. Dann hob ihr Mann sie auf und trug sie aus dem Zimmer. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und redete Hartley in dem ihm eignen höflichen Tone an, obwohl es ihm nur schwer gelang, seiner Verwirrung Herr zu werden.
»Es geht meiner Frau schon wieder besser, sie wünscht Euch zu Mittag zu sehen. Ihr werdet uns doch zu Tisch die Ehre geben?«
Hartley verneigte sich.
»Meine Frau leidet öfters an derartigen Anfällen. Gram und Besorgnis haben sie in letzter Zeit zu sehr mitgenommen. Ich habe es deshalb nicht gern, daß bei diesen Anfällen, die stets wieder vorübergehen, jemand anders außer mir und ihrer alten Dienerin bei ihr ist. – Was jenen jungen Mann, Euren Freund, anbetrifft, – diesen Richard Middlemas – so nanntet Ihr ihn ja wohl?«
»Den Namen nannte ich wohl nicht, indessen,« antwortete Hartley, »haben Euer Exzellenz den Namen getroffen.«
»Das ist seltsam, Ihr müßt aber doch so etwas wie Middlemas gesagt haben,« bemerkte der General.
»Den Namen der Stadt habe ich genannt,« sagte Hartley.
»So dacht ich, das wär' der Name des Rekruten, ich war im Augenblick von dem Anfall meiner Frau ein wenig benommen. Nun, dieser Middlemas, wie er also doch heißt, ist wohl ein wilder Bursche?«
»Ich tät ihm unrecht, wollte ich ihn so nennen. Er hat wohl wie andre junge Leute seine Fehler, aber er ist doch ein tüchtiger und ordentlicher Mensch.«
»So? Er möchte also Soldat werden? Hat er ein nettes Aeußres?«
»Er ist auffallend schön,« versetzte Hartley, »und von einnehmendem Wesen.«
»Hat er dunkeln oder hellen Teint?«
»Ziemlich dunkel. Noch einen Schein dunkler als Euer Exzellenz, wenn ich mir diesen Vergleich erlauben darf.«
»Ei, dann muß er so schwarz sein wie eine Amsel. Beherrscht er fremde Sprachen?«
»Lateinisch und Französisch ziemlich vollkommen.«
»Fechten und tanzen kann er aber jedenfalls nicht?«
»Ich kann mir in diesen Dingen kein Urteil anmaßen, aber Richard gilt als Meister in beiden.«
»Das alles zusammen klingt gar nicht häßlich. Hübsches Äußere, körperliche Gewandtheit, gute Schulbildung, tüchtiger, nicht allzu wilder Charakter – der Mann ist zu schade zu einem Gemeinen – er muß eine Offiziersstelle haben, Doktor, wär's auch nur, um Euch einen Gefallen zu tun.«
»Euer Exzellenz sind großmütig.«
»Ich werde dafür sorgen, daß Tom Hillary ihm das gestohlene Gut zurückerstattet, wenn er nicht an den Galgen will – ein Schicksal, das er freilich schon längst verdient hat. Ihr aber geht heute nicht nach dem Lazarett, denn Ihr sollt bei uns speisen und wißt, wie groß die Angst meiner Frau vor Ansteckung ist. Aber morgen werdet Ihr Euch darum kümmern, daß der junge Mann mit allem, was er braucht, ausgerüstet wird. Mit dem ersten Ostindienfahrer Middlesex soll er dann abreisen.«
»Werden Euer Exzellenz erlauben, daß er Euch vorher seine Aufwartung macht?«
»Das hätte keinen Zweck,« entgegnete der General schnell und bestimmt, »Doch ja! Ich möchte ihn einmal sehen. Mein Diener Winter wird ihm die Zeit nennen und ihn herführen. Vorher aber muß er mindestens zwei Tage aus dem Lazarett sein. Je eher Ihr ihn hinauslaßt, um so besser.«
Obwohl Hartley in die Umstände der Geburt seines Jugendkameraden nicht eingeweiht war, machte ihn doch mancherlei an dem Benehmen des Generals und seiner Frau stutzig und er beschloß, einen kleinen Versuch zu machen, den er im Grunde für ziemlich harmlos hielt.
Er steckte den Ring an den Finger, den Middlemas ihm anvertraut hatte, und wußte es so einzurichten, daß Frau Witherington auf den Schmuck aufmerksam wurde.
Sie hatte ihn kaum gesehen, als sie auch die Augen fest auf ihn geheftet hielt und ihn genauer zu betrachten wünschte, weil er frappant einem Ringe ähnelte, den sie einem Freunde geschenkt habe.
Hartley zog ihn vom Finger und reichte ihn ihr mit der Bemerkung, er gehöre seinem Freunde, für den er bei dem General ein gutes Wort eingelegt habe.
In größter Aufregung zog sich Frau Witherington zurück und ließ am nächsten Tage Hartley zu einer Unterredung zu sich kommen, von deren Inhalt später die Rede sein wird.
Am folgenden Tage wurde Middlemas zu seiner großen Freude aus dem Lazarett entlassen und bei seinem Freunde einquartiert. Zwei Tage später traf sein Patent als Leutnant im Dienste der Ostindischen Gesellschaft ein.
Zwölftes Kapitel
Ehe der neue Leutnant die Reise antrat, wurde er von dem Kammerdiener Winter aufgefordert, ihm zum General zu folgen, um dem hohen Herrn vorgestellt zu werden.
Während beide den Weg zurücklegten, harrten ihrer der General und seine Frau in banger Spannung. Sie saßen in einem luxuriös ausgestatteten Empfangszimmer. Der General hatte sich hinter einen großen Leuchter gesetzt, so daß er im Schatten des Schirmes saß, von wo aus er den Besuch beobachten konnte, ohne selber genauer Beobachtung ausgesetzt zu sein.
Seine Gattin saß auf einem Berg von Kissen – eine Dame, die die volle Blüte der Schönheit schon überschritten hatte, deren Äußeres aber noch deutlich die Kennzeichen ihrer frühern wundersamen Schönheit zeigte. Sie erschien jetzt in tiefster Erregung.
»Zilia,« sagte ihr Gemahl, »du bist es nicht imstande – du hast dir zu viel zugetraut – hör auf meinen Rat und geh hinaus – ich will dir alles mitteilen, was vor sich geht – nur geh jetzt! Weshalb hältst du so hartnäckig an dem Verlangen fest, ein Wesen auf einen Augenblick zu sehen, mit dem du doch niemals wieder zusammenkommen darfst?«
»Ach, mein Gemahl!« entgegnete die Dame. »Ist nicht deine Erklärung, daß ich ihn nie wieder sehen soll, Grund genug für mich, ihn wenigstens jetzt zu sehen? – Soll ich nicht einmal den Wunsch hegen, das Angesicht und die Gestalt, die ich doch zeit meines Lebens nicht mehr schauen darf, meinem Gedächtnis einzuprägen? Liebster Richard, sei nicht grausamer als mein armer Vater selbst im ärgsten Zorn gewesen ist. Er hat mich das Antlitz des Kindes sehen lassen, und diese Erinnerung war mir ein Trost in den Jahren bittern Grames, der meine Jugend verzehrt hat.«
»Genug, Zilia, ich habe es dir versprochen – und mein Versprechen will ich halten, was auch geschehen mag. Nur denke dran, was von diesem verhängnisvollen Geheimnis alles abhängt – dein Rang und deine gesellschaftliche Stellung und meine Ehre. Jammervolles Elend und Blutvergießen wäre die Folge, wenn irgendwer das Geheimnis erführe.«
Gleich darauf öffnete sich die Tür – der Kammerdiener meldete den jungen Leutnant an – und Richard Middlemas stand, ohne es zu wissen, vor seinen Eltern.
Witherington fuhr auf, zwang sich jedoch wieder zu jener Ruhe und Würde, mit der ein Vorgesetzter einen Untergebenen empfängt. Die Mutter vermochte sich weniger zu beherrschen. Sie sprang auf, als wollte sie sich ihrem Sohne, um den sie Unglück und Kummer erduldet hatte, um den Hals werfen, aber ein warnender Blick ihres Gatten hielt sie zurück, und sie blieb stehen mit vorgebeugtem Kopf und ineinandergepreßten Händen, regungslos wie eine Statue.
»Ich schätze mich glücklich,« begann Middlemas, da der General das Gespräch nicht eröffnen zu wollen schien, »Euer Exzellenz meinen Dank aussprechen zu können, den ich nie zur Genüge abzustatten imstande sein werde.«
Obgleich er so gleichgültige Worte sprach, schien doch der Klang seiner Stimme den Zauber zu lösen, der die Mutter in regungsloser Spannung hielt. Sie seufzte tief und sank in die Kissen zurück. Middlemas sah nach ihr hin, und der General sagte rasch: »Meine Frau, Herr Middlemas, ist leidend – Euer Freund, Herr Hartley, wird wohl davon gesprochen haben – es ist ein Nervenleiden,««
Herr Middlemas sprach ein paar Worte der Teilnahme.
»Euer Patent habt Ihr wohl erhalten? – Habt Ihr noch einen besonderen Wunsch betreffs Eures Reisezieles?«
»Nein, Euer Exzellenz,« antwortete Middlemas. »Ich glaube, mein Freund Hartley hat Euer Exzellenz gesagt, wie es mit mir bestellt ist, daß ich eine arme Waise bin, die von den Eltern im Stich gelassen und in die weite Welt hinausgestoßen worden ist – ich bin ein Ausgesetzter, den niemand kennt und um den niemand sich kümmert, und dessen Eltern nur den einen Wunsch hegen, daß er möglichst weit weg und ungenannt leben möge, damit er ihnen nicht zum Schimpfe werde!«
Zilia rang die Hände und zog den Schleier dicht über das Gesicht, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Herr Hartley,« versetzte der General, »hat mir nichts Näheres über Eure Verhältnisse mitgeteilt und ich will Euch auch den Kummer ersparen, den es bereiten muß, näher darauf einzugehen. Ich möchte nur wissen, ob es Euch recht ist, wenn ich Euch nach Madras gehen lasse.«
»Gewiß, Euer Exzellenz, mir ist jeder Ort genehm, nur mit dem Schurken Hillary möchte ich nicht wieder zusammentreffen.«
»Dafür ist gesorgt, damit Ihr übrigens seht, daß der Schuft weiß, was sich gehört, so sind hier die Banknoten wieder, die er Euch gestohlen hat.« Richard Middlemas sank aufs Knie und küßte die Hand, die ihm sein verlornes Vermögen zurückgab.
»Ihr seid mir mehr als ein Vater!« rief er überschwenglich. »Ich stehe bei Euch in größerer Schuld als bei meinen unnatürlichen Eltern, die mich in Sünde zur Welt brachten und mich in Grausamkeit verließen!«
Als Zilia diese Worte hörte, warf sie den Schleier zurück und hob die Arme, dann seufzte sie laut und fiel in Ohnmacht.
Der General stieß Middlemas heftig zurück, eilte seiner Gattin zu Hilfe und trug sie wie ein Kind auf den Armen in das Zimmer nebenan.
Man kann sich sein Entsetzen denken, als alle Versuche und Bemühungen, sie zum Bewußtsein zurückzurufen, vergeblich blieben. Diener wurden nach Ärzten geschickt, nach Hartley und jedem andern, der zu finden war.
Der General stürzte in seiner Verzweiflung in das Zimmer, das er soeben verlassen hatte, und sah sich hier wieder Middlemas gegenüber, der, über das Geschrei bestürzt, der Tür sich genähert hatte.
Der Anblick des unglücklichen jungen Mannes steigerte die Verzweiflung des Generals zum Wahnsinn. Er schien in seinem Sohn den Mörder seiner Frau zu erblicken, er packte ihn am Kragen und schleppte ihn in das Gemach, wo die Tote lag.
»Komm her,« schrie er, »du, dem ein Leben in stiller Verborgenheit ein so elendes Schicksal war – komm her und sieh die Eltern, die du so sehr beneidet hast – die du so oft verflucht hast! – Sieh diesen bleichen hagern Leichnam, eher eine Gestalt von Wachs als von Fleisch und Blut – das ist deine Mutter – das ist die unglückliche Zilia von Moncada, für die deine Geburt eine Quelle des Jammers und der Schande war, und die deine unheilvolle Anwesenheit schließlich noch in den Tod gejagt hat! Und sieh auf mich! Siehst du nicht Schwefelflammen um mein Haupt lodern und Blitze von meiner Stirn ausgehen? – Ich bin der Vater, den du suchst – ich bin der verruchte Tresham, der Verführer Zilias und der Vater ihres Mörders.«
In diesem Augenblick trat Hartley ein, er erkannte sofort, daß die Verstorbene aller menschlichen Hilfe entrückt sei, und da er teils aus den Mitteilungen des Kammerdieners, teils aus den wirren Reden des Generals entnehmen konnte, was für eine Enthüllung hier stattgefunden hatte, beeilte er sich, dem peinlichen Auftritt ein Ende zu machen. Aber Witherington schien in seiner Raserei gütigen Vorstellungen nicht zugänglich.
»Was kümmert's mich!« rief er, »Mag die ganze Welt meine Sünde und Strafe erfahren! Ich fürchtete mich davor nur, solange Zilia noch lebte, und Zilia ist tot!«
»Aber ihr Andenken habt Ihr zu schonen und den Ruf Eurer Kinder!« rief Hartley.
»Gewiß!« stimmte Middlemas ungestüm bei, »und auch ich bin Euer Sohn – ein Sohn von der Euch angetrauten Gemahlin! Ich fordere von Euch, daß Ihr meine Rechte anerkennt und rufe alle hier Anwesenden zu Zeugen auf!«
»Elender!« rief der wahnsinnige Vater. »Wie kannst du inmitten des Todes und der Tollheit an deine schmutzigen Rechte denken? Du bist der Teufel, der mein Unglück in dieser Welt veranlaßt hat und meine Verdammnis in der andern Welt teilen wird. Mir aus den Augen und mein Fluch mit dir!«
Middlemas stützte aus dem Zimmer, eilte in den Stall, ergriff das erste beste Pferd und sprengte davon. Hartley stand im Begriff, ihm zu folgen, allein die Dienerschaft umringte ihn und flehte ihn an, doch ihren Herrn nicht in dieser Not zu verlassen. Er blieb und es gelang ihren vereinten Kräften, ihn zu Bett zu schaffen. Der Tobsuchtsanfall ließ nach, der Arzt gab eine niederschlagende Medizin, und der Unglückliche verfiel in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst gegen Morgen wieder zu sich kam.
Er erwachte zu vollem Bewußtsein des Vorgefallenen und brach in Schluchzen und Tränen aus. Als Hartley, der die Nacht über bei ihm gewacht hatte, zu ihm trat, erkannte er ihn sofort und sagte zu ihm:
»Fürchtet Euch nicht vor mir, der Anfall ist vorüber. Geht und sorgt dafür, daß jener Unglückliche England sobald als möglich verläßt und nach dem Lande reist, wohin ihn sein Schicksal ruft und wo wir uns nie wieder sehen können. Mein Kammerdiener kennt mich und wird inzwischen für mich sorgen.«
»Tut das«, setzte der Kammerdiener flüsternd hinzu. »Vor allen Dingen sorgt dafür, daß mein Herr nie wieder mit diesem abscheulichen Menschen zusammentrifft.«
Dreizehntes Kapitel
Als Adam Hartley in seine Wohnung im schönen Städtchen Ryde kam, erkundigte er sich zuerst nach seinem Kameraden, er erfuhr, daß dieser in der verflossenen Nacht spät nach Hause gekommen war, Mann und Pferd waren von Schaum bedeckt gewesen. Auf die Frage, ob er zu Abend essen wolle, hatte der junge Mann nicht geantwortet, er hatte ein Licht genommen, war die Treppe hinunter gelaufen und hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen.
Die Diener glaubten, er habe einen kleinen Rausch gehabt und in diesem Zustand einen tollen Ritt gemacht, nun habe er nicht andre merken lassen wollen, was mit ihm los sei.
Nicht ohne Besorgnisse trat Hartley an die Tür seines Zimmers. Nachdem er mehrmals angeklopft hatte, erhielt er endlich die Antwort:
»Wer ist da?«
Als Hartley seinen Namen nannte, machte Middlemas auf. Er war sauber gekleidet und sorgsam gepudert, aber das Bett war noch unbenutzt, und sein Antlitz war verstört und übernächtigt. Seine Rede hatte den Ton erzwungener Gleichgiltigkeit.
»Ich wünsche Euch Glück, Adam, Ihr laßt Euch ganz gut an als gewiegter Weltweiser«, sagte er. »Es ist ein günstiger Augenblick, den armen Erben aufzugeben und sich an den zu halten, dem Reichtum in den Schoß geschneit ist.«
»Ich war in der vergangenen Nacht bei General Witherington,« erwiderte Hartley, »weil es ihm sehr schlecht ging.«
»So sagt ihm, er solle Buße tun für seine Sünden,« sagte Middlemas, »ein Arzt darf ebenso geistlichen Rat erteilen wie ein Prediger. Erinnert Ihr Euch, wie Doktor Dulberry, unser Pfarrer, dem Doktor Gray den Vorwurf machte, er pfusche ihm ins Handwerk? Ha, ha, ha!«
»Ich begreife nicht, wie Ihr in Eurer Lage so reden könnt,« sagte Hartley.
»Ei! Hab' ich doch gestern meine Eltern gefunden!« rief Middlemas. »Meine Mutter hat, wie Ihr wißt, ihr Sterben genau bis zu diesem Augenblick aufgeschoben, und mein Vater hat mit dem Verrücktwerden solange gewartet. Ich schließe daraus, sie haben beide mit Absicht so gehandelt, um mich um mein rechtmäßiges Erbteil zu prellen, da mein Vater von Anfang an nichts von mir hat wissen wollen.«
»Euer Erbteil!« entgegnete Hartley, bestürzt über die Ruhe Richards und in dem Glauben, der Wahnsinn seines Vaters habe auch ihn ergriffen. »In des Himmels Namen! faßt Euch und laßt von solcher Täuschung! Von was für einem Erbteil hat Euch denn geträumt?«
»Von dem meiner Mutter doch wohl, deren Schätze der alte Moncada geerbt haben muß – auf wen sonst als auf ihre Kinder können sie übergehen, und ich bin der älteste unter ihnen, das ist nicht abzuleugnen.«
»Richard, bedenkt und faßt Euch!«
»Das ist geschehen, was weiter?«
»Ihr dürft nicht vergessen, daß Ihr infolge Eurer Geburt von jeder Erbschaft ausgeschlossen seid, wenn nicht ein besondres Testament zu Euren Gunsten vorhanden ist.«
»Da irrt Ihr Euch, Herr, ich bin ein rechtmäßiger Sohn. Die kränkliche Brut, die Ihr vom Tode errettet habt, besitzt nicht mehr Rechte als ich – die Eltern wollten nicht einmal, daß die Luft des Himmels sie frei anwehte, und mich überließen sie den Winden und Wogen – aber ich bin ebenso ihr rechtmäßiger Sproß wie jene Kinder schwächerer Gesundheit, die sie in vorgerückteren Jahren bekommen haben. Ich habe sie gesehen, Adam, Winter hat sie mir gezeigt in der Kinderstube, während meine Eltern all ihren Mut zusammen nahmen, mich zu empfangen. Da lagen sie – die Kinder, die mir vorgezogen werden. Die Schätze des Orients waren in verschwenderischer Fülle ausgebreitet, daß sie sanft schlafen und in Pracht erwachen könnten. Ich, ihr ältester Bruder, ich, der Erbe, stand neben ihrem Bette in geborgtem Kleide, das ich erst vor kurzem mit den Lumpen eines Hospitals vertauscht habe. Ihr Lager duftete von Wohlgerüchen, während ich von den Ausdünstungen eines Pesthauses dampfte. Und so bin ich – ich sage es nochmals – ich, der Erbe meiner Eltern, die Frucht ihrer ersten und innigsten Liebe – so bin ich behandelt worden! Kein Wunder, daß ich mir den Blick eines Basilisken angeeignet habe.«
»Ihr sprecht, als wärt Ihr vom bösen Geiste besessen,« sagte Hartley, »oder Ihr steht unter einem furchtbarem Irrtum.«
»Ihr haltet nur die für gesetzmäßig verheiratet, über die ein verschlafener Pastor den Segen gesprochen oder vielmehr aus einem Buche voll Eselsohren vorgelesen hat? So ist es vielleicht bei Euch in England, aber bei uns in Schottland ist die Liebe selber der Priester. Wenn sich ein Liebespaar Treue gelobt, so braucht nur der blaue Himmel droben Zeuge zu sein, und ein vertrauensvolles Mädchen ist gegen den Treubruch eines leichtfertigen Verehrers ebenso geschützt, wie wenn der Dechant in der höchsten Kathedrale Englands die Feier vollzogen hätte. Noch mehr, wenn der Vater das Kind der Liebe bei der Taufe anerkennt – wenn er die Mutter achtbaren Leuten als seine Frau vorstellt, so darf er nach den Gesetzen Schottlands nicht die Ansprüche wieder rückgängig machen, die er damit dem verführten Weibe und dem Sprößlinge der gegenseitigen Liebe eingeräumt hat. Dieser General Tresham oder Witherington hat nun meine Mutter als eine Frau behandelt, in Anwesenheit von Gray und andern Leuten, er hat sie in die Familie eines ehrbaren Mannes eingemietet und ihr denselben Namen gegeben, den zu führen ihm damals gerade einfiel. Er hat mich dem Prediger als seinen rechtmäßigen Sprößling überreicht, und das Gesetz nimmt in Schottland ein hilfloses Kind in Schutz, er darf auf Grund dieses Gesetzes mir jetzt nicht die Anerkennung verweigern, die er damals in aller Form zugegeben hat. Ich kenne meine Rechte und bin entschlossen, sie geltend zu machen.«
»So wollt Ihr nicht an Bord des Middlesex?« wandte Hartley ein. »Überlegt Euch das noch, Ihr könntet Eure Offizierstelle einbüßen.«
»Dafür verschaffe ich mir mein Geburtsrecht,« erwiderte Richard Middlemas. »Als ich die Absicht hatte, nach Indien zu gehen, da habe ich meine Eltern noch nicht gekannt, und wußte auch nicht, wie ich zu dem Rechte, das ich durch sie habe, kommen sollte. Dieses Rätsel ist nun aber gelöst, ich habe Anspruch auf mindestens ein Drittel von Moncadas Vermögen, das sehr bedeutend ist, wie ich erfahren habe. Wenn Ihr nicht wärt und die Pocken so gut zu behandeln verstündet, so hätte ich ein Anrecht auf das Ganze. Als der alte Gray sich fast die Perücke vom Kopfe riß vor Eifer, weil das Fenster aufgemacht und das Feuer ausgemacht werden sollte und an Stelle des Branntweins Wasser gereicht werden sollte, da habe ich mir nicht träumen lassen, daß diese neue Behandlungsweise der Pocken mir einen solchen Streich spielen und mich um so viele tausend Pfund bringen würde.«
»Ihr seid also entschlossen, bei Eurem tollen Entschlusse zu bleiben?«
»Ich kenne meine Rechte und bin entschlossen, sie geltend zu machen,« erwiderte der starrsinnige junge Mann.
»Es tut mir leid um Euch, Herr Richard Middlemas,« sagte Hartley. »Es tut mir leid um Euch, weil Ihr so hartnäckig an Eurer Selbstsucht festhaltet nach dem gestrigen Auftritt, und weil Ihr Euch dem eitlen Traume hingebt, daß Ihr auf diese Weise zu Reichtum gelangen könntet.«
»Ihr zeiht mich der Selbstsucht?« rief Middlemas. »Ich bin im Gegenteil ein pflichttreuer Sohn, der das Andenken seiner Mutter zu reinigen sucht – und Träumereien sollte ich mich hingeben? – Diese Hoffnung ist in mir erwacht, als der alte Moncada an Gray schrieb und mir meine Lage zum erstenmal klar wurde. Glaubt Ihr denn, ich hätte mich jemals in das langweilige Leben hineingefunden, wenn ich nicht dadurch den einzigen Faden in der Hand behalten hätte, der mich noch mit meinen unnatürlichen Eltern verband, und wenn ich nicht allein auf diese Weise mir die Möglichkeit sicherte, mich ihnen aufzudrängen und mir im Notfalle die Rechte eines gesetzlichen Kindes zu erzwingen? Daß Moncada nichts mehr von sich hören ließ und dann sein Tod hat meinen Plan vereitelt, und da erst habe ich mich mit dem Gedanken an Indien ausgesöhnt.«
»Ich will Euch nicht täuschen, Herr Middlemas,« sagte Hartley, »obgleich ich befürchten muß, Euch Kummer zu verursachen. Ich habe gestern eine lange Unterredung mit Eurer Mutter gehabt, sie hat Euch zwar als ihren Sohn anerkannt, aber eingestanden, daß Ihr vor der ehelichen Verbindung zur Welt gekommen wäret. Diese ausdrückliche Erklärung vernichtet alle Euere Hoffnungen. Wenn Ihr wollt, will ich Euch den Inhalt ihrer Erklärung mitteilen, die sie mir in ihrer eigenen Handschrift überreicht hat.«
Hartley begann nun die Ereignisse zu erzählen, die der Geburt Richards vorausgingen und die ihr folgten, und Middlemas, auf seiner Schiffskiste sitzend, hörte mit unnachahmlicher Fassung diesen Bericht mit an, der all seine blühenden Hoffnungen auf Reichtum in der Wurzel ausrodete.
Vierzehntes Kapitel
Zilia von Moncada war das einzige Kind eines sehr reichen jüdischen Kaufmannes aus Portugal, der sich in London niedergelassen hatte. Unter den wenigen Christen, die in seinem Hause verkehrten, war auch Richard Tresham, ein Mann aus hohem northhumbrischen Hause, der eine Zeitlang Offizier im Heere des Königs von Portugal gewesen war.
Das angenehme Äußere des Herrn, sein vornehmes Wesen, seine ausgezeichnete Kenntnis der portugiesischen Sprache gewannen ihm die Freundschaft des alten Herrn und das Herz seiner jungen, schönen Tochter.
Tresham hielt bei Moncada um die Hand der Zilia an. Der Handelsherr verweigerte seine Einwilligung und verbot ihm sein Haus. Er konnte aber nicht verhindern, daß die Liebenden sich heimlich sahen.
Der junge Mann nutzte die Gelegenheiten, die ihm die unschuldige Zilia bot, in unehrenhafter Weise aus, und die Folge war die Verführung des Mädchens. Der Verehrer hatte aber die beste Absicht, sein Unrecht wieder gutzumachen. Es wurde beschlossen, nach Schottland zu fliehen. Die eilige Flucht, die ständige Angst führten zu einer vorzeitigen Entbindung, sodaß die junge Mutter die Hilfe des Doktor Gray in Anspruch hatte nehmen müssen.
Das Paar war kaum ein paar Stunden in Middlemas gewesen, als Tresham durch einen scharfsichtigen Freund den Wink erhielt, ein Haftbefehl wegen Hochverrats sei gegen ihn ausgestellt, der auf das Gesuch Moncadas hin gleichzeitig auch auf den Namen seiner Tochter lautete.
Der Vater ereilte sein Kind, nahm es mit sich und verurteilte es zu strengster Einsamkeit.
Tresham flüchtete, verbarg sich in den Hochlanden, bis die Geschichte von seinem heimlichen Briefwechsel mit Karl Eduard von Portugal vergessen war, und trat dann nach mehreren Jahren in den Dienst der Ostindischen Gesellschaft unter seinem mütterlichen Namen Witherington.
Seine militärische Begabung verschaffte ihm bald ein hohes Amt und bedeutenden Reichtum. Sein Ruhm, sein Reichtum und die Erkenntnis, daß Zilia doch keinen andern heiraten werde als den Mann ihrer ersten Liebe, bekehrten den alten Moncada von seiner hartnäckigen Abneigung, und nach einer Trennung von vierzehn Jahren wurden die Liebenden endlich durch die Ehe miteinander verbunden.
General Witherington war bereitwillig mit dem Wunsche seines Schwiegervaters einverstanden, daß jede Erinnerung an vergangene Zeiten getilgt sein sollte und daß der Sohn – das Kind ihrer frühen und unglücklichen Liebe für immer fern und in fremden Händen, obwohl von ihnen mit allem nötigen versehen, bleiben sollte.
Die Mutter freilich dachte anders. Sie sehnte sich nach ihrem ersten Kinde, aber sie wagte nicht, sich dem Willen ihres Vaters und der Entscheidung ihres Mannes zu widersetzen. Die vielen Jahre lang schrie ihr Herz nach ihrem Kinde.
Und diese so lange unterdrückten Gefühle, mit Innigkeit gehegt, brachen nun bei der unvermuteten Entdeckung ihres Sohnes im vollen Strome hervor, als sie ihn, aus größter Not und dringendster Lebensgefahr errettet, plötzlich vor sich sah.
Vergeblich versicherte ihr Gemahl, er werde sich des jungen Mannes annehmen und mit Geldmitteln und seinem Einfluß für sein Wohlergehen sorgen, sie war nicht eher beruhigt, als bis sie selber etwas getan hatte, das Los der Verbannung zu mildern, zu dem ihr Erstgeborener verurteilt war. Sie war dazu um so fester entschlossen, als sie sich durch die langen Jahre geheimen Leidens völlig gebrochen fühlte.
Es lag nahe, daß sie sich an Hartley, den Kameraden ihres Sohnes wandte, dem sie ohnehin die Rettung ihrer jüngeren Kinder verdankte. Sie übergab ihm die Summe von 2000 Pfd. – ihr unangefochtenes Privateigentum – und bat ihn mit den zärtlichsten und liebevollsten Worten, er möchte das Geld in derjenigen Weise, die er für die förderlichste halte, zum besten ihres armen Sohnes verwenden.
Sie gab ihm die Versicherung, daß sie ihn weiterhin unterstützen werde, sobald das erforderlich sein werde, und gab Hartley ein Schreiben, das er ihrem Sohne überreichen sollte, wenn er es für angebracht hielte.
Das Schreiben hatte folgenden Inhalt:
»O Benoni, Kind meines Kummers! Warum soll Deine unglückliche Mutter Dich mit Augen schauen dürfen, während es doch ihren Armen versagt bleibt, Dich an den Busen zu drücken? Möge der Gott der Juden und Heiden Dich beschützen! Daß er doch zu seiner Zeit die Finsternis aufhöbe, die zwischen mir und dem Geliebten meines Herzens besteht – der ersten Frucht meiner unglücklichen und ach! unheiligen Liebe! Denke nicht, mein geliebtes Kind, Du seist ein einsamer Verbannter, denn Deiner Mutter Gebet steigt auf für Dich bei Sonnenaufgang und Untergang, und fleht Segen herab auf Dein Haupt. Trachte aber nicht danach, mich zu sehen – ach! weshalb muß ich doch so etwas schreiben! – aber ich will mich neigen in den Staub und meine Sünde und Torheit anklagen! – trachte nicht danach, mich zu sehen oder mich zu sprechen – es könnte der Tod sein von uns beiden! Vertraue Deine Gedanken dem ausgezeichneten Hartley, der der Schutzengel von uns allen war, und was er Dir rät, das soll geschehen, soweit es in Deiner Mutter Macht liegt. Und die Liebe einer Mutter – können Meere sie einschließen, oder kommt je eine Wüste oder eine weite Welt ihr an Ausdehnung gleich! O Kind meines Kummers, o Benoni, sei im Geiste bei mir, wie ich bei Dir bin!
Z.M.«
»Sicherlich,« dachte Hartley, als er seinen Bericht beendet hatte, »werden bei einem solchen Zauber die Teufel des Ehrgeizes und der Habsucht ihre Klauen von dem Manne lassen, den sie jetzt als ihre Beute festgehalten haben.«
Wirklich hätte Richards Herz von Stein sein müssen, wenn ihn nicht dieses erste und letzte Zeugnis von der Liebe seiner Mutter hätte rühren sollen. Er legte den Kopf auf den Tisch, und seine Tränen flossen reichlich.
»Und nun,« schloß Hartley, »habe ich nur noch die Pflicht, Euch die Summe zu überreichen, die Eure Mutter mir anvertraut hat.«
Middlemas nahm die Banknoten und zählte sie mit kaufmännischer Genauigkeit, und obgleich er mit einer Miene tiefster Niedergeschlagenheit nach der Feder griff, faßte er doch den Empfangsschein, den er jetzt schrieb, in gut gewählten Ausdrücken ab, die wohl bezeugten, daß er seine Verstandeskräfte völlig beisammen hatte.
»Mein Geschick ist grausam,« sagte er dann mit einer Pose des Grames. »Ich freute mich schon, daß ich endlich meine Eltern gefunden hatte, ich war schon entschlossen, meine Rechte geltend zu machen und mir zu erzwingen, was mir zusteht. Meine Eltern mochten ja wohl auch selber willens gewesen sein, mich zum Erben einzusetzen. Nun hat ein Zufall alles zu nichte gemacht. – Verflucht! Wieder ist mir der Becher von den Lippen weggerissen worden!«
»Ihr müßt bedenken,« antwortete Hartley, »daß diese Mitteilungen, die freilich Eure allerdings ganz unbegründeten Hoffnungen vernichtet haben, denn Ihr seid ja vor der rechtmäßig geschlossenen Ehe geboren worden – gleichzeitig doch eine Verdreifachung Euers bisherigen Vermögens mit sich bringen, und daß viele Millionen nicht halb soviel besitzen wie Ihr, wenn auch ein paar tausende auf der Welt reicher sind. Hebt Euch also mutig über Euern Unstern hinweg und verzweifelt nicht daran, daß auch Ihr es im Leben noch zu etwas bringen könnt.«
Fünfzehntes Kapitel
Am andern Tage trat Middlemas auf dem Ostindienfahrer seine Reise an. In der ersten Zeit fühlte er sich sehr unglücklich, da er aber von Kindheit an gewöhnt war, seine innern Gedanken zu verbergen, so gab er nach Verlauf einer Woche den heitersten und artigsten Passagier ab, der je die ermüdende Reise von England nach Indien gemacht hat.
In Madras, wo die Geselligkeit zwischen den ansässigen Engländern ausartete, wurde er mit all der der britischen Welt im Osten charakteristischen Gastfreundschaft aufgenommen.
Middlemas war im besten Zuge, in dem Orte ein unentbehrlicher Gast jedes Festes zu sein, als der Zufall es fügte, daß auch Hartley in derselben Kolonie die Stelle eines Unterarztes erhielt.
Er hätte zwar bei einem solchen Posten keinen erheblichen Anspruch auf große Höflichkeit und Aufmerksamkeit gehabt, allein er brachte wichtige Empfehlungsbriefe vom General Witherington mit, die an die vornehmsten Einwohner der Kolonie gerichtet waren. Middlemas mußte daher sich wieder in denselben Kreisen wie er bewegen, und es blieb ihm nichts weiter übrig, als in seinen Beziehungen zu ihm die Höflichkeit nach außen hin zu wahren oder gänzlich mit ihm zu brechen.
Die erstere Weise wäre vielleicht die klügere gewesen, die letztere aber war dem geraden derben Charakter Hartleys mehr angemessen, und dieser erachtete es weder für zweckmäßig noch für behaglich, den Anschein eines freundlichen Verkehrs aufrecht zu erhalten, um Haß, Verachtung und gegenseitigen Widerwillen zu verbergen.
Der gesellschaftliche Umgang in der Kolonie war damals noch auf einen engen Kreis beschränkt, und so mußte die Kälte der beiden jungen Leute gegeneinander auffallen. Es wurde ruchbar, daß sie früher intime Freunde und Studiengenossen gewesen waren, und das Gerücht gab für ihre Feindschaft verschiedene Gründe an. Hartley kümmerte sich wenig darum, Leutnant Middlemas aber trug Sorge, daß ein Gerede im Gange blieb, das die Ursache ihres gespannten Verhältnisses in einem für ihn vorteilhaften Lichte darstellte.
»Wir waren einmal so etwas wie Nebenbuhler,« sagte er, wenn er danach gefragt wurde, »ich habe nur das Glück gehabt, daß eine schöne Dame sich aus mir mehr machte als aus meinem Freunde Hartley. Darüber hat er sich mit mir entzweit, und er hat es auch jetzt noch nicht vergessen, wie man sieht. Ich halte es für höchst albern, daß er mir das jetzt noch nachträgt, wo doch schon soviel Zeit darüber vergangen ist und wir soweit weg von jenem Orte sind. Aber im übrigen ist mein Freund ein ganz guter Kerl.«
Während dieses Geflüster seine Wirkung nicht verfehlte, erhielt Hartley doch von der Regierung die schmeichelhaftesten Versicherungen baldiger Beförderung, und nach kurzer Zeit wurde ihm der gewinnreiche Posten eines Arztes in einer entfernteren Kolonie übertragen. Er kam infolgedessen auf einige Zeit von Madras weg.
Nach seiner Abreise fiel es unangenehm auf, daß sich Middlemas von wenig sympathischer Seite zeigte, wie wenn ein Hemmnis nun beseitigt sei, das ihn bisher ein wenig im Zaume gehalten habe. Der junge Mann begann jetzt ein hochfahrendes und herrschsüchtiges Wesen herauszukehren. Er hatte in der Kolonie aus Gründen, die der Leser durchschauen kann, die aber von den Leuten nur als bloße Grille ausgelegt wurden, seinem Namen Middlemas den Namen Tresham beigefügt. Er bestand darauf mit einer Hartnäckigkeit, der der Oberst seines Regimentes, ein alter mürrischer Pedant im Dienste nicht nachzugeben gesonnen war.
»Ich kenne,« sagte dieser, »einen Offizier nur bei dem Namen, der in seinem Patent angegeben ist.«
Und er nannte daher seinen Leutnant stets nur Middlemas.
An einem verhängnisvollen Abend geriet der Oberst darüber so außer sich, daß er die Bemerkung fallen ließ, jeder müsse ja am besten wissen, wie er heiße.
»Nicht jedes Kind,« sagte er, »kennt seinen Vater – wie soll da jedes Kind auch seinen wirklichen Namen wissen?«
Die Folge war, daß Middlemas den Oberst forderte. Bei dem Duell boten nach dem ersten Kugelwechsel die Sekundanten ihre Vermittlung an. Middlemas schlug jede Einigung ab. Beim zweiten Kugelwechsel erschoß er seinen Kommandanten.
Er mußte nun aus den britischen Niederlassungen fliehen, da die allgemeine Ansicht war, daß er den Streit vom Zaune gebrochen habe, so mußte er darauf gefaßt sein, daß die ganze Strenge der militärischen Disziplin ihn treffen würde.
Er verschwand. Zuerst erregte der Vorfall großes Aufsehen, bald aber sprach man nicht weiter darüber. Man war der Meinung, er habe das Glück, auf das er in den britischen Niederlassungen nicht mehr hoffen könnte, am Hofe eines eingeborenen Fürsten gesucht.
Nach diesem verhängnisvollen Auftritt waren drei Jahre verflossen. Hartley war nach Madras zurückgekehrt und hatte sich dort als Arzt niedergelassen. Er war auf dem besten Wege, zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Seine Praxis war nicht allein auf seine Landsleute beschränkt, er war unter den Eingeborenen sehr begehrt, die die Überlegenheit der Europäer im ärztlichen Beruf sehr hochschätzen, wenn sie auch in andrer Hinsicht viele Vorurteile gegen sie hegen.
Dieser gewinnreiche Zweig seiner Tätigkeit brachte es mit sich, daß Hartley die indischen Sprachen erlernte, damit er ohne Dolmetscher mit seinen Patienten verkehren konnte. Er hatte hierzu reichlich Gelegenheit, denn da die hohen Herren unter den Moslemin und Hindus ihm stattliche Honorare zahlten, so leistete er den Armen des Volkes umsonst Hilfe, so oft er von ihnen in Anspruch genommen wurde.
Eines Abends erhielt er von dem Regierungssekretär den Auftrag, sich zu einem Kranken von Range zu verfügen.
»Es ist ein Fakir,« hieß es in dem Befehle. »Ihr findet ihn beim Grabe Kara Rafis, des mohammedanischen Arztes und Heiligen. Bei einem solchen Patienten dürft Ihr freilich nicht auf Honorar rechnen, allein wir wissen ja, wie wenig Ihr nach Geld seht, und außerdem werden Euch hier Eure Bemühungen von der Regierung bezahlt.«
»Daran denke ich zu allerletzt,« dachte Hartley, und begab sich sofort in seiner Sänfte an den angegebenen Ort.
Das Grab des mohammedanischen Heiligen war ein von jedem gläubigen Muselman verehrter Ort. Es lag in einem Hain von Magnolien und Tamarinden. Es war aus rotem Stein gebaut und hatte drei Kuppeln und an jeder Ecke Minarette.
Vor demselben lag ein Hof und ringsherum waren Zellen errichtet als Wohnstätten der Fakire, die hier zum Grabe wallfahrteten und bald längere, bald kürzere Zeit verweilten. Sie leben von den Almosen der Gläubigen, die es nie unterlassen, für ihre Gebete sie reichlich zu belohnen. Diese Pilger lesen Tag und Nacht Verse aus dem Koran vor dem Grabmale, das aus weißem Marmor erbaut und mit Inschriften aus dem Buche des Propheten geziert ist.
Während der Kriege wird ein solches Grab, und es gibt deren viele, von Feringis, wie die Europäer von den Eingeborenen genannt werden, Hindus und Mohammedanern heilig gehalten, die Fakire aber dienen allen Parteien zu Spionen und werden oft zu wichtigen Aufträgen verwendet.
Hartley fügte sich der mohammedanischen Sitte und zog die Schuhe am Eingange in das heilige Gebäude aus. Er ging nicht zu nahe an das Grab heran, um nicht Anstoß zu erregen, und wendete sich an den vornehmen Priester, der an der Länge seines Bartes und der Größe der Holzkugeln seines Rosenkranzes zu erkennen war.
Der Mann saß auf der Erde, er erhob sich nicht und machte auch kein Zeichen der Ehrerbietung. Er ließ sich in seinen Gebeten nicht stören und zählte seine Kugeln weiter, solange Hartley redete. Als dieser geendet hatte, schlug der Alte die Augen auf, als bemühte er sich, das, was ihm eben gesagt worden war, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, dann deutete er auf eine der Zellen und begann seine Andacht von neuem, als sei er verdrossen über jede oh noch so kurze Störung seiner heiligen Pflichten.
Hartley trat in die Zelle, die der Alte ihm bezeichnet hatte. Sein Patient lag in einer Ecke auf einem Teppichs. Es war ein Mann von etwa zwanzig Jahren in fadenscheinigem, oft geflicktem schwarzen Kaftan. Er trug eine hohe kegelförmige Mütze. Der Ausdruck seiner Augen und seine Haltung verrieten, daß er litt, daß er aber seine Schmerzen mit stoischem Gleichmut ertrug.
»Salem aleikum!« sagte Hartley. »Ihr seid krank, würdiger Vater!«
»Salem aleikum bema sebastem!« erwiderte der Fakir. »Es wird Euch zum Heile, wenn Ihr geduldig leidet, spricht das Buch, und dies wird der Gruß sein, mit dem die Engel die Dulder im Paradiese bewillkommnen.«
Nachdem das Gespräch so eröffnet worden war, fragte der Arzt den Kranken nach der Art seines Leidens und verschrieb ihm die Mittel, die er für angebracht hielt. Als er sich darauf entfernen wollte, reichte ihm der Fakir zu seinem Erstaunen einen Ring, der ziemlich wertvoll zu sein schien.
»Die Weisen aller Länder,« sagte Hartley, das Geschenk ablehnend, »sind Brüder. Meine linke Hand nimmt nicht den Lohn für das, was meine Rechte tut.«
»So kann ein Feringi Geld ausschlagen?« versetzte der Fakir. »Ich habe gedacht, sie nähmen es aus jeder Hand, sie sei so rein wie die einer Huri oder so aussätzig wie die eines Dschehasi.«
»Allah verschließt und erweitert die Herzen, spricht das Buch,« entgegnete Hartley, »Frank und Muselman sind gleicherweise gebildet nach seinem Willen.«
»Mein Bruder spricht weise,« sagte der Kranke, »willkommen sei die Krankheit, wenn sie dich mit einem weisen Arzte bekannt macht, denn es spricht der Dichter, Heil ist dir geworden, daß du zur Erde fielest, wenn du dort kriechend einen Diamanten fandest.«
Der Arzt besuchte seinen Patienten mehrmals, auch nachdem schon die Gesundheit des Hadschi längst wiederhergestellt war: Er erkannte in ihm einen jener geheimen Agenten, wie sie die indischen Fürsten vielfach gebrauchen.
Barak el Hadschi sprach öfters über die Macht des Nawwab von Maisur, und daraus schloß Hartley mit Sicherheit, daß er in einer geheimen Sendung vom Hofe Haidar Alis abgesandt worden sei, vielleicht um einen Frieden auf festerer Grundlage zwischen diesem befähigten und scharfsinnigen Fürsten und der Ostindischen Gesellschaft in die Wege zu leiten.
Kurz vor seiner Abreise aus Madras besuchte Barak el Hadschi den Doktor und trank bei ihm ein paar Gläser Scherbet, die ihm besser mundeten, als sein eigener, wahrscheinlich weil einige Gläser Rum zugesetzt waren. Da er dem edeln Getränk mehrmals zusprach, so wurde er in seinen Mitteilungen offenherziger, und begnügte sich nun nicht damit, sich in überschwenglichen Lobreden auf den Nawwab zu, ergehen, sondern sprach auch von dem großen Einfluß, den er selber auf den mächtigen Radschah hätte.
»Bruder meiner Seele,« sagte er »sofern du je in der Lage sein solltest, daß du einer Sache bedürftest, die der gewaltige Haidar Ali Chan Bahadur dir gewähren könnte, so wende dich nicht an die, so in Palästen wohnen und in deren Turbanen Juwelen blitzen, sondern suche die Zelle deines Bruders in der großen Stadt auf, die Seringapatam heißt, und der arme Fakir im zerschlissenen Gewande wird dein Gesuch besser bei dem Nawwab anbringen, als die, so den Ehrenplatz im Diwan innehaben.«
Mit solchen Worten lud er Hartley ein, nach Maisur zu kommen und das Antlitz des großen Fürsten zu schauen. Er erbot sich zum Danke für die ihm erwiesenen Dienste dem Arzte alles zu zeigen, was in Maisur für einen Gelehrten sehenswert sei.
Die beiden Männer schieden so im besten Einvernehmen, nachdem sie Geschenke ausgetauscht hatten, wie sie weisen Männern geziemten, denen Kenntnisse mehr wert waren als Geld. Barak el Hadschi gab Hartley eine Büchse Mekka-Balsam, der unverfälscht sehr schwer zu erhalten war, und Hartley gab dem Fakir einige im Orient noch wenig bekannte Arzeneien, die seiner Meinung nach bei passender Anleitung einem so verständigen Manne ohne Bedenken anvertraut werden durften.
Zum Schluße gab der Fakir dem Arzte noch einen Paß, der, wie er versicherte, von jedem Beamten des Nawwab geachtet würde, falls der Doktor seinen Plan, nach Maisur zu reisen, ausführen wollte.
»Der Kopf dessen, der diesem Geleitsbrief die Achtung versagt,« setzte er hinzu, »wird nicht fester sitzen als die Ähre des Gerstenhalmes, die der Schnitter mit der Hand ergreift.«
Wenige Monate, nachdem Barak el Hadschi ins Innere des Landes zurückgekehrt war, geschah ein unerwartetes Zusammentreffen, das Hartleys Verwunderung aufs höchste erregte.
Sechzehntes Kapitel
Vier Jahre waren verflossen. Aus Europa waren Schiffe im Hafen von Madras angelangt und hatten ihre gewohnte Ladung von jungen Herren, die Offiziere werden wollten, und von jungen Damen, die nach Indien herüber kamen, um bei einem Bruder oder Oheim oder sonst einem Verwandten die Wirtschaft zu führen, bis sich einmal Gelegenheit zu einer Heirat bieten würde, unter dem gewohnten Zulauf von Zuschauern abgesetzt, Doktor Hartley war gerade mit einigen bekannten Herren im Hafen und sah das bunte Treiben mit an.
Plötzlich hörte er, wie ein Herr leise zu einem andern sagte:
»Engel und Boten Gottes, da ist ja unsre alte Bekannte, die Königin von Saba, als unveräußerliche Ware wird sie uns wohl wieder zurückgeschickt.«
Hartley blickte in derselben Richtung wie die beiden Herren und sah ein Weib, das wie eine Semiramis aussah. Sie war ungewöhnlich groß und fett und trug eine mit Tressen und Schnüren besetzte Reittaille aus karmoisinroter Seide und hellblaue Pluderhosen. Um die riesigen Hüften hatte sie einen scharlachroten Shawl geschlungen, in dem ein reichverzierter Dolch steckte. Hals und Arme waren mit Ketten und Spangen überladen und den roten Turban schmückten eine blaue und eine rote Straußenfeder.
Die Stirn hatte die europäische Färbung und war zu hoch, um schön zu sein, machte aber einen gebieterischen Eindruck, eine energische Adlernase erhöhte den charakteristischen Ausdruck des Gesichtes, das auffallend rot geschminkt war.
Der Kapitän eines eben aus England eingelaufenen Ostindienfahrers machte sich in eifriger Liebenswürdigkeit um sie zu schaffen, und ein paar Hartley bekannte Kaufleute benahmen sich gleichfalls auffallend zuvorkommend gegen sie. »Was ist das für ein Weib?« fragte Hartley.
Aber im selben Augenblick verstummte er und saß wie versteinert. Dann raffte er sich auf, erhob sich von seinem Platze und ging schnurstracks auf die Dame zu, zum nicht geringen Erstaunen seiner Gefährten.
Während er auf die absonderliche Frau geblickt hatte, war ihm eine zierliche Mädchengestalt aufgefallen, die sich so gesetzt hatte, daß sie hinter der massigen Gestalt und den wallenden Gewändern der Frau fast unsichtbar war. Zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen erkannte er in ihr die Freundin seiner Kindheit, die Geliebte seiner Jugend – Marie Gray in eigener Person.
Allein schon, daß er sie hier in Indien sah, mußte ihn in Verwunderung setzen. Aber seine Überraschung wuchs, als er sie in der Begleitung einer so seltsamen Erscheinung erblickte. Nichts war im Drang der auf ihn einstürmenden Empfindungen natürlicher, als daß er aufsprang und auf sie zueilte.
Seinem Ungestüm wurde aber Einhalt geboten. Er sah, wie Marie ihn, der so unmittelbar auf sie zugeschritten kam, ansah ohne das geringste Zeichen, daß sie ihn wiedererkenne. Aber ohne daß ein anderer es hätte merken können, legte sie den Zeigefinger auf die Oberlippe, wie wenn sie sagen wollte: »Ihr dürft jetzt nicht mit mir reden.«
Hartley verstand diesen Wink, nahm ihn an und blieb stehen. Im nächsten Moment hatte er sich wieder zu seinen Bekannten zurückgezogen und setzte das Gespräch mit ihnen fort.
»Wer ist denn die stattliche Dame?« fragte er den einen der Herren.
»Ist es möglich, daß Ihr noch nie von der Königin von Saba, von der Mama Montreville gehört habt?«
»Ihr wißt, ich war lange von Madras weg.«
»Nun denn,« fuhr der Gefragte fort, »diese Dame ist die Witwe eines schweizerischen Offiziers in der französischen Armee, der nach der Einnahme von Pondichery ins Innere flüchtete und auf eigene Faust Soldat wurde. Er wußte sich in den Besitz eines Forts zu setzen, indem er einem Pinsel von einem Radschah vorschwindelte, er wolle es in seinem Dienste befehligen. Dann sammelte er eine Horde verzweifelter Landstreicher von jeder Farbe des Regenbogens, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten, und erklärte sich für unabhängig. Aber Haidar Ali verstand keinen Spaß, zog mit seinem Heer herbei und eroberte das Fort. Es wird aber auch behauptet, die Frau des Schweizers, eben dieses Weib da, habe es an den Indier verraten. Sei dem, wie ihm wolle, der arme Schweizer fand den Tod auf den Wällen. Das Weib dort, das den Haidar Ali gewöhnlich den Salomo des Orients nennt, führt infolgedessen den Titel Königin von Saba. Sie verläßt ihren Hof, wann es ihr paßt, treibt überhaupt, wozu sie gerade Lust hat.« »Eine seltsame Geschichte«, erwiderte Hartley, während er bei sich selber die Frage erwog, auf welche Weise wohl die schlichte herzensgute Marie in die Gesellschaft einer solchen Abenteurerin geraten sei.
»Das beste aber hat mein Freund ganz vergessen«, setzte ein anderer Herr hinzu. »Es geht nämlich die Rede, daß Euer alter Bekannter, Richard Middlemas, sehr hoch in Gunst bei dieser Amazone stände. Er ist vor einiger Zeit aus Madras ins Innere geflüchtet und in die Dienste Haidar Alis getreten. Er hat dort ein Kommando über einen größeren Truppenteil bekommen, das er wohl auch jetzt noch inne hat. Ihm sind auch die englischen Gefangenen anvertraut worden, und ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich sage, daß der Teufel selber von ihm noch lernen kann, was Grausamkeit heißt. Er soll dann mit diesem Weibe in intime Beziehungen getreten sein.«
Hartley vermochte nicht länger zuzuhören. Die plötzliche Erkenntnis, daß Marie Gray sich in der Gewalt eines solchen Mannes und einer solchen Frau befinde, drang sich seinem Geiste in der Gestalt einer furchtbaren Gefahr auf. Eben wollte er aus dem Gedränge heraus, um sich an einen einsamen Ort zu begeben, wo er sich in Ruhe sammeln und zu gefaßter Überlegung gelangen konnte, da berührte ein farbiger Diener seinen Arm und reichte ihm eine Karte, auf der geschrieben stand:
Miß Gray bei Madame Montreville im Hause des Ram Sing Cottah in der schwarzen Stadt.
Sein Herz schlug hoch bei dem Gedanken, daß er seine Geliebte noch einmal wiedersehen solle. Und noch höher schlug es, als er sich sagte, daß er ihr vielleicht doch noch einmal eine Hilfe erweisen sollte.
Wenn ihr Gefahr droht, sagte er zu sich selber, so will ich ihr zur Seite stehen mit Rat und Tat und im Notfall mein Leben für sie hingeben.
Auf dem Heimwege sann er darüber nach, inwieweit wohl den Erzählungen der beiden Herren Glauben zuzumessen sei, über solchen Gedanken begegnete ihm ein andrer Bekannter – auch ein Arzt – mit Namen Esdale, der selber das Unglück gehabt hatte, in Haidar Alis Gefangenschaft zu geraten, bei dem letzten Friedensschluß aber wieder freigegeben worden war.
Der Mann galt im allgemeinen für ruhig, befähigt in seinem Berufe und vernünftig und besonnen in seinen Ansichten und Urteilen.
Hartley kam mit ihm ins Gespräch und konnte unschwer die Rede auf die sogenannte Königin von Saba bringen, indem er ihn fragte, ob er bei dem Nadscha Haidair Ali nicht ein abenteuerliches Weib kennen gelernt habe.
»Das kann ich wahrhaftig nicht sagen«, erwiderte Esdale. »In Indien sind wir ja alle mehr oder weniger Abenteurer, ich wüßte nicht, daß die Begum Montreville größeren Anspruch auf diese Bezeichnung hätte.«
»Die Frau kleidet und benimmt sich aber geradezu wie eine Amazone«, sagte Hartley, »Sie hat etwas Schwindelhaftes an sich.«
»Ihr dürft freilich,« entgegnete Esdale, »von einer Frau, die Soldaten kommandiert hat und vielleicht noch einmal kommandieren wird, nicht erwarten, daß sie wie andre gewöhnliche Frauenzimmer aussehe und sich kleide. Ich gebe Euch aber die Versicherung, daß sie noch heute eine sehr gute Partie machen könnte, wenn sie nur Lust hätte, sich zu verheiraten.«
»Ich habe gehört, sie hätte die Festung ihres Mannes an Haidar Ali verraten?«
»Das ist so eine treffliche Probe der in Madras grassierenden Klatscherei. In der Tat verhält die Sache sich folgendermaßen. Noch lange, nachdem ihr Mann gefallen war, hat sie die Festung verteidigt und erst dann mit Haidar Ali kapituliert. Haidar Ali, der viel darauf hält, daß der Gerechtigkeit alle Ehre erwiesen wird, stände sonst vielleicht nicht in so nahen Beziehungen zu ihr.«
»Ich habe gehört, sie sollen sehr intim miteinander sein.«
»Abermals eine Verleumdung oder wenn Ihr wollt, Klatscherei«, versetzte Esdale.»Haidar ist ein viel zu strenggläubiger Mohammedaner, als daß er sich mit einer Christin in ein Liebesverhältnis einlassen sollte. Wenn sie außerdem nicht ihre einflußreiche Stellung und den Rang, der ihr eingeräumt worden ist, verlieren will, so muß sie sich nach außen hin jedes Anscheins eines intimen Liebesverhältnisses enthalten. Man hat auch dieser Frau – im Grunde tut sie mir Leid – nachgesagt, sie stünde in intimem Verkehr mit Eurem alten Bekannten Middlemas.«
»Das war also auch ein falsches Gerede?« fragte Hartley in größter Spannung.
»Meiner Treu, ich glaube nicht daran!« antwortete Esdale. »Da sie beide Europäer waren, sind sie an dem indischen Hofe einander näher getreten, aber weiter ist es wohl nichts gewesen. Nebenbei – Ihr hattet ja wohl mal so einen kleinen Zwist mit Middlemas – es wird Euch gewiß interessieren, daß der arme Kerl jetzt die beste Aussicht hat, sich in unsern Kreisen wieder zu rehabilitieren.«
»Wirklich!« war das einzige Wort, das Hartley zu antworten vermochte.
»In der Tat!« erwiderte Esdale, »Das Duell ist jetzt vergessen, und es ist Gras darüber gewachsen. Es muß ja auch zugegeben werden, daß Middlemas bei diesem Anlaß, obwohl er äußerst jähzornig gehandelt hat, doch auch gereizt worden ist.«
»Aber seine Fahnenflucht – und daß er eine Befehlshaberstelle in Haidars Heer angenommen hat – und wie er unsere Gefangenen behandelt hat – kann das alles für nichts angesehen werden?«
»Es ist eben gar nicht ausgeschlossen – ich rede zu Euch im Vertrauen und als Mann, der auf der Hut ist, es ist gar nicht ausgeschlossen, daß er uns in Haidars Hauptstadt oder in Tippus Lager bessere Dienste erweisen kann, als in seinem eigenen Regiment. Was seine Behandlung der Gefangenen anbetrifft, so kann ich ihm aus eigener Erfahrung nur Gutes nachsagen. Es blieb ihm gar nichts andres übrig, als das Amt zu übernehmen, denn bei allen, die Haidar Ali dienen, heißt es entweder gehorchen oder sterben. Er hat mir aber selber gesagt, und das glaube ich auch, daß er das Kommando in Haidar Alis Heer nur deshalb angenommen habe, um insgeheim den Engländern dienen zu können, öffentlich mußte er natürlich den Hindus gegenüber hart mit uns verfahren, wenn auch meistens nur in Worten. Das konnten nun einige nicht begreifen, und sie überhäuften ihn mit Schmähungen. Die mußte er natürlich dann bestrafen, um keinen Verdacht zu erwecken. Ich aber und noch manche andern können beweisen, daß er uns sehr gern Gefälligkeiten erwies, wenn man ihn nach seiner Weise verfahren ließ. Ich hoffe, ich werde bald in Madras ihm persönlich meinen Dank abstatten können. Das alles habe ich Ihnen im Vertrauen gesagt. – Guten Morgen!«
Siebzehntes Kapitel
Zu der festgesetzten Stunde stand Hartley vor der Pforte des reichen indischen Kaufmannes, der aus Rücksicht auf persönliche Interessen die Begum Montreville in sein Haus aufgenommen hatte, in der schwarzen Stadt von Madras, wie derjenige Teil der Metropole hieß, den die Eingeborenen bewohnten.
Ein Diener führte den Gast in ein Zimmer, wo er Miß Gray anzutreffen erwartete. Aber statt dessen fand er die enorme Figur der Königin von Saba.
»Was steht dem Herrn zu Diensten?« fragte die Dame.
»Ich komme, um eine Dame hier zu begrüßen, die ich gestern in Eurer Gesellschaft sah«, antwortete Hartley in achtungsvollem Tone. »Ich habe diese Dame in England gut gekannt – und möchte ihr hier in Indien meine Dienste anbieten. Es ist Miß Gray.«
»Sehr liebenswürdig«, versetzte die Begum. »Aber Miß Gray ist ausgegangen. Sie kommt auch vor zwei Tagen nicht wieder, Ihr könnt mir ja sagen, was ich ihr bestellen soll.«
»Verzeiht, Madame,« antwortete Hartley, »Ihr irrt Euch wohl in Euren Angaben, denn dort kommt die Dame selbst.«
»Was soll das heißen«, wandte sich die Frau an Marie Gray, die eben eintrat. »Seid Ihr denn nicht auf ein paar Tage weg, wie ich dem Herrn sagte? Mais c'est égal! – es macht nichts! Ihr werdet zu Monsieur sagen, wie geht's und adieu. Der Herr ist so artig, sich nach unserem Befinden zu erkundigen, und da er sieht das es uns beiden ganz gut geht, so kann er sich wieder nach Hause scheren.«
»Ich habe mit diesem Herrn zu sprechen«, sagte Marie Gray kurz. »Geht in den Garten, Herr Hartley, und Ihr, Madame, könnt uns vom Fenster beobachten, daß nichts geschieht, was gegen die Sitten des Landes verstößt.«
Mit diesen Worten schritt sie durch eine Gittertür nach dem Garten. Die Königin von Saba, bei aller Unverfrorenheit ihrer Natur durch Maries Gleichmut und Ruhe aus der Fassung gebracht, ließ es ohne Widerrede geschehen und verließ in unverhohlenem Verdruß das Zimmer.
»Welch ein Zusammentreffen!« begann Hartley sogleich. »Liebste Marie – entschuldigt, wenn ich Euch noch so anrede wie vor der Zeit, die wir uns nicht gesehen haben – Euer Vater –«
»Er ist tot, Herr Hartley«, antwortete sie weinend. »Als er keinen Assistenzarzt mehr hatte, war die Arbeit zu viel für ihn – er erkältete sich, und Ihr wißt ja, an sich dachte er immer zuletzt, wenn ihm etwas fehlte, so wurde denn die Krankheit gefährlich und endete schließlich mit dem Tode. Das schmerzt auch Euch, Herr Hartley, freilich, mein Vater hatte Euch sehr lieb...«
Hartley schwieg eine Weile in stillem Kummer. Der Gedanke fuhr ihm durch den Sinn, daß dem wackeren alten Herrn vielleicht ein längerer Lebensabend beschert gewesen wäre, wenn Marie sich seinen Wünschen hätte fügen können, aber er sprach ihn nicht aus, und fragte erst nach einer Weile:
»Wie kommt es aber, daß ich Euch hier sehe, hier und bei diesem Weibe?«
»Sie ist allerdings nicht so, wie ich es erwartete,« antwortete Miß Gray, »aber ich darf auf fremdländische Sitten hin kein Vorurteil fassen, da ich den entscheidenden Schritt einmal getan habe. Sie ist sonst auch aufmerksam und freundlich. In kurzem, werde ich ja auch –« sie machte eine Pause und fügte dann hinzu: »unter zuverlässigerem Schutze stehen.«
»Unter dem Schutze Richard Middlemas'?« fragte Hartley mit stockender Stimme.
»Ich sollte vielleicht nicht antworten auf diese Frage, aber ich kann mich nicht verstellen, und wem ich mein Vertrauen schenke, dem vertraue ich auch ganz. Nun ja, Ihr habt richtig geraten, Herr Hartley«, sagte sie errötend. »Ich bin hierher gekommen, um mein Schicksal mit dem Eures einstigen Kameraden zu vereinen.«
»Es ist also, wie ich fürchtete!« rief Hartley, »Miß Gray, Eure Handlungen und Beweggründe werden stets die eines Engels sein, aber ich bitte Euch, faßt diesen so sehr wichtigen Schritt mit kühler Ruhe und Klugheit ins Auge. Habt Ihr denn wohl bedacht, in was für unausbleibliche Gefahren Ihr Euch begebt, wenn Ihr so einem Manne folgt, der – ich will Euch nicht wehe tun – der vielleicht – wenigstens hoffe ich daß trotz allem doch – die Gunst, die Ihr ihm schenkt, verdient?«
»Nach dem Tode meines Vaters, der, wie Ihr Euch denken könnt, arm gestorben ist, stand ich verlassen und mittellos da«, sagte Miß Gray. »In dieser Lage erhielt ich einen Brief von Herrn Middlemas. Er teilte mir mit, daß er nicht gewagt habe, mir zu schreiben, solange es ihm schlecht gegangen sei, da er mir nicht habe zumuten wollen, sein Elend zu teilen, jetzt aber hätte er seinen reichen Anteil an dem Überfluß eines mächtigen Fürsten, unter dessen Schutz er stünde, und der weise genug sei, die Europäer, die in seine Dienste träten, in Ehren zu halten. Jetzt bäte er mich, nach Indien zu kommen und sein wiederauflebendes Glück zu teilen. Er schickte mir eine beträchtliche Geldsumme mit. Eine achtbare Dame bezeichnete er mir, die mich auf der Überfahrt in ihre Obhut nehmen würde, und hier in Madras würde mich Madame Montreville, eine Dame von Rang, die in Maisur bedeutende Güter und auch großen Einfluß besäße, in Empfang nehmen und mich sicher in das Gebiet Haidar Alis geleiten. Ich habe Middlemas sehr lieb gehabt und – warum sollte ich es leugnen? – ich liebe ihn noch. Was hätte ich also tun sollen? Ich trug kein Bedenken, mich ihm anzuvertrauen. Wenn nicht eine innere Stimme mich an mein Versprechen gemahnt hätte, so hätte vielleicht mein Stolz die Oberhand behalten und ich hätte gewartet, bis mein Geliebter persönlich gekommen wäre und mich geholt hätte.«
»Noch jetzt,« bat Hartley, »seid bei allem Großmut gegen Euren Geliebten gerecht. Hört mich an, ich glaube, es ist nicht gut, daß Ihr Euch in den Schutz dieser Frauensperson begeben habt. Ich kenne viele Damen von höchstem Range hier in der Kolonie, sie werden alle Euch gern aufnehmen und Euch Gastfreundschaft gewähren, wenn ich ihnen Eure Angelegenheit mitteile, bis es Eurem Geliebten möglich sein wird, seinen Anspruch auf Eure Hand vor aller Welt geltend zu machen. Ich selbst will ihm keinen Anlaß geben, Euch mißzutrauen, Miß Marie. Erklärt Euch nur bereit, meinen Vorschlag anzunehmen, und sobald ich Euch dann in einem ehrenwerten Hause in sichere Obhut gebracht habe, will ich selber Madras verlassen und nicht eher zurückkehren, als bis Euer Schicksal in der einen oder anderen Weise dauernd gesichert ist.«
»Nein, Hartley,« antwortete Miß Gray, »Euer Rat ist gewiß recht gut gemeint, aber es wäre doch von mir schlecht gehandelt, wenn ich meine Angelegenheiten auf Kosten Eurer Aussichten fördern wollte. Ich danke Euch – aber es ist nun Zeit, daß wir uns wieder trennen.«
»Teuerste Marie!« rief Hartley, indem er aufs Knie sank und die Hand, die sie ihm reichte, an die Lippen drückte. »Gott segne Euch, denn Ihr verdient den Segen! Und Gott schütze Euch, denn Ihr werdet bald des Schutzes bedürfen. Wenn es anders kommt, als Ihr hofft, so schickt unverzüglich nach mir, und wenn noch ein Mensch Euch Hilfe zu bringen vermag, so rechnet auf Adam Hartley!«
Er reichte ihr eine Karte, die seine Adresse enthielt, dann stürzte er hinaus. Er eilte aus der schwarzen Stadt unter dem Eindruck der festen Überzeugung, daß Marie Gray das Opfer eines schändlichen Betruges sei, und fester als je stand in ihm der Entschluß, ihr beizustehen, soweit in seinen Kräften stünde, und sein Leben für sie in die Schranken zu schlagen.
Achtzehntes Kapitel
Als Hartley den Garten des indischen Hauses verlassen hatte, begab sich auch Miß Gray in das für sie bestimmte Gemach zurück. Sie fühlte sich auch zu heimlichem und bangem Nachdenken gestimmt. Alle Liebe und alles Vertrauen zu Middlemas vermochten sie nicht, sich über die Bedenken hinwegzusetzen, die sie vor ihrer zweifelhaften Beschützerin hegte. Das Wesen dieser Abenteurerin, ihre mannhafte Redeweise und ihr großtuerisches Benehmen erfüllten sie mit Widerwillen.
Kaum war Hartley weg, und kaum hatte Marie den Garten verlassen, so traten aus einem nahen Gebüsch, wo sie gelauscht zu haben schienen, Madame Montreville und ein schwarzer Diener hervor.
»Ich bin überzeugt,« sagte die Dame, »dieser – wie heißt er doch – dieser Hartley ist ein Ekel und mischt sich in alles. Was hat er hier zu suchen? Sie mag ihn ja gar nicht. Ist es seine Sache, wer sie kriegt? Ich wünschte, wir wären wieder über die Ghat hinweg, mein teurer Sador.«
»Ich für mein Teil,« erwiderte der Sklave, »habe wenig Lust, noch einmal dieses Gebirge zu überschreiten. Wißt, Adele, der von uns entworfene Plan fängt an, mir herzlich widerlich zu werden. Die vertrauensvolle Reinheit dieses Geschöpfes, nennt es nun Weib oder Engel, macht mir meine Schliche in meinen Augen so erbärmlich, daß ich fühle, ich tauge nicht zum Gefährten all der tollkühnen und niederträchtigen Intriguen, in die Ihr mich hineinzieht. Wir wollen auseinandergehen – wir können es jetzt noch in gutem Einvernehmen.«
»Amen, Memme!« versetzte die Königin von Saba. »Das Weib aber bleibt mein.«
»Euer!« rief der Schwarze. »Nimmermehr! Sie steht unter dem Schutz der britischen Flagge.«
»Ja, und welchen Schutz kann sie etwa Euch selber gewähren?« versetzte das kriegerische Weib. »Ich brauche nur in die Hände zu klatschen und einem halben Dutzend meiner schwarzen Diener zu befehlen, so binden sie Euch wie ein Lamm, und dann brauche ich nur dem Präsidenten zu sagen, daß ein gewisser Richard Middlemas, der sich der Meuterei, des Totschlags, der Desertion und des Verrats schuldig gemacht hat, der in fremdem Dienste gegen seine Landsleute gekämpft hat, sich hier im Hause des Nam Sing Cottah befindet in der Verkleidung eines schwarzen Sklaven, und Ihr seid geliefert.«
Middlemas schlug die Hände vors Gesicht, während Madame Montreville fortfuhr, ihm Vorwürfe zu machen.
»Höre!« rief sie – »du Sohn eines Sklaven und selber Sklave! Du trägst die Kleidung meiner Diener und hast zu gehorchen wie sie. Sonst Peitschenhiebe oder Fesseln! – Das Schafott, Abtrünniger! – Den Galgen, Mörder! Wagst du es, an den Abgrund des Elends zu denken, aus dem ich dich erhoben habe, Reichtum und Liebe an meiner Seite zu genießen? Denkst du daran, daß damals dir das Bild dieser kalten Blassen so gleichgültig war, daß du dich bereit erklärt hast, sie als schuldigen Tribut für die Gunst der Frau zu opfern, die sich herabließ, dich zu lieben, dich kläglichen Tropf, der du warst. Nichts weiter hast du zu tun, als die Dirne in ein fremdes Land zu bringen unter dem Vorwand einer Liebe, die ja doch bei dir, du Bösewicht, nie dagewesen ist. Ich durchschaue dich, glaube mir! Du willst den Fürsten, um dessen Gunst du buhlst, an die Engländer verraten, um wieder bei den Deinen in Gunst zu kommen. Aber mich sollst du nicht verraten, so schlau du es auch anstellst! Ich will nicht das Werkzeug deines Ehrgeizes sein, ich will nicht dir meine Schätze und meine Soldaten borgen, damit sie dieser Eispuppe aus dem Norden zu Diensten seien. Nein, ich will über dir wachen wie der Satan über einer armen Seele, und gib mir nur den geringsten Grund zu dem Verdacht, daß du auch mich verraten willst, solange wir hier sind, und auf der Stelle zeige ich dich bei den Engländern an! Weiche nur einen Zoll breit von der Bahn, wenn wir erst über die Ghats sind, und ich teile dem Nawwab mit, daß du den Plan verfolgst Bangalur den Engländern zu überliefern, sobald Tippu Sahib in seiner Unklugheit dich zum Killedar dieser Stadt gemacht hat. Geh, wohin du willst, Sklave, mir sollst du nicht entrinnen, und in mir sollst du deine Meisterin finden!«
Sie schwieg eine Weile und setzte, dann hinzu: »Also kurz und gut, erklärt mir, daß die Frauensperson mir zur Verfügung steht.«
»Doch nicht, daß Ihr sie unter Eurem Throne lebendig begrabt, wie jene Cirkassierin, auf die Ihr eifersüchtig ward«, antwortete Middlemas mit einem Schauder.
»Nein«, du Narr! Kein schlimmeres Los harrt ihrer, als die Lieblingshouri eines Fürsten zu werden. Kannst du vogelfreier Sklave, der du bist, ihr etwas Besseres bieten? Doch genug! Morgen treten wir die Reise an. Gebt dem Gefolge die nötigen Befehle!«
»Hören heißt gehorchen,« war die Antwort des verkleideten Sklaven.
Die Augen der Begum blieben auf die Tür geheftet, durch die Richard Middlemas gegangen war.
»Schurke!« murmelte sie dann. »Zwiefacher Verräter! Deine Schliche sind mir offenbar, ich durchschaue deine Niedertracht! Tippu willst du durch die Liebe fangen und verraten. Aber bei mir soll dir das nicht gelingen! – Hollah!« – Dieser Ruf galt einem Diener. – »Ein Bote, auf den ich mich verlassen kann, soll sich sogleich bereit halten, mit Briefen abzureisen, die ich jetzt gleich schreiben werde. Es darf niemand etwas davon erfahren. – Und nun soll diese bleiche Maid sofort wissen, welches Schicksal ihr bevorsteht, und verspüren, was es heißt, eine Nebenbuhlerin der Adela Montreville gewesen zu sein!«
Die eifersüchtige und despotische Begum zauderte nicht länger, ihre unschuldige Nebenbuhlerin von ihren schändlichen Plänen in Kenntnis zu setzen und das arme Mädchen in Todesangst zu jagen.
In ihrer Verzweiflung gelang es der Unglücklichen, einen Diener des Ram Sing Cottah durch Bitten und ein Geldgeschenk dahin zu bringen, daß er ein Schreiben folgenden Inhalts an Hartley besorgte:
»Es ist alles so wie Ihr es geahnt habt. Er hat mich in die Hände dieses grausamen Weibes gegeben, und sie soll mich an den Tyrannen Tippu verkaufen. Rettet mich, wenn Ihr könnt! Wenn Ihr kein Mitleid mit mir hegt oder mir keine Hilfe bringen könnt, so ist mein Entschluß gefaßt und ich habe auf Erden nichts weiter zu tun. M. G.«
Neunzehntes Kapitel
Hartley war darauf vorbereitet gewesen, daß sein Beistand vonnöten sein würde. Seine böse Ahnung war in ihm fast zur Gewißheit geworden, und, die Nachricht setzte ihn daher nicht in Schrecken, sondern riß ihn nur dazu hin, sofort seinen Entschluß zur Ausführung zu bringen und zur Rettung seiner Geliebten alle Kräfte aufzubieten.
Sein Versuch, beim Gouverneur eine Audienz zu erhalten, um diesen aufzuklären und zu der Verfügung zu veranlassen, daß der Madame Montreville die Abreise ins Innere des Landes verboten würde, mißlang. Es war der Regierung nichts daran gelegen, die Reise der Montreville und ihres Günstlings zu verhindern, da die Reise ja vielmehr ihren eigenen Plänen entsprach. Die Beschwerde, daß eine Engländerin wider ihren Willen im Gefolge der Begum mitgeführt würde, behandelte man als Weiberklatsch, auf den kein Wert gelegt zu werden brauche. Schließlich erklärte man sich bereit, Schritte zur Untersuchung der Angelegenheit zu tun, aber allerdings erhielt Hartley diese Versicherung erst, als die Montreville schon so weit weg war, daß eine Unterbrechung ihrer Reise nicht mehr zu erhoffen war.
Hartley machte seinem Unwillen gegen die Verwaltung Luft, er erzielte damit aber nichts weiter, als daß ihm das Betreten des Regierungspalastes untersagt wurde. Außerdem erhielt er den Wink, daß, wenn er noch weiterhin sich eine derartige ungebührliche Sprache zu schulden kommen ließe, man seine Versetzung nach einer Bergfestung oder einem Dorfe im Gebirge verfügen würde.
Als Hartley von einem letzten Besuch im Palaste des Gouverneurs erbittert heimkehrte, begegnete ihm wiederum sein Kollege Esdale.
Vor Ingrimm außer sich, teilte er diesem mit, wie es ihm ergangen sei. Er bezeichnete das Verhalten der Behörde als schändlich und erklärte, er habe nur zu guten Grund zu der Annahme, daß der Gouverneur selber die Hand bei der schmachvollen Affäre im Spiele habe. Es sei ganz unbegreiflich, wie die Regierung es so ruhig mitansehen könne, daß eine britische Untertanin gewaltsam von einem Abtrünnigen entführt und der Gewalt eines indischen Tyrannen überantwortet werde.
Esdale hörte ihm mit jener Vorsicht zu, die ängstliche und kluge Leute an den Tag zu legen pflegen, wenn sie durch die Reden eines unvorsichtigen Freundes selber in Verlegenheit zu kommen befürchten.
»Wenn Ihr für Eure Person Genugtuung haben wollt, so müßt Ihr Euch nach Leadenhall-Street wenden,« sagte er, »dort werden Wohl schon Beschwerden in großer Menge gegen den Gouverneur vorliegen, doch sei dies unter uns gesagt.«
»Daran ist mir gar nichts gelegen,« erwiderte Hartley, »ich pfeife auf persönliche Genugtuung. Hilfe für Marie Gray will ich.« »In diesem Falle,« sagte Esdale, »bleibt Euch nichts weiter übrig, als daß Ihr Euch an Haidar selber wendet.«
»An Haidar, an den Thronräuber und Tyrannen?«
»Ja, an diesen Thronräuber und Tyrannen,« antwortete Esdale, »müßt Ihr Euch wenden. Er ist stolz darauf, daß man ihn für einen streng gerechten Herrscher hält, und vielleicht hat er die Grille, sich auch in diesem wie schon in so manch anderm Falle als völlig unparteiischer Richter zu zeigen.«
»Dann will ich fort, an seinem Throne Gerechtigkeit zu verlangen!«
»Gemach, gemach!« versetzte Esdale. »Vor allen Dingen überlegt Euch, was Ihr da wagt! Haidar ist gerecht, aus Klugheit und vielleicht aus Politik. Aber er ist von so heißblütigem Temperament wie irgend ein Farbiger, und wenn Ihr ihn vielleicht in der Laune antrefft, gerecht zu richten, so könnt Ihr ihn andrerseits auch in der Laune finden, ungerecht zu töten. Auf den Pfahl spießen und Erdrosseln ist bei ihm ein ebenso beliebter Sport, wie die Gerechtigkeit richtig abzuwägen.«
»Ganz einerlei, ich will auf der Stelle fort.«
»Kennt Ihr irgend jemand von den Höflingen Haidars?«
»Nur seinen geheimen Agenten, der vor kurzem hier war, Barak el Hadschi.«
»Der kann Euch unter Umständen ebenso viel nützen, wie wichtigere Personen. Die Sache ist eben die, man kann nie mit Bestimmtheit auf irgend etwas rechnen, wenn die Willkür eines Despoten im Spiele ist und auf sie eigentlich alles ankommt. Hört auf meinen Rat, lieber Hartley, überlaßt das arme Mädchen ihrem Schicksal. Wenn Ihr versucht, sie zu retten, so steht hundert gegen eins zu wetten, daß Ihr nur selber Euern Untergang dabei findet, ohne ihr irgendwie zu nützen.«
Hartley verabschiedete sich kopfschüttelnd von diesem guten Freunde, der sich in der Meinung entfernte, einem lieben Bekannten einen guten Rat erteilt und ihn dadurch vielleicht von einer großen Torheit abgelenkt zu haben.
Mit seiner Bemühung, die Abreise des Weibes ins Innere zu verhindern, kam er infolge unvorhergesehener Verzögerungen zu spät, und es blieb ihm nichts übrig, als der Montreville nachzureisen.
Er versah sich mit Geld, nahm drei zuverlässige eingeborene Diener, kaufte für sie und sich arabische Pferde und trat ohne Verzug die Reise nach Maisur an. Unterwegs wurde es ihm klar, daß ihm kein anderes Mittel mehr blieb, als geradeswegs nach dem Throne des Haidar Ali, des Vaters Tippu Sahibs, sich zu begeben und dessen Barmherzigkeit anzurufen. Er rief sich alle möglichen Geschichten ins Gedächtnis, die er von Haidar Alis Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung je vernommen hatte, um zu der Zuversicht zu gelangen, daß der Rawwab sich willens zeigen werde, ein hilfloses Weib vor seinem eigenen Sohne zu schützen.
Auf seiner Reise, die mühselig genug war und unter beständigen Gefahren verlief, erfuhr er nur einmal, daß er auf der richtigen Spur sei.
An den Wällen eines Forts erhielt er von einem Posten die Auskunft, daß die Reisegesellschaft einer reichen Indierin vorübergekommen sei. Sie schienen es sehr eilig gehabt zu haben. Jenseits der Ghats habe sich eine Truppe der eigenen Soldaten der Indierin ihr angeschlossen, während die aus Madras mitgenommenen Führer und Begleiter hier entlohnt und zurückgeschickt worden seien. Die Begum beabsichtige bis nach Bangalur zu reisen, wo sie mit Tippu Sahib zusammentreffen wolle.
Auf Grund dieser Erkundigung hatte Hartley Aussicht, die Reise bis zur Residenz von Haidar Ali, Seringapatam, zurückzulegen, ehe noch die Montreville mit Tippu zusammentreffen konnte, da dieser erst in mehreren Tagen von einem Kriegszuge zurückerwartet wurde. Er konnte sich also dem Herrscher zu Füßen werfen, noch ehe das schändliche Werk vollbracht war.
Denn es war kein Zweifel, daß das Werk im besten Zuge war. Wie der Posten sagte, hatte in einer Sänfte eine Feringi – wie die Eingeborenen die Weißen nennen – gesessen, schön wie eine Houri, die als Geschenk für Tippu mitgenommen würde. Und der Begleiter der Begum, der die Kleidung seines Ranges getragen habe, sollte von dem Sohne des mohammedanischen Fürsten Haidar Ali mit einer hohen Würde belohnt werden.
Hartley reiste eigentlich aufs Geratewohl. Seine einzige Hoffnung stützte sich darauf, daß jener Fakir, den er einst in Madras von einer schweren Krankheit geheilt hatte, und in dem er einen der geheimen Unterhändler Haidar Alis erkannt hatte, sich in der Hauptstadt befand. Er hatte sich damals gerühmt, großen Einfluß an Haidars Hofe zu haben, und hatte zum Dank für die Heilung Hartley seinen Beistand zugesagt, wenn er sich je einmal in Seringapatam befinde. Vielleicht gelang es ihm, den Mann ausfindig zu machen und durch ihn sein Ziel zu erreichen.
Als die Reisenden unterwegs an einer Tränke Rast machten, bot sich Hartley ein Anblick, der ihn nötigte, sein eignes Unglück mit dem andrer zu vergleichen. Nicht weit von dem Bache saß ein Hindu, der sich im Zustande jammervollsten Elendes zu befinden schien. Er war am ganzen Leibe voller wirren Haares und hockte auf einem Tigerfelle. Sein Leib war mit Unrat und Asche bedeckt, seine Haut von der Sonne verbrannt, er trug nichts, als ein paar dürftige Lumpen.
Er schien die Fremden nicht zu bemerken, bewegte sich nicht und sprach kein Wort. Er heftete den Blick auf ein kleines rohes Grab, das aus Ziegelsteinen errichtet war. Neben ihm lag ein verrosteter Säbel und die Knochen und der Schädel eines Tigers.
Der Führer erzählte ihnen die tragische Geschichte dieses Indiers. Sadhu Sing war als Soldat in die Tochter eines Sepoys verliebt gewesen, er hatte sich eben mit ihr vermählt und wollte sie nach seinem Heime geleiten. Sie ritt auf einem Pferde, während ihr Sadhu Sing und seine Freunde stolz zu Fuß vorangingen. Als sie in die Nähe des Baches kamen, an welchem die Reisenden jetzt rasteten, vernahmen sie plötzlich ein lautes Gebrüll, dem ein Schrei des Entsetzens folgte. Als sie sich umwandten, war die Braut verschwunden, nur das lange Gras der Dschungel schlug noch Wellen, wie das Wasser, unter dem ein Hai dahinschießt.
Mit geschwungenem Säbel und wildem Gebrüll stürzte Sabhu dorthin, die andern warteten, starr vor Entsetzen. Ein kurzes Gebrüll des Todes weckte sie aus ihrer Erstarrung. Sie eilten in die Dschungel und fanden Sadhu. In den Armen hielt er den leblosen Leichnam seiner Braut, dicht dabei lag der Kadaver eines Tigers, entseelt durch einen Säbelhieb, wie ihn nur die Verzweiflung zu führen imstande ist.
Der Unglückliche grub ein Grab für seine Geliebte, errichtete ihr das rohe Denkmal, das die Reisenden sahen, und hatte seitdem diesen Platz nie mehr verlassen. Die wilden Tiere selber schienen seinen Schmerz zu achten oder ihn zu fürchten. Seine Freunde brachten ihm Speise und Trank. Nie hat er gelächelt oder ein Wort des Dankes gesprochen. Seitdem waren vier oder fünf Jahre verflossen, und der Mann sah aus wie ein Greis, obwohl er noch in der Blüte der Jugend stand.
Tief ergriffen von dem Liebesunglück dieses Indiers, setzte Hartley seine Reise fort. Nur zu sehr erinnerte ihn diese Geschichte an das wahrscheinliche Geschick seiner Geliebten, die sich fast schon in den Klauen eines noch furchtbareren Tigers befand, als das Untier gewesen war, dessen Gerippe neben Sadhu Sing lag.
Als Hartley in der Stadt angelangt, sich sofort nach der Moschee begab, fand er den Fakir Barak el Hadschi nicht, aber einer der vielen Hindu erklärte sich bereit, sein Anliegen an den heiligen Mann zu bestellen, und kehrte mit der Nachricht zurück:
»Wer sehen will, wie die Sonne aufgeht, muß bis zur Dämmerung warten.«
Er trug sich in seinem Ungestüm mit dem Gedanken, sich geradenwegs zu dem Fürsten selber zu begeben, aber auf seine Fragen erhielt er den Bescheid, daß Haidar Ali gar nicht in seiner Residenz weile, sondern eines geheimen Unternehmens wegen auf zwei Tage abwesend sei.
Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als daß er bis zum Abend wartete. Als er sich dann wieder nach der Moschee begab, wurde er von einem jungen Hindu erwartet, der seine Führung übernahm mit den Worten:
»Wer sehen will, wie die Sonne aufgeht, muß sich nach Osten wenden.«
Hartley war mit der Redeweise der Indier vertraut und folgte sofort seinem Führer, hinter dessen weißgekleideter Gestalt er im Finstern in banger Stimmung herschritt.
Nach vielverschlungenem Wege machten sie an einer kleinen Pforte Halt, und der Führer bedeutete dem Arzte, einzutreten, Hartley tat es ohne Zaudern und sah sich in einer kleinen Kammer dem Fakir Barak el Hadschi und einem anderen Fakir gegenüber, der in seinem langen weißen Barte einen sehr würdevollen Eindruck machte und eine Person von großer Heiligkeit zu sein schien.
Hartley sprach in achtungsvollstem und bescheidenstem Tone den üblichen Gruß:
»Salem aleikum!«
Der ihm bekannte Barak el Hadschi schien nicht geneigt, die gleiche Vertraulichkeit anzunehmen, die er ihm seinerzeit in Madras bezeigt hatte. Er warf einen Blick auf seinen älteren Gefährten und wies auf einen Teppich, auf den sich Hartley der Sitte gemäß mit gekreuzten Beinen niedersetzte.
Mehrere Minuten lang herrschte tiefes Schweigen. Hartley kannte die Gepflogenheiten des Orients zu gut, um zuerst das Wort zu ergreifen. Er wartete, bis er zum Reden aufgefordert wurde.
Dies geschah von seiten Baraks.
»Als der Pilger Barak,« sagte dieser, »in Madras wohnte, da waren Augen und Zunge sein. Jetzt aber ist er untertan dem heiligen Vater Scheich Ali ben Kaledun, dem Vorsteher seines Klosters.«
Diese Unterwürfigkeit vermochte Hartley nicht mit der früheren Behauptung Baraks, in Seringapatam großen Einfluß zu besitzen, in Einklang zu bringen. Er wandte sich daher an den älteren Fakir und berichtete in kurzen Worten von dem schändlichen Plan, ein englisches Mädchen Tippu Sahib in die Hände zu liefern, sie mit Gewalt zu einer Houri seines Harems zu machen, und ersuchte sie, sich für die Unglückliche bei dem ehrwürdigen Vater des Prinzen zu verwenden.
Der ältere Fakir hörte ihn mit unerschütterlicher Ruhe an, regungslos wie ein Holzbild auf den Bittsteller herabblickend.
»Glaubt Ihr,« fragte er nach einer Pause, »daß der Nawwab Haidar Ali Chan Vahadur seinem Sohne Nippu, dem Siegreichen, den Besitz einer ungläubigen Sklavin streitig machen wird?«
»Der Nawwab ist der Stellvertreter des Propheten«, sagte Hartley und senkte das Haupt. »Er ist der Richter über Niedrige und Hohe und der Ruhm seiner Gerechtigkeit geht von Pol zu Pol.«
Eine lange Pause trat ein – der altere Fakir schien von den Worten Hartleys angenehm berührt.
»Hast du, Feringi,« fragte er dann, »sonst von einem Verrat gehört, den dieser Kafir (Ungläubige) gegen den Nawwab Bahadur im Schilde führt?«
»Von einem Verräter kommt Verrat,« antwortete Hartley, »wenn ich aber bei der Wahrheit bleiben soll, so ist mir ein verräterischer Plan nicht bekannt.«
»Wahr sind die Worte dessen,« erwiderte der alte Fakir, »der seinen Feind nur insoweit anklagt, als er die Anklage vertreten kann. Was du gesagt hast, soll dem Nawwab vorgetragen werden. Wer Ausgang wird sein, wie Allah und er es wollen. – Friede sei mit dir!«
»Der Segen Allahs geleite dich!« setzte Barak hinzu.
Damit war Hartley verabschiedet.
Diese Zusammenkunft war nicht dazu angetan, ihn mit Zuversicht zu erfüllen, und als er nach seinem Khan, wie dortzulande die Einkehrhäuser heißen, zurückgekehrt war, hatte er die Überzeugung, daß er auf die Dienste dieser Fakire nicht allzu sicher bauen könne, und faßte ohne Zaudern den Entschluß, auf der Stelle nach Bangalur weiter zu reisen, um dem Fürsten Tippu selber zu Füßen zu fallen und die Rettung seiner Geliebten zu erflehen.
Zwanzigstes Kapitel
Als er vor dieser schönen und bevölkerten Stadt anlangte, sah er eine Meile etwa vor ihren Wällen ein Lager aufgeschlagen – auf dem Gipfel eines Hügels. Zelte aus Seide und Gold und Speere mit vergoldeten Spitzen und Pfähle mit vergoldeten Kugeln boten ein prächtiges Bild.
Dies war das Lager der Begum Muti Mahul, wie die Königin von Saba oder die Madame Montreville bei den Eingeborenen hieß.
Hartley ging traurig im Schatten einiger Magnolien auf und nieder, in Gedanken über seine Geliebte und seine eignen Aussichten. Das Bewußtsein, ihr so nahe zusein, erhöhte noch die Bitternis seines Schmerzes, denn hier erst war es ihm so recht klar, wie gering die Hoffnung war, sie retten zu können. Ein Liebhaber von romantischer Sinnesart wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, sie durch List oder Gewalt zu retten, aber Hartley war zwar ein mutiger Mann, hatte aber keinen Hang zu Abenteuern und würde jeden derartigen Gedanken von sich gewiesen haben.
Wahrend er noch in solche Gedanken versunken, auf und ab ging, riß ihn Geschützdonner, der von den Bastionen der Stadt herunterklang, aus seiner Schwermut. Gleichzeitig sah er von Norden her eine Schar Reiter heransprengen, durch den Staub hindurch erkannte er auch Elefanten und königliche Banner, und konnte nun nicht mehr länger im Zweifel sein, daß er hier die Rückkehr Tippu Sahibs mit ansah.
Aus der Stadt scholl lauter Jubel herüber, während der ganze Schwarm zu den Toren hineinbrauste.
Bald darauf ritten Boten ins Lager der Begum und meldeten ihr, daß der Fürst zum Orte der Zusammenkunft seinen Garten vor der Stadt bestimme und daß die Zusammenkunft stattfinden sollte zur Mittagszeit des folgenden Tages. Dies war die Antwort auf die Anfrage der Boten der Begum, die den Fürsten vor seinem Palast kniend erwartet hatten.
Genau zur Mittagsstunde des nächsten Tages verkündete Kanonendonner, daß Tippu seinen Elefanten bestiegen habe. Der tiefe Klang der Staatstrommel tönte weithin. Dann kam zu den Toren hinaus die feierliche Prozession in all der überschwenglichen Pracht des Orients.
Tippu selber ritt reich geschmückt auf seinem Elefanten in einer aus Silber und Gold kostbar gearbeiteten Sänfte. Hinter ihm ritt die große Schar der Hofschranzen, die alle aufs glänzendste gekleidet waren.
Kaum war der Prinz Tippu, in den fürstlichen Gärten angelangt, von seinem Elefanten gestiegen und hatte in seinem Staatspavillon sich auf den Thron niedergelassen, so nahte auch schon die stattliche Gestalt der Begum sich dem Orte der Zusammenkunft.
Da ihr Elefant an den Toren zurückgelassen worden war, ließ sie sich in einer offnen Sänfte von sechs Sklaven tragen. Sie war in Seide und über und über mit reichem Zierat beladen.
Als General der Begum schritt neben ihrer Sänfte Richard Middlemas. Er war in der Tracht eines indischen Höflings.
Die Sänfte machte Halt, als sie vor dem Throne Tippus angelangt war. Das Geleit der Begum, das einen prächtigen Aufzug bildete, bestand nur aus Männern, und dem Anschein nach war keine Frauensperson in ihrem Gefolge. Nur eine geschlossene Sänfte erregte Aufsehen, die von zwanzig schwarzen Sklaven mit gezogenen Säbeln bewacht wurde.
Als Tippu durch den dünnen Sprühregen des Springbrunnens, der vor seinem Pavillon eine kristallne Säule aufsteigen ließ, die Sänfte der Begum sich nähern sah, erhob er sich von seinem Thron und ging ihr bis zum Fuße seines Sessels entgegen. Dort wurden die üblichen feierlichen Begrüßungen ausgetauscht.
Alsdann geleitete er sie zu dem Kissen, das neben seinem Sessel in seltener Ehrerbietung für sie hingebreitet war. Die Höflinge Tippus machten den Höflingen der Begum Platz, und alle ließen sich auf dem Teppich, die Beine kreuzend, nieder, Middlemas nahm hierbei einen Ehrenplatz ein.
Weiter hinten standen die Leute geringerer Bedeutung, und unter sie hatte Hartley sich gemischt. Unmöglich ließen sich die Gefühle beschreiben, die Hartley beim Anblick des abtrünnigen Middlemas und der Frau Montreville empfand. Er fühlte den Mut in sich, mitten unter die Versammlung zu treten und an eine Gerechtigkeit zu appellieren, die im ganzen Lande sprichwörtlich sei.
Der Prinz hatte inzwischen in leisem Tone mit der Begum gesprochen, jetzt schloß er mit deutlich vernehmbarer Stimme:
»Um die Dienste zu lohnen, die uns die mächtige Begum Matti Mahul, die schön ist wie der Mond und weise wie die Tochter Dschemschids, und ihr General uns erwiesen haben, nehmen wir auf ihr Gesuch hin diesen ihren General als einen unsers Vertrauens würdigen Helden in unsre Dienste und belehnen ihn mit der Würde des Kommandanten in unsrer geliebten Hauptstadt Bangalur.«
Kaum waren diese Worte verklungen, als sich aus dem Haufen des herumstehenden Volkes eine Stimme vernehmen ließ, die laut rief:
»Verflucht sei der, der den Räuber zum Schatzmeister macht und der den Abtrünnigen zum Herrscher über Moslemin erhebt!«
Mit unsäglicher Freude, aber doch vor Angst und banger Spannung bebend, erkannte Hartley die Stimme des älteren Fakirs. Tippu schien sich an diese Unterbrechung nicht zu kehren. Er betrachtete sie als die Verrücktheit eines frommen Eiferers, denen die mohammedanischen Fürsten große Freiheiten gestatten.
Als die Ruhe wieder eingetreten war, erhob sich Middlemas, verneigte sich vor dem Prinzen und sprach in einer auswendig gelernten Rede seine Unwürdigkeit zu dem ihm erteilten Amte aus und erklärte seinen Eifer und seine Hingebung für den Fürsten.
Er war im Begriff, noch etwas hinzuzusetzen, aber die Sprache versagte ihm hier, er stammelte und verstummte.
Rasch fiel ihm die Begum ins Wort.
»Mein Befehlshaber wollte sagen,« rief sie, »daß ich nicht in der Lage bin, für eine so große ihm übertragene Ehre zu danken, ich kann nur bitten, Eure Hoheit möge sich herablassen, eine Lilie aus Frangistan anzunehmen, die in dem fernsten Winkel Eures Harems zu Eurer Lust bereit sein soll. Die Wachen meines Gebieters mögen die Sänfte dort wegtragen.«
Der Schrei einer weiblichen Stimme ließ sich vernehmen. als die Wachen Tippu Sahibs auf seinen Wink hin an die Sänfte traten.
Da erklang von neuem die Stimme des alten Fakirs lauter und grimmiger als zuerst.
»Verflucht ist der Fürst, dem die Gerechtigkeit um Wollust feil ist. Er wird fallen in seinen Toren unter dem Schwerte des Fremden.«
»Das ist zu unverschämt!« fuhr Tippu auf. »Bringt diesen Fakir her, die Peitschen sollen ihm den Rücken zerfleischen!«
Aber die Diener, die hinzueilten, den Befehl des Tyrannen auszuführen, stürzten vor dem Fakir zu Boden wie vor dem Engel des Todes.
Er warf seine Kapuze und seinen falschen Bart von sich, und das wütende Antlitz Tippus zeigte sofort den Ausdruck der Unterwürfigkeit, als es dem finstern und furchtbaren Auge seines Vaters begegnete.
Einundzwanzigstes Kapitel
Auf einen Wink Haidar Alis stieg Tippu vom Throne herab, den nun der Vater einnahm, der an Stelle des zerrissenen Kaftans einen purpurnen Mantel und den königlichen Schmuck anlegte.
Rings in der Versammlung und in der Menge wurde der Zuruf laut:
»Heil dem Guten, dem Weisen, dem Entdecker verborgener Dinge, der unter die Seinen tritt, wie die Sonne durch die Wolken bricht.«
Der Nawwab gebot zuletzt Schweigen, dann schaute er majestätisch um sich und sah auf Tippu, der mit zu Boden gesenktem Blick und gekreuzten Armen, wie eines Urteils harrend, vor ihm stand. Seine Haltung bot jetzt einen starken Gegensatz zu dem stolzen Herrscherwesen, daß er eben noch zur Schau getragen hatte.
»Du hast die Sicherheit,« sagte der Nawwab zu ihm, »die Sicherheit deiner Hauptstadt verkauft um den Besitz einer weißen Sklavin, allein auch Salomo hat die Schönheit eines Weibes zum Straucheln gebracht. Wie hätte der Sohn Haidar Alis der Versuchung widerstehen können? – Damit aber die Menschen hell sehen, müssen wir das Licht entfernen, das ihnen die Augen blendet. – Das Feringi-Weib muß mir überlassen werden.«
»Hören ist gehorchen«, antwortete Tippu.
»Übergebt es dort dem Feringi Hartley, der es zurückbringen mag in sein Land. Das Geleit, das ich ihnen mitgebe, bürgt mit den Köpfen für ihre Sicherheit. – Was dich betrifft, Tippu, so bin ich nicht gekommen, vor dieser hohen Versammlung dir das Wort zu nehmen. Was du dem Feringi versprochen hast, sollst du erfüllen. Die Sonne nimmt den Glanz nicht zurück, den sie dem Mond gegeben, der Vater verdunkelt nicht die Würde, die er dem Sohne übertragen. Was du verheißen hast, vollbringe!«
Die Feierlichkeit der Amtserteilung nahm ihren Fortgang. Middlemas unterzog sich ihr mit klopfendem Herzen und hegte noch die geheime Hoffnung, daß er den Vater wie den Sohn hintergehen könnte.
Die Höflinge brachten dem neuernannten Killedar ihre Glückwünsche dar, und priesen die kluge Wahl Tippu Sahibs.
Nun kam das bei solchen Gelegenheiten in Indien übliche Geschenk, ein Elefant, den der neue Kommandant besteigen sollte.
Das gigantische Tier stand vor dem Pavillon, schüttelte den riesigen, runzligen Kopf und hob und senkte ungeduldig den gewaltigen Rüssel.
Richard Middlemas, sehr zufrieden mit der Audienz, war im Begriff, den Elefanten zu besteigen und wartete, am Halses des Tieres stehend, daß der Führer es niederknien ließe, als Haidar Ali die Hand hob.
»Halt, Feringi,« sagte er, »dir ist alles geworden, was die Güte Tippus dir verheißen. Empfange nun auch den wohlverdienten Lohn Haidars.«