Zweiter Band

Erstes Kapitel

David Deans war, wie im letzten Kapitel des ersten Bandes schon gesagt worden, von Frau Saddletree aufgenommen und in ihrer guten Stube gebettet worden. Auf die Ohnmacht, die ihn im Gerichtssaale beim Schlusse der Verhandlung befallen, war eine tiefe Schwäche gefolgt, und es hatte geraume Zeit bedurft, bis er das Bewußtsein wiedererlangte. Seine ältere Tochter saß stumm und starr an seinem Bett. Die Vorhänge waren zugezogen, die Fensterläden geschlossen, als Frau Saddletree, nachdem sie sich ihrer andern Gäste entledigt, bei ihnen eintrat. Sie war eine gutmütige Frau, aber keine Frau, die zarte Rücksichten kannte; so zog sie ohne weiteres die Läden in die Höhe, schob den Bettvorhang zurück und trat zu dem alten Manne, hieß ihn sich aufrichten und sich ermannen. Leid, das über den Menschen komme, müsse er eben tragen, sagte sie; da könne nichts helfen. Aber er konnte sich nicht aufrecht halten, seine Hand sank, als die Frau sie losließ, kraftlos auf das Bett, und die Stimme versagte ihm.

»Ist's zu Ende?« fragte Jeanie die Frau, bleich wie der Tod, »besteht keine Hoffnung mehr?« –

»So gut wie keine,« versetzte Frau Saddletree, »ich hab das Urteil noch mit angehört. Viel gehört wahrlich nicht dazu für diese Sippe in ihren schwarzen Kaftanen, einem armen, harmlosen Dinge das Leben abzusprechen. Viel hab ich nie auf sie gehalten, auf dieses Gevattervolk von meinem Manne, wie ich sie nenne; aber jetzt sind sie mir in den Tod zuwider. Das einzige, was noch einigermaßen Hand und Fuß hatte, war die Rede vom Herrn Kirk, dem ersten Geschworenen, der dem Gericht anempfahl, die königliche Gnade für das arme Ding nachzusuchen. Aber er hätte sich den Atem sparen können, denn er sprach doch zu tauben Ohren.«

»Der König kann sie aber begnadigen?« fragte Jeanie lebhaft; »ich hörte, in Fällen wie dem ihrigen stünde ihm kein Begnadigungsrecht zu?«

»Selbstverständlich kann er sie begnadigen, wenn er es will. Solcher Fälle, wo er's getan, könnte ich Dir manchen nennen, Jeanie. War's denn nicht eben erst der Fall mit dem Hauptmann, dem Porteous? Bloß darum handelt es sich, den Weg zu ihm zu finden!«

»Porteous?« wiederholte Jeanie: »ach, es ist ja wahr! Woran ich am ehesten denken sollte, vergesse ich gerade. Liebe Frau Saddletree, ich muß Ihnen Adieu sagen. Muhme, möge es Ihnen in Not und Kummer niemals an einem Freunde fehlen!«

»Kind, Du wirst doch Deinen armen Vater nicht verlassen wollen?« rief Frau Saddletree: »laß Dir doch so etwas nicht beikommen!«

Jeanie wies nach dem Stockhause. »Ich werde drüben wohl mehr von nöten sein,« sagte sie, »und gehe ich nicht jetzt, später brächte ich es wohl kaum über das Herz. Um sein Leben ist mir nicht bange, Muhme, ich weiß ja, wie stark sein Herz ist, weiß es,« setzte sie hinzu, die Hand auf die Brust legend, »von meinem eigenen.«

»Nun, Jeanie, wenn Du meinst, es sei besser so, dann tue es nur. Er mag ruhig hier bleiben, bis er sich erholt hat.«

»Ja, Muhme! es wäre besser, er käme nicht nach Sankt-Leonard zurück. Lassen Sie ihn nicht fort, bis Sie von mir hören, Muhme, und nun, Adieu! Gott segne Sie! Gott segne Sie!«

»Aber, Jeanie, Du kommst doch wieder? Drüben werden sie Dich ja nicht behalten?«

»Ich muß gleich nach Sankt-Leonard hinaus und nach dem Rechten sehen, muß auch noch mit Freunden sprechen. Viel Zeit bleibt mir nicht. Gott segne Sie, Muhme! und sorgen Sie für den Vater! Bitte, bitte!«

Sie war schon an der Tür, drehte aber noch einmal um und kniete vor dem Bette nieder. »Vater, gib mir Deinen Segen!« bat sie; »ohne Deinen Segen darf ich, kann ich nicht gehen. Sprich wenigstens: Gott segne Dich, Jeanie!«

Mehr instinktiv, als mit Bewußtsein, lallte der Greis die Worte, »daß aller Segen der Verheißung und Vergeltung auf ihrem Haupte ruhen möge!«

Jeanie stand auf. »Er hat meinen Weg gesegnet,« sagte sie; »und jetzt ist mir's ums Herz, als müßte mein Vorhaben gelingen.«

Frau Saddletree blickte ihr kopfschüttelnd nach. »Wenn sie bloß nicht irre redet, das arme Ding! Die ganze Deanssche Familie hat was Wunderliches an sich; ich kann die Leute nicht recht leiden, die immer was Besseres sein wollen als andere, viel Gescheites kommt niemals dabei heraus. Aber freilich, wenn sie nach Sankt-Leonard hinüber will, um nach den Kühen zu sehen, dann hat sie recht; die Tiere kann man nicht verkommen lassen Griggie,« rief sie zur Tür hinaus, »komm her und sieh nach dem alten Manne, laß es ihm an nichts fehlen. Dummes Ding Du,« sagte sie, als das Mädchen sich auf der Schwelle zeigte, »wie hast Du Dich denn heut herausgeputzt? Ich dächte, was ihr Dirnen heut mit angesehen und angehört habt, müsse euch eine Warnung sein?«

Lassen wir die gute Frau weiter gegen irdische Eitelkeit schelten und sehen wir uns nach der unglücklichen Effie um, die jetzt in schärferer Haft gehalten wird. Eine Stunde mochte sie in der Armensünder-Zelle geschmachtet haben, als sie durch Klirren von Schlössern und Knarren von Riegeln aus ihrer dumpfen Betäubung gerissen wurde und Ratcliffe hereintrat. »Ihre Schwester, Effie,« sagte er, »ist da und will mit Ihnen reden.«

Mit der ihr eigenen Reizbarkeit, die durch das Unglück, das über sie gekommen war, noch verstärkt wurde, rief sie: »Ich kann, ich mag niemand sehen, sie am allerwenigsten!. Sagt ihr, sie möge für den alten Mann sorgen. Ich bin ihnen nichts mehr, so wenig wie sie mir sind.«

»Sie sagt aber, sie müsse Sie sehen,« erwiderte Ratcliffe.

Aber Jeanie war schon in der Zelle und schlang die Arme um die Schwester, ohne sich daran zu kehren, daß Effie sich ihr zu entwinden suchte.

»Was nützt es, jetzt zu weinen, nachdem Du mich in den Tod gejagt hast? und doch konnte ein einziges Wort aus Deinem Munde mich retten! Du weißt es doch, daß ich nicht schuldig bin, wenigstens nicht an dem schrecklichen Verbrechen. Du weißt, daß ich lieber Leib und Seele hingegeben hätte, als Dir das kleinste Leid geschehen zu lassen.«

»Du sollst den Tod nicht leiden,« rief Jeanie mit dem Feuer der Begeisterung, »sprich von mir, was Du willst, denk von mir, was Du willst, aber versprich mir, daß Du Dir kein Leid antun willst – versprich es mir, Effie, – denn ich zittere vor Deinem Temperament – versprich es mir, und Du sollst den schmachvollen Tod nicht leiden!«

»Ich will solchen Tod nicht sterben, Jeanie; schwach mag mein Herz gewesen sein, aber Schande erträgt es nicht. Geh zum Vater, Schwester, und sorge für ihn! Meiner aber denke nicht weiter, denn ich habe die letzte irdische Speise zu mir genommen.« »Das eben ist es, Effie, was ich fürchte!« rief Jeanie.

»Ach, reden Sie doch nicht so törichtes Zeug!« sagte Ratcliffe, »von solchen Sachen wissen die meisten nichts, wissen auch Sie nichts! So lange einem das Urteil noch in den Ohren klingt, will man immer lieber gleich sterben, statt die sechs Wochen ruhig noch auszuhalten. Aber die Hand legt doch keiner an sich! Ich hab dem grauen Männchen schon dreimal gegenüber gestanden und bin doch immer noch auf den Beinen. Hätte ich mir, als es mir zum ersten Male passierte, auch gleich das Tuch um den Hals gewürgt – die Lust dazu ist mir ja angekommen – wo wäre ich jetzt?«

»Und wie sind Sie davongekommen?« fragte Jeanie, der die Schicksale dieses Menschen jetzt, weil die Schwester in gleicher Lage war, mit einem Male nahe gingen, so unausstehlich er ihr bisher gewesen war.

»Wie ich davon gekommen?« wiederholte er lachend; »so lange ich diese Schlüssel in meinen Händen halte, soll keiner so aus dem Gefängnisse herauskommen wie ich!«

»Meine Schwester soll bei hellem Tage den Fuß von hier setzen,« rief Jeanie; »ich will nach London, den König und die Königin um Gnade für sie bitten; sie haben Porteous begnadigt und können auch sie begnadigen. O, und wenn eine Schwester vor sie hin kniet und um der Schwester Leben bittet, dann werden sie ihr auch Gnade gewähren!«

Effie lauschte mit verstörtem Blicke; Jeanie sprach mit solcher Zuversicht, so schwärmerisch, so hinreißend, daß ein Hoffnungsstrahl in ihrem Herzen zu dämmern anfing. Ebenso schnell aber schwand er wieder, und ihr Herz sank wieder in seine frühere Trostlosigkeit zurück ..

»Ach, Jeanie!« rief sie, »London ist an tausend Meilen weit, liegt weit überm Meere, und ehe Du es erreicht hast, werde ich längst hinüber sein.«

»Das trifft nicht zu, Schwester,« erwiderte Jeanie, »so weit ist London nicht, und man kann zu Lande hingelangen. Mir hat's Reuben Butler gesagt.«

»Jeanie, Jeanie!« rief Effie klagend, »Du hast von Deinen Freunden immer was Ordentliches gelernt, aber ich ... ich ...«

»Denke nicht an so etwas, Effie,« versetzte Jeanie, »laß das, bis wir die schwere Zeit hinter uns haben. Versprich mir, Schwester, auf meine Rückkehr zu warten. Sterbe ich nicht unterwegs, dann werde ich des Königs Antlitz sehen, und der König kann Gnade spenden. Und Sie, Herr,« wandte sie sich zu Ratcliffe, »seien Sie freundlich gegen sie! Sie hat im Leben noch nie empfunden, was es heißt, auf fremde Güte angewiesen zu sein.. Adieu, Effie! Adieu, Herr!. Kein Wort mehr, Schwester! Ich darf jetzt nicht weinen. Mir ist das Herz ohnehin voll zum Zerspringen.«

Sie riß sich aus Effies Armen und verließ die Zelle. Ratcliffe ging hinter ihr her und winkte ihr in einen abgelegenen Raum. Bebend am ganzen Leibe, folgte sie ihm.

»Ich meine es gut mit ihr und mit Ihnen,« sagte er; »denn das muß ich sagen, man muß wirklich Respekt vor Ihnen haben. So resolut und klar im Kopfe hab ich noch kein Weibsbild gefunden. Und ich glaube, weiß Gott! was Sie vorhaben, wird Ihnen gelingen. Aber so ohne weiteres können Sie nicht vor den König gelangen, Mädel, das denken Sie sich nicht! Probieren Sie es erst mit dem Herzog, mit Mac Callumore, der ist Schottland wohlgesinnt, und wenn sich die großen Herren in London, wie jeder in Schottland weiß, nicht viel aus ihm machen, sind sie doch auf der Hut vor ihm und nehmen sich in acht, es mit ihm zu verderben. Das gerade kann Ihnen zum Heile sein, Mädel! Wissen Sie niemand, der Ihnen an den Herzog ein paar Zeilen mitgeben könnte?«

Jeanie fiel plötzlich etwas ein. »Sprechen Sie vom Herzog von Argyle?« – »Wer anders wäre Mac Callumore?« – »Derselbe, der, als mein Vater noch ein Jüngling war, unter so schweren Verfolgungen litt?«

»Ich glaube, der jetzige Herzog ist der Sohn oder Enkel,« erwiderte Ratcliffe; »aber wohinaus wollen Sie damit?«

»O, dem Himmel sei Dank für Ihre Worte!« rief Jeanie und faltete andächtig die Hände.

»Ihr Leute habt immer den lieben Gott beim Wickel,« sagte Ratcliffe. »Aber noch eins, Mädel! Der Weg bis London ist weit und führt durch Strecken, wo es nicht geheuer ist, wo sich allerhand Volks herumtreibt. Aber einem, der einen Zettel vom Vater Kliff hat, wird keiner von ihnen zwischen hier und London etwas zu leide tun; denn alle wissen recht gut, daß ich ihnen noch immer zu Gutem oder Bösem helfen kann, wenn ich auch meinem Gewerbe Valet gesagt habe. Meinen Paß kennt zwischen hier und London jeder, der auf der Landstraße vagiert.« Er gab ihr ein beschmutztes Stück Papier, auf das er schnell ein paar Schriftzeichen gesetzt hatte, und rief, als sie scheu davor zurückwich: »Nehmen Sie nur, Kind! Beißen wird es Sie nicht! Hilft's vielleicht nicht, schaden kann's auf keinen Fall! Und kommen Sie mit irgend einem unterwegs in Händel, oder werden Sie aufgehalten in schlimmer Absicht, so zeigen Sie das Ding vor! Verstehen wird's jeder, denn es ist Diebslatein, und respektieren wird's auch jeder!«

Noch einen Blick voller Seelenangst warf sie auf das schwarze, düstere Gebäude und einen Blick voll unsäglichen Schmerzes auf das gastliche Haus der guten Frau Saddletree, und dann ließ sie die Stadt hinter sich. Ohne Bekannten zu begegnen, – was ihr als wahre Wohltat erschien – gelangte sie zu den Leonards-Felsen. »Ich will alles vermeiden,« dachte sie, »was mich irre machen könnte; ist mir's doch ohnehin schwach genug zu Mute für das schwere Vorhaben; drum will ich auch so wenig sprechen wie möglich, und alles verrichten, was ich noch zu verrichten habe, so standhaft und resolut wie möglich.«

Seit vielen Jahren war eine alte Taglöhnerin in Dienst bei ihrem Vater, und auf sie durfte Jeanie sich in allem verlassen; sie hauste in einer kleinen Hütte unfern vom Pachthof und kam sogleich, als Jeanie nach ihr schickte. Ihr sagte sie, sie müsse um der Schwester willen eine weite Reise machen, und übertrug ihr für die Zeit ihrer Abwesenheit die Sorge für Haus und Vieh, und, wenn er zurückgekehrt sein werde, auch für den Vater. »Es kann sein«, sagte sie der May Hettly – so hieß die greise Tagelöhnerin – »daß er schon morgen wieder da ist; er kann aber auch eine Zeitlang wegbleiben; ich weiß es nicht; aber halte nur alles in bester Ordnung, damit er keine Ursache habe, sich über etwas zu ärgern; Gram wird er ohnehin genug mit heimbringen, wenn er kommt.«

Mitternacht wurde es, bis sie der Alten alles genau übergeben und alle Vorbereitungen getroffen hatte, die eine solche weite Reise notwendig machten. Die Alte legte ihrer jungen Herrin ans Herz, sich ein bißchen Schlaf zu gönnen. »Sie haben einen schweren Tag hinter sich, Jungfer Jeanie, und Ihr Vater pflegt immer zu sagen, Furcht und Sorge seien schlimme Kameraden in schlaflosen Nächten.«

»Ja, ja, May Hettly, gar schlimme Kameraden,« antwortete Jeanie, »es will aber gelernt sein, sich mit ihnen abzufinden, und besser schon, man macht daheim damit den Anfang als draußen in der Fremde.«

Ihr großes schottisches Umschlagetuch diente ihr als Mantel, wie auch als Kopftuch; ein Bündel enthielt alles notwendige Linnen; auch ihre Sonntagsschuhe und weißen Zwirnstrümpfe packte sie ein, um sie für etwaige bessere Gelegenheiten zur Hand zu haben; denn sie war willens, den Weg bis London barfuß zu machen, nach schottischer Frauensitte, wußte sie doch nicht, daß man in England Barfußgehen für das Zeichen der höchsten Armut ansieht ..

Aus einem alten eichenen Behälter, in dem ihr Vater seine frommen Bücher, ein Paar Schriftstücke und die beglichenen Rechnungen verwahrte, suchte sie ein paar alte Briefe hervor, von denen sie sich für ihr Vorhaben einigen Nutzen versprach. Aber der wichtigste Punkt war noch zu erledigen: die Geldfrage. Hieran dachte sie erst, als sie mit allem andern fertig war. Ohne Geld die Reise anzutreten, war natürlich ausgeschlossen. Ihr Vater hatte von dem kleinen Gute Wohl sein Auskommen; aber zu Ersparnissen war er noch immer nicht gekommen, sondern seine Habe bestand, gleich den Erzvätern in der Bibel, in seinen Herden und ein Paar geringfügigen Beträgen, die er an Nachbarn oder Verwandte geliehen hatte, von denen aber jeder schon das mögliche getan, wenn er ihm die bescheidenen Zinsen am Jahresschlusse überbrachte. Bei ihnen vorzusprechen, selbst wenn sie des Vaters Einwilligung dazu hatte, wäre nur Zeitvergeudung gewesen. Aber mit dem Vater über ihr Vorhaben zu sprechen, erschien ihr schon insofern nicht geraten, als sie fürchten mußte, er würde ihrem ganzen Vorhaben widersprechen und sie nicht fortlassen wollen; auf solches Verbot durfte sie es aber unter keinen Umständen ankommen lassen, sofern sie nicht das Schicksal der Schwester besiegeln wollte. Wohl dachte sie an Frau Saddletree und machte sich Vorwürfe, daß sie nicht schon am Morgen diesen Punkt mit ihr ins reine gebracht hätte; aber auch von ihr versah sie sich, wenn auch keiner Ablehnung, so doch allerhand Widerreden und Gegenvorstellungen, die zum wenigsten wieder Zeitverlust brachten, wenn nicht die Gefahr, daß der Vater auf diese Weise ihr Vorhaben erführe. Sie dachte an Butler, aber er war ja noch ärmer als sie, und was hätte ihre seine Bereitwilligkeit helfen können, wenn es ihm an den Mitteln fehlte, sie in die Tat umzusetzen?

Da faßte sie einen wunderlichen Entschluß, all diese Hindernisse aus der Welt zu schaffen.

Zweites Kapitel

Ein paar Stunden seitwärts von Sankt-Leonard lag das Rittergut Dumbiedike mit seinem einst in der Gegend weit und breit gefürchteten Schlosse; denn der verstorbene Laird, von dessen Schnurren und Streichen im ersten Band die Rede gewesen, führte in seinen Mannsjahren eine gar derbe Klinge, trank und fluchte, fehlte bei keinem Hahnenkampfe und keiner Edeljagd und war ohne sein strammes Roß und seine Koppel bissiger Hunde nicht wohl zu denken. Aber sein Sohn war ein anderer, und durch ihn hatte das alte ritterliche Ansehen des Geschlechts nicht profitiert, denn er war ein ebenso sparsamer, bedächtiger und weltscheuer Mann, wie der Vater gierig und geizig, roh und aufdringlich gewesen war.

Schluß Dumbiedike war kein architektonisches Meisterwerk, sondern konnte kaum für mehr als einen schlichten Landedelsitz gelten. In jedem seiner drei Stockwerke lag bloß ein einziges großes Gemach, das durch ein halbes Dutzend Fenster sein Licht erhielt, die aber alle zusammen mit ihrer spitzen Form und ihrem wuchtigen Rahmen nicht soviel Licht gaben wie heute ein einziges, richtig angelegtes Fenster. Durch einen halbrunden Turm gelangte man zu den oberen Stockwerken; das Dach war nicht mit Schiefer, sondern mit rohen, grauen Steinen gedeckt. Ein paar niedrige, verfallene Nebengebäude, durch eine verfallene Mauer mit ihnen verbunden, lagen um den Hof her, der ehedem gepflastert gewesen; jetzt sproßten Gras und Disteln munter aus den Ritzen zwischen den Fliesen. Ueber dem niedern Torwege, der in den Hof hinein führte, war etwas wie ein Wappen in den Stein gehauen, und über dem innern Eingange hing schon seit mehreren Jahren das moderne Wappenschild Lawrencs Dumbies von Dumbiedike, zum Zeichen, daß er bei seinen Vätern auf dem Kirchhofe von Newbattle in Frieden ruhe.

Zu dieser Stätte, nicht der Armut, aber des langsamen Verfalls infolge von Trägheit und Stumpfsinn ihres dermaligen Besitzers lenkte Jeanie nachts die Schritte und trat schüchtern, fast beschämt, am frühen Morgen in den Innenhof. Einem schlichten Landkinde wie ihr, das außer der bescheidenen Hütte ihres Vaters kaum ein anderes Heim gesehen, mußte Schloß Dumbiedike als stattlicher Wohnsitz und der damit verbundene Land- und Feldbesitz, der sich um dasselbe herum erstreckte, als Zeichen großen Reichtums erscheinen; aber in ihr redliches, ehrliches, schlichtes Gemüt fand jetzt, als sie das Heim ihres alten, getreuen Verehrers mit eigenen Augen erblickte, kein Gedanke den Weg, der zu den Empfindungen im Widerspruch gestanden hätte, die dort bisher gewohnt hatten, und nicht einen Augenblick fühlte sie sich in Gefahr, dem Laird, Butler oder sich selbst auch nur das leiseste Unrecht anzutun.

Da sie den Laird selbst zu sprechen wünschte, sah sie sich in den Wirtschaftsgebäuden nach jemand von der Dienerschaft um, der sie bei ihm melden könne. Aber alles war noch still auf dem Hofe. Sie klinkte eine Tür auf, die zu einem leeren Raume führte: dem einstigen Hundezwinger des alten Laird, der dem Anscheine nach jetzt als Waschküche benutzt wurde. Eine andere Tür, mit der sie es versuchte, zeigte den Raum ohne Dach, in welchem, nach ein paar vermoderten Stangen und an den Wänden herumhängenden Riemen und Federspielen zu schließen, die Falken des verstorbenen Lairds gehaust hatten. – Eine dritte Tür führte zum Steinkohlenschuppen, dessen reichliche Vorräte auf die Vorliebe des jetzigen Lairds für eine warme Stube schließen ließen. Nun kam sie an die Tür, die zu dem Stalle führte; ihren alten Bekannten, den eigensinnigen Klepper vom Hochlande, hatte sie draußen grasen gesehen, aber daß er hier seine Unterkunft hatte, bekundeten Sattel und Zaum, ihr ebensogut bekannt, die halb an der Mauer, halb auf die Streu hernieder hingen. In der andern Stallhälfte, durch einen Querbaum geschieden, stand eine Kuh, die, als sie Jeanies ansichtig wurde, ein lautes Gebrüll ausstieß. Jeanie, die ja daheim beim Vater die Kühe wartete, verstand sogleich, was das Tier wollte, trat zu seiner Krippe und schüttete ihm Futter auf. Wie alles in dem verlotterten Herrensitze, war auch der Kuhstall schlecht versorgt; in dem Augenblick aber, als sie dem Tiere Futter streute, kam die Magd hereingetrottet, die sich noch verschlafen die Augen rieb und, als sie eine fremde Person verrichten sah, was sie längst hätte verrichtet haben sollen, mit wildem Geheul, als sei ihr der Gottseibeiuns erschienen, auf den Hof hinaus rannte. »Der Kobold! Der Kobold!« schrie sie, wie besessen ..

Nun ging in dem Schlosse seit alters die Sage, es gehe darin ein Hausgeist herum, das träge Gesinde zu schrecken. Aber um so geringere Lust die Magd haben mochte, von ihrer Trägheit zu lassen, um so lauter zeterte sie jetzt auf dem Hofe, daß ein anderes Wesen sich der Kuh erbarmt hatte, die sie bis in den Morgen hinein hatte hungern lassen, und ihr Geschrei verfehlte natürlich nicht, die andern faulen Schläfer des Herrensitzes munter zu machen. Jeanie, bemüht, keinerlei Unruhe zu stiften, war hinter dem Schreihalse her auf den Hof getreten und versuchte, ihm gut zuzureden; aber schon hatte sich die alte – wie böse Zungen sagten – Busenfreundin des verblichenen und die Hausverwalterin des dermaligen Lairds aus den Federn gemacht und gleichfalls auf den Hof hinunter begeben, eine ansehnliche, korpulente Person, die zwischen vierzig und fünfzig Jahren gewesen sein mochte, als der alte Laird das Zeitliche segnete, und nun an die siebzig heranreichte. Eifersüchtig über ihr Amt und Ansehen im Hause wachend, keineswegs jedoch in Unkenntnis darüber, daß ihre Macht nicht mehr auf so festen Füßen stand wie ehedem, hatte sie ihre Nichte zu sich genommen, eben die Magd, die jetzt mit ihrem Geschrei den Hof erfüllte. So eifrig aber Jeanet Balchristie – so hieß die wackre Dame – es auch darauf angelegt hatte, den jungen Laird in ihre Netze zu ziehen, so war der Laird doch nicht zu der Erkenntnis zu bringen gewesen, daß neben Jeanie Deans auch noch eine Jeanet Balchristie auf der Welt und obendrein in größerer Nähe von ihm existiere, hatte es aber auch nicht hindern können, daß sich Jeanet Balchristie über seine täglichen Ritte nach Sankt-Leonard hinüber ihre eigenen Gedanken machte und auf Jeanie Deans einen besonderen Groll hatte. Da sie nun heute zwei Stunden früher aus dem Schlafe gerissen wurde, als sonst, war sie begreiflicherweise auch in noch schlechterer Laune als sonst, und nicht bloß erbost auf die Nichte, die sie durch ihr Geschrei geweckt, sondern noch weit erboster auf Jeanie, die der Nichte Ursache zu dem Geschrei gegeben hatte. Aber da sie die Augen noch nicht recht aufmachen konnte, erkannte sie Jeanie nicht gleich, sondern fuhr sie grob an, wer sie sei und was sie so früh hier zu suchen habe?

Jeanie antwortete: »Ich habe eine Bitte an den Laird, liebe Frau Balchristie,« aber sie sprach es sehr schüchtern, denn wie immer, wenn der Vater sie einmal zu ihr geschickt hatte, etwas zu bestellen, fürchtete sie sich vor ihrem zänkischen Wesen.

»Liebe Frau Balchristie,« wiederholte die Alte fuchswild, »wer seid Ihr denn? Da könnte jede kommen!« – »Aber kennen Sie mich denn nicht, Frau Balchristie? Ich bin ja Jeanie Deans!«

»Was? die Jeanie Deans?« rief die Alte, sich verwundert stellend, »wirklich? Jeanie Dämon müßtet Ihr eher heißen!« und sie trat dicht vor sie hin und maß sie mit boshafter Neugierde. »Habt ja mit Euerm Vater ein feines Stückchen verübt, solch armes, unschuldiges Würmchen umzubringen! Ein wahrer Segen, daß wir in Schottland noch Gesetze haben! Sonst käme Euer liederliches Stück von Schwester womöglich noch gar nicht mal an den Galgen, was doch jammerschade wäre! Und solch erbärmliches Gesindel rennt ehrlichen Leuten in aller Herrgottsfrühe das Haus ein? verlangt in aller Herrgottsfrühe zu anständigen Junggesellen geführt zu werden? Schert Euch! Hinaus! Vom Hofe!«

Jeanie, entsetzt über diese gemeine Deutung ihres Besuchs, hatte schon den Rücken gewandt, um den Hof zu verlassen, während die grobe Frau noch lauter schrie, da ging ein Fenster auf, und der Kopf des Lairds, mit dem Tressenhute des Vaters, lugte heraus, um zu sehen, was seine sonst so verschlafene Hausverwalterin so früh in solche Wut versetzte. Zu seiner nicht geringen Verwunderung sah er Jeanies wohlbekannte Figur auf dem Rückzuge aus seinem Gute begriffen, verfolgt von der Haushälterin, die ihr, den Arm in die Hüfte gestemmt, zitternd vor Wut und die Faust ballend, die gröbsten Verwünschungen zuschrie.

Er geriet außer sich vor Wut. »Satansweib!« schrie er zum Fenster hinunter, »wer gibt Dir das Recht, die Tochter eines redlichen Mannes auf meinem Grund und Boden so zu behandeln?«

Frau Balchristie merkte sofort, daß mit dem Laird nicht zu spaßen sei, denn aus seiner Trägheit kam er nur in den ernstesten Fällen, und suchte sich, so gut sie konnte, zu entschuldigen, es wäre ihr ja bloß um seine Ruhe gegangen, und die Mamsell könnte doch wiederkommen, statt ihn so früh zu stören, u. s. w.

Aber der Laird schrie: »Maul gehalten, alte Hexe! und der Teufel soll Dir ins Genick fahren, wenn ich recht gehört habe. Jeanie, Dirne, komm ins Wohnzimmer herein! Ich bin gleich unten. Kehr Dich nicht an den alten Satan!«

»Na, so schlimm war's ja nicht gemeint,« sagte Jeanet darauf zu ihr, »ich konnt's doch nicht wissen, daß Sie sich mit dem Laird besprochen hatten. Warum sagen Sie mir das nicht gleich? Ich weiß doch, wie es im Leben zugeht. Na, so treten Sie, bitte, näher!«

Jeanie wich vor ihr zurück. »Ich habe mich mit dem Laird nicht besprochen,« sagte sie, »ich habe nur weniges mit ihm zu reden, und es kann gerade so gut auf dem Hofe geschehen, wie in der Stube.« '

»Draußen auf dem Hofe?« versetzte die Alte; »aber so unhöflich werden wir doch nicht sein! Was macht denn der wackre Vater?« ,

Das Erscheinen des Lairds enthob Jeanie der Mühe, auf die heuchlerische Frage zu antworten.

»Scher Dich und sieh nach dem Frühstück,« fuhr er die Alte an; »mach auch ein tüchtiges Feuer an! Komm, Jeanie, Dirne! Setz Dich ein bißchen!«

»Nein, Laird, ich kann nicht in die Stube treten, ich habe noch einen weiten Weg heute vor, noch viele Meilen, wenn meine Füße mich tragen wollen.«

»Noch viele Meilen zu Fuß? Da sei der Himmel vor!« rief der Laird, »Jeanie, Dirne, das geht nicht! Ich sage Dir, komm herein und setz Dich!«

»Was ich zu sagen habe, kann auch hier geschehen, Laird, und die Frau Balchristie.«

»Der Teufel soll sie holen, zu schleppen hat er schon an ihr!« erwiderte Dumbiedike, »Jeanie, Dirne, viel Worte sind meine Sache nicht; aber Herr in meinem Hause bin ich und in Zucht halte ich alles, wenn mir auch mein Klepper manchmal nicht pariert. Bloß ist's mir manchmal zuwider, bis mir schließlich 'mal die Galle überläuft.«

»Ich komme, Laird,« sagte Jeanie, die Notwendigkeit, ihr Anliegen sogleich vorzubringen, erkennend, »um Ihnen zu sagen, daß ich eine Reise vorhabe, ohne Vorwissen des Vaters.«

»Ohne Vaters Wissen, Jeanie?« fragte er; »ist das recht? Das mußt Du noch einmal überlegen, Jeanie! Es ist nicht recht,« sagte er nach einer Weile, und sein Gesicht zeigte eine sehr besorgte Miene.

»Wenn ich nur erst da wäre, in London,« sagte Jeanie, in der Absicht, sich zu rechtfertigen, »da fände ich dann schon Mittel und Wege, die Königin um meiner Schwester Leben zu bitten.«

»London?« rief der Laird, außer sich, »zur Königin? Der Schwester Leben? Die Dirne ist von Sinnen!«

»Nein, Laird, von Sinnen bin ich nicht,« versetzte Jeanie; »aber nach London zu gehen, ist mein fester Entschluß, und sollte ich mich von einer Tür zur andern betteln. Was anderes aber wird mir nicht übrig bleiben, sofern Sie mir nicht etwas Geld für die Reise leihen. Es soll nicht viel sein; aber Sie wissen, mein Vater ist wohlhabend und wird nicht leiden, daß jemand, am wenigsten Sie, Laird, durch mich zu Schaden kommen.«

Der Laird traute kaum seinen Ohren, als er diese Worte hörte. Er sah starr auf den Boden und fand kein Wort der Erwiderung.

»Ich sehe, Laird, Sie wollen nicht,« sagte Jeanie, »nun, dann Adieu! Aber sehen Sie recht oft nach dem Vater! Er wird jetzt recht allein sein.«

»Wo will sie hin, die alberne Dirne?« rief Dumbiedike, indem er sie bei der Hand nahm; »ich hab's ja schon immer sagen wollen; es ist mir aber immer in der Kehle stecken geblieben,« sagte er halb zu sich selber; dann führte er sie in das Haus und in ein altertümliches Zimmer, dessen Tür er hinter ihnen abschloß und verriegelte. Jeanie, blieb, verwundert über sein Verhalten, an der Tür stehen; der Laird ließ ihre Hand los und drückte auf eine Feder in dem Wandgetäfel, wodurch sich ein geheimer Schrank öffnete. Tief in die Wand eingelassen, stand hier ein großer eiserner Kasten, den der Laird aufschloß. Darin lagen verschiedene lederne Beutel, mit Gold und Silber bis zum Rande gefüllt. Bald Jeanie, bald seinen Schatz wohlgefällig betrachtend, sagte er: »Sieh, Jeanie, Dirne, das ist meine Bank; mit Wechseln und Papiergeld, wie andere Leute, habe ich nicht gern was zu tun. Das bringt den Menschen bloß ins Malheur!« Dann schlug er einen anderen Ton an und sprach bestimmt und fest: »Jeanie, Dirne, noch ehe die Sonne untergeht, will ich Dich zur Lady Dumbiedike machen, und dann kannst Du, wenn Du Lust hast, in meiner Karosse nach England fahren.« '

»Laird! Meines Vaters Herzeleid! Meiner Schwester Schande!« rief Jeanie; »nein! Es kann nicht sein! Es wäre zu herbe Kränkung für Sie!«

»Das geht mich an, Jeanie, Dirne! Und wären Sie keine dumme Person, so würden Sie das mit keinem Worte berühren. Aber gerade um deswillen mag ich Sie nur noch lieber! Gescheit braucht bei Eheleuten bloß einer zu sein. Das reicht! Aber Ihnen ist heute das Herz schwer, Jeanie, Dirne. Drum wollen wir's heute lassen, bis Sie zurück sind. Nehmen Sie soviel Geld, wie Sie wollen. Mir kommt es ja auf den Tag nicht an.«

Jeanie hatte die Empfindung, daß es einem so wunderlichen Liebhaber gegenüber notwendig sei, sich deutlich zu erklären; drum sagte sie: »Aber, Laird, ich habe einen andern Mann lieber als Sie und kann Sie deshalb nicht zum Manne nehmen.«

»Einen andern Mann lieber als mich?« wiederholte der Laird, »wie kann das sein, Jeanie, Dirne? Du kennst mich doch schon so lange! Jeanie, Dirne! Das kann nicht sein.«

»Laird,« versetzte das schlichte Mädchen, »den andern kenne ich länger.«

»Länger? Jeanie, Dirne, das kann nicht sein! Du bist ja auf meinem Gute geboren! Aber, Jeanie, Du hast noch lange nicht alles gesehen, was ich besitze.« – Er zog ein paar Kästen in dem Wandschranke auf. »Da, sieh! Alles Gold, und hier blankes Silber. Da hast Du mein Kontobuch! Bare dreihundert Pfund Sterling! Und meiner Mutter Garderobe, und meiner Großmutter Garderobe, schwere Seidenkleider mit Spitzen wie Spinngewebe, und Ringe und Ohrbommeln dran. Es liegt alles im Sterbezimmer. Jeanie, Dirne! Geh mal hinauf und sieh Dir alles an!«

Aber Jeanie blieb fest und unerschütterlich. »Laird! Es kann nun einmal nicht sein, ich hab dem andern das Wort gegeben, und das kann ich nicht brechen.«

»Ihm das Wort gegeben?« wiederholte der Laird verdrießlich, »und wer ist's denn, Jeanie? Geh, Du hast mich bloß zum besten. Daß es so einen gibt, glaube ich einfach nicht. Du zierst Dich bloß! Sage es mir, wer es ist, und was er ist!«

»Reuben Butler ist's, der Lehrer von Libberton,« antwortete Jeanie.

»Butler? Reuben Butler?« wiederholte der Laird, außer sich in der Stube auf und ab schreitend; »der Hilfslehrer? der Sohn meines Instmanns? Na, wie Sie wollen, Jeanie! Dirnen sollen ihren Willen haben. Aber der Mensch hat ja keinen roten Heller im Sack und nichts auf dem Leibe als einen alten, abgetragenen Rock. Aber Dirnen wollen 'mal ihren Willen haben. Schön! Es hat weiter nichts auf sich!« Mit diesen Worten stieß er heftig einen Kasten nach dem andern wieder zu. »Guter Wille findet oft keinen Dank, Jeanie, Dirne! Und wohl kann einer ein Pferd zur Tränke führen; aber keine zwanzig können's zum Saufen zwingen, wenn's nicht saufen will. Aber mein Geld verschleudern, damit sich andre einen guten Tag machen, nein! nein! Das tue ich nicht.«

Jeanies Stolz empörte sich ob dieser letzten Worte. »Ich habe Euer Gnaden um nichts gebeten, das solche Auslegung verdiente. Lebt wohl, Laird! Dem Vater haben Sie viel Freundschaft erwiesen, und ich will Ihrer immer in Freundschaft gedenken.«

Sie stand auf und verließ das Gemach. Wohl rief er ihr nach: »Aber, Jeanie, Dirne! So bleib doch!« Jeanie aber, der Worte nicht achtend, ging raschen Schrittes über den Hof und begann ihre Wanderung, das Herz voll Scham und Verdruß darüber, daß ihr die kleine, voll Vertrauen erbetene Gunst wider Erwarten versagt wurde. Als sie sich auf der freien Landstraße sah, verlangsamten sich ihre Schritte. Bange Sorge, durch diese unvorhergesehene Täuschung wachgerufen, kam über sie. Sollte sie sich wirklich bis London betteln? Oder sollte sie umkehren und den Vater einweihen? Wieviel Zeit ging wieder verloren, wenn sie sich noch einmal nach Edinburg begab! Aber sie schritt langsam in der Richtung weiter, die sie eingeschlagen hattet und die die Richtung nach London war. Da klang plötzlich Hufschlag an ihr Ohr, und dann wurde ihr Name gerufen. Sich umsehend, erkannte sie, auf ungesatteltem Klepper, im Schlafrock, Pantoffeln und Tressenhut, wie er sie empfangen, den Laird von Dumbiedike! In dem Eifer, hinter ihr herzusetzen, hatte er sogar Rory Bean, den störrischen Klepper, auf den Weg gezwungen, den heute er reiten wollte! Und alles Bocken hatte dem Biest nichts geholfen, heute hatte es seinem Herrn parieren müssen. Jetzt hatte er Jeanie erreicht, und seine ersten Worte waren: »Jeanie, es heißt doch bei den Leuten, man müsse die Dirne nicht gleich beim Worte nehmen!«

Jeanie blickte nicht auf und blieb nicht stehen, aber sie sagte: »Meinem Worte, Laird, können Sie trauen, denn ich kann niemandem was anders als die lautere Wahrheit sagen.«

»Nun, dann sollten doch Sie wenigstens nicht gleich einen Mann beim Worte nehmen!« rief der Laird, »ohne Geld können Sie die Reise nicht machen, daran ist nicht zu denken. Hier haben Sie Geld,« und er gab ihr eine kleine Börse in die Hand, »gern gäb ich den Rory Bean noch drein, aber er ist ein so störrischer Racker, daß er bloß seinen Weg gehen will, ganz wie Sie, Jeanie, Dirne, ganz wie Sie!«

»Aber, Laird, wenn Ihnen der Vater das Geld auch zurückerstatten wird auf Heller und Pfennig, so möchte ich doch nicht borgen von jemand, der vielleicht was anders dafür erwartet hat.«

Dumbiedike seufzte tief. »Jeanie, Dirne, es sind fünfundzwanzig Guineen. Ihr Vater mag sie mir wiedergeben oder nicht: Sie selbst enthebe ich jeglicher Verbindlichkeit. Gehen Sie, wohin Sie wollen, tun Sie, was Sie wollen, heiraten Sie soviel Butlers Sie wollen! Und nun Adieu, Jeanie, Dirne! Adieu!«

»Laird, der liebe Gott segne Sie mit vielen, vielen frohen Tagen!« sagte Jeanie, und ihr Herz war durch die seltsame Großmut dieses seltsamen Menschen tiefer ergriffen, als es dem armen Lehrer von Libberton vielleicht recht gewesen wäre.

Er machte Kehrt, nachdem er noch einmal mit der Hand gewinkt hatte, und gab seinem Klepper die Sporen und nun muß ich freilich ihm hinterher sagen, daß ein Liebhaber, der im Schlafrock, Tressenhut und in Pantoffeln von einem störrischen Klepper im Galopp hinweggeführt wird, eine so possierliche Erscheinung abgibt, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn selbst ein Mädchen wie Jeanie, trotz alles heißen Dankes in der Brust, die schwache Regung zu seinen gunsten erstickt und zu seiner alten Liebe zurückkehrt. »Ein guter, guter Mensch,« sagte sie, ihm nachblickend, »bloß schade, daß er solch störrischen Gaul reitet!«

Drittes Kapitel

Nicht lange, nachdem sie Dumbiedike verlassen, kam sie auf eine kleine Höhe, die ihr den Blick auf Woodend und Beersheba eröffnete, mit all den Plätzen und Stätten, wo sie als Kind und Mädchen so manche frohe Stunde verlebt hatte, mit Butler und mit der unglücklichen Schwester, ihrer so innig geliebten Effie, und soviel Bitternis mischte sich jetzt in diese Erinnerungen, daß sie sich am liebsten auf den Rain gesetzt und ihren Tränen freien Lauf gelassen hätte.

»Aber was möchten Tränen helfen,« sprach sie bei sich, »hab ich nicht viel mehr Ursache, dem lieben Gott herzinnig zu danken für die Gnade, die er mir dadurch erweist, daß er einem Manne, den alles für einen Geizhals hält, das Herz erweichte? Nein! Keinen Blick mehr auf Woodend, das arme liebe Nest, wo alles, alles, selbst der Rauch, der aus den Essen steigt, mich an den trüben Wechsel der Zeit gemahnt.«

So setzte sie, ohne zu wanken, die einsame Wanderung in christlicher Ergebung fort, bis sie in die Nähe des kleinen Dorfes gelangte, in welchem der Mann ihres Herzens seines bescheidenen Amtes waltete. Es liegt am Abhang eines Hügels, ein Stück seitab von Edinburg, und zwischen blühenden Bäumen ragt die altertümliche kleine Kirche mit ihren spitzen Türmchen empor. Sie hatte sich vorgenommen, dort Einkehr zu halten, ehe sie ihre Wanderung fortsetzte, weil sie Butler für am besten geeignet hielt, dem Vater von ihrem Entschluß und von den Hoffnungen, die sie auf ihr Vorhaben setzte, Kunde zu geben. Vielleicht regte sich auch ein anderes Verlangen noch in ihrem Herzen: den Mann, ehe sie den Fuß aus Schottland setzte, noch einmal zu sehen, dem sie von Herzen zugetan war, und den sie vergeblich im Gerichtssaale gesucht hatte. Sie hatte halb und halb darauf gerechnet, daß er ihren Vater, seinen alten Freund und Wohltäter, an dem schweren Tage nicht ohne Trost und Beistand lassen werde, und wenn sie auch wußte, daß er noch immer nicht im Vollbesitz seiner Freiheit war, so hatte sie doch gemeint, es werde ihm nicht schwer fallen, sich für jenen Tag Erlaubnis zum Eintritt in den Gerichtssaal zu verschaffen. Sie war zu der quälenden Meinung gelangt, daß nur ernstliche Erkrankung den Freund von der Erfüllung dieser Pflicht habe zurückhalten können, und zitternd vor banger Sorge, erkundigte sie sich bei einer Frau, die mit dem Wassereimer auf dem Kopfe zum Bache schritt, nach der Wohnung des Lehrers.

Ihre Sorge war nicht unbegründet gewesen: Butler, von Natur schwächlich, hatte die körperlichen Anstrengungen und seelischen Erschütterungen der letzten Tage nicht überstehen können, sondern lag an schwerem Fieber krank zu Bett. Das Bewußtsein, noch immer unter Verdacht der Teilnahme an dem Porteous-Krawall zu stehen, lastete sehr schwer auf ihm, am schmerzlichsten aber bedrückte ihn. das Verbot jeglichen Verkehrs mit David Deans und dessen Angehörigen.

Das schreckliche Urteil hatte er noch am Abend des Verhandlungstages vernommen, und seitdem hatte er keinen Schlaf mehr gefunden. Die quälendsten Gedanken zermarterten ihm das Hirn; er fühlte, daß er denen, die ihm die liebsten auf Erden waren, im Lichte eines undankbaren und abtrünnigen Menschen erscheinen mußte; und wenn er auch nicht hatte hoffen dürfen, Effies Lage zu mildern, so hatte er doch vielleicht den greisen Vater vor der schweren Krankheit, in die derselbe nach der Verhandlung verfallen war, behüten können.

Als er endlich gegen Morgen ein wenig Schlaf zu finden gehofft hatte, war ihm auch dieser Trost geraubt worden durch einen widerwärtigen Gast, der ihn besuchte, und der kein anderer war als Saddletree, der eingebildete Rechtsnarr. Nachdem er sich mit Plumdamas und anderen Getreuen und Nachbarn in der bekannten kleinen Butike über die vom Herzog in London gehaltene Rede, über das gegen Effie gefällte Urteil und die für ihre Begnadigung vorhandene geringe Wahrscheinlichkeit bis in die späte Nacht hinein unterhalten und zumeist herumgestritten hatte, wobei natürlich auch mancher Tropfen den Weg in die Kehle hinunter gefunden, war er am andern Morgen mit so wüstem Kopfe aufgewacht, daß er es für geraten erachtet hatte, auf dem kleinen Klepper, den er mit ein paar nähern Bekannten zusammen hielt, einen kleinen Ritt in die Umgebung von Edinburg zu machen, um seinem Geiste die nötige Spannkraft wiederzugeben. Wie immer das Praktische mit dem Nützlichen verbindend, hatte er die Nase des Kleppers nach Libberton zu gerichtet, wo er zwei Kinder eingeschult hatte und einen Besuch bei Butler machen konnte, mit dem er sich gern einmal unterhielt.

Konnte noch etwas dem Wermut in Butlers Herzen Galle beimischen, so war es das Thema, das Saddletree für seine weitschweifige Diskussion wählte, nämlich die Wahrscheinlichkeit von Effies Hinrichtung. Jedes Wort aus dem Munde dieses Menschen drang ihm wie das Läuten der Armensünderglocke oder wie ein Eulenschrei in die Ohren.

Jeanie blieb, als sie die laute Stimme des Schwadroneurs hörte, vor der Tür stehen, und so peinlich ihr die Verzögerung war, die hierdurch für sie entstand, wollte sie doch nicht früher in die Stube treten, als bis dieser überlästige Mensch gegangen sei. Da kam die Frau mit dem Wassereimer wieder, die sie um den Weg zum Schulhause gefragt, und machte, als Butlers Wirtin, Jeanies Zögern ein Ende durch die Frage:

»Wollen Sie zum Herrn, Kind, oder zu mir?«

»Ich möchte mit Herrn Butler reden, wenn er ein wenig Zeit hat,« antwortete Jeanie.

»Dann kommen Sie doch herein!« sagte die Frau und machte die Tür auf, zu der sie herein rief: »Herr Butler, ein Mädchen ist da und möchte Sie sprechen.«

Butler war nicht wenig erstaunt, Jeanie vor sich zu sehen, die sich nie weiter als eine halbe Stunde von Sankt-Leonard zu entfernen pflegte. Mit dem Rufe: »Himmel! Es ist wohl neues Unglück geschehen!« sprang er aus dem Lehnstuhle auf, den er heute zum ersten Male mit dem Bett hatte vertauschen dürfen. Jähe Röte der Ueberraschung verdrängte die bleiche Farbe, die infolge der Krankheit sein Gesicht bedeckte.

»Nein, Herr Butler,« antwortete sie; »weiteres Unglück ist nicht über uns gekommen, außer dem, wovon Sie Kenntnis haben. Aber Sie selbst sehen recht schlecht aus!«

»Nein, nein,« rief Butler eifrig, »mir ist wohl, ganz wohl, wenn ich für Sie oder den Vater was tun kann.«

»Ganz richtig, Herr Butler, ganz richtig,« bemerkte Saddletree, »die Familie darf man jetzt nur noch nach dem Mädchen hier und dem alten Manne bemessen, denn Effie, das arme Ding, kann nicht mehr mitgerechnet werden. Aber, Jeanie, was führt Sie denn so früh nach Libberton hinaus? Sie wissen doch, daß Ihr Vater noch krank in Edinburg liegt?«

»Ich habe was vom Vater an Herrn Butler auszurichten,« antwortete Jeanie verlegen, fühlte aber auf der Stelle das Beschämende ihrer Unwahrheit und verbesserte sich: »Das heißt, ich wollte mit Herrn Butler über etwas reden, das meinen Vater und die arme Effie angeht.«

»Etwa eine Rechtssache?« fragte Saddletree; »da könnte ich Ihnen am Ende besser dienen.«

»Nein, kaum eine Rechtssache,« erwiderte Jeanie, »ich wollte Herrn Butler bloß bitten, mir einen Brief aufzusetzen.«

»Schön, schön,« sagte Saddletree, »und wenn Sie mir sagen wollen, wovon der Brief handeln soll, will ich ihn Herrn Butler in die Feder diktieren, wie es Croßmyloof mit seinem Schreiber Macht. Feder und Tinte, Herr Butler, in initialibus

Jeanie sah den Freund flehentlich an, vor Verdruß und Ungeduld die Hände ringend.

»Meinen Sie nicht, Herr Saddletree,« fragte Butler, »daß es Herrn Whackbairn kränken muß, wenn Sie dem Knabenunterrichte nicht beiwohnen?«

»Freilich, freilich, Herr Butler, Sie haben recht!« rief Saddletree und sprang auf; »ich habe den Jungen doch versprochen, ihnen beim Herrn Whackbairn einen halben Feiertag auszuwirken, damit sie sich die Hinrichtung mitansehen. Dergleichen Schauspiel ist für Kinder von gewaltigem Nutzen, denn wer kann wissen, wohin sie einmal im Leben kommen? Ach, Jungfer Deanie, ich habe mit keinem Atem daran gedacht, daß Sie da seien. Aber Sie müssen sich ja doch einmal daran gewöhnen, von der Sache reden zu hören. Herr Butler, behalten Sie die Jungfer nur so lange hier, bis ich wieder da bin. Ich bleibe keine zehn Minuten.«

Jeanie säumte nicht, die von dem widerwärtigen Menschen gegebene Frist auszunützen.

»Reuben,« hub sie sogleich an, »ich will nach London wandern, um beim König und der Königin um Effies Leben zu bitten.«

»Jeanie!« rief Butler, der vor Staunen in die Erde sinken wollte, »Sie sind wohl nicht bei Troste? Sie, und nach London wandern? Sie, und mit König und Königin sprechen?«

»Warum nicht?« erwiderte sie mit der ihr eigenen schlichten Ruhe. »sind sie denn nicht Menschen wie wir? Und haben sie nicht auch Fleisch und Blut wie wir? Und wenn ihre Herzen von Stein wären, das Schicksal meiner armen Effie müßte sie erweichen!«

»Aber die Pracht bei Hofe? Die vielen Menschen! Das Zeremoniell. Wie denken Sie, sich da Zutritt zu verschaffen?«

»Das habe ich freilich auch schon gedacht, Reuben, aber es soll mir den Mut nicht rauben; trage ich doch das in mir, was mein Herz hoch halten wird, und ich bin fast sicher, daß ich stark genug sein werde, meiner Schwester das Leben zu retten.«

»O, Jeanie,« sagte Butler, »das ist ein eitler Wahn. Es wird Ihnen nimmer gelingen, über all die Diener und Schranken hinweg den Weg zu den Majestäten zu finden, es sei denn, Sie fänden die Fürsprache irgend eines vornehmen Herrn, und selbst dann wird es noch große, sehr große Schwierigkeiten haben!«

»Vielleicht könnte ich solchen Fürsprecher durch Sie gewinnen, Reuben?«

»Durch mich, Jeanie? ach, Jeanie, Sie träumen!«

»Durchaus nicht, Reuben! Haben Sie mir nicht einst gesagt, Ihr Großvater habe vorzeiten einem Vorfahren des berühmten Mac Callumore einen wichtigen Dienst geleistet?«

»Das wohl,« sagte Butler, »und die Beweise vermöchte ich beizubringen. Ich will an den Herzog von Argyle schreiben. Er wird als guter, freundlicher Herr gepriesen und ist bekannt als ein tapfrer Soldat und aufrichtiger Freund Schottlands. Viel Hoffnung habe ich freilich auf das Gelingen meines Planes nicht, aber ich will doch kein Mittel unversucht lassen.«

»Es muß jedes Mittel versucht werden, Reuben,« antwortete Jeanie, »aber mit dem Schreiben ist's nicht abgetan. Ein Brief kann nicht bitten, nicht zu Herzen sprechen. Ein Brief ist wie die Noten, die die vornehmen Damen auf ihr Spinett stecken, leblose, schwarze Punkte, denen erst Töne Leben und Seele leihen. Uns aber, Reuben, kann nur die lebendige Sprache des Mundes helfen, andernfalls gibt es für die arme Effie keine Hilfe!«

»Jeanie, Sie haben recht,« sagte Butler, sich ermannend; »ich will festhalten an der Hoffnung, daß der Himmel treuen Herzen den rechten Weg gewiesen habe, das Leben dieses unglücklichen Mädchens zu retten. Aber, Jeanie, allein dürfen Sie diese weite, schwere Reise nicht unternehmen. Habe ich nicht heiligen Anteil an Ihnen? Darf ich dulden, daß meine Jeanie sich aufopfere? Unter so ernsten Verhältnissen müssen Sie mir das Recht des Gatten einräumen, Sie zu beschützen, Sie zu begleiten. Ja, Jeanie, dieses Recht fordere ich von Ihnen. Ich will die Reise mit Ihnen machen, will Ihnen beistehen in der Erfüllung Ihrer Pflicht gegen Ihre Angehörigen.«

»Nein, Reuben, das kann nicht sein! Denn auch eine Begnadigung stellt Ruf und Ehre meiner Schwester nicht wieder her, kann mich nicht würdig machen, die Gattin eines ehrsamen, lieb und wert gehaltenen Predigers zu werden. Was würde seine Gemeinde von seinen Predigten halten, wenn von der Schwester seiner Frau bekannt wäre, daß sie solch schrecklichen Verbrechens angeklagt gewesen sei?« ,

»Aber, Jeanie, ich kann's nicht glauben und glaube es nicht, daß Effie solche Tat verübt hätte.«

»O, Reuben, Gott segne Sie für diesen Glauben! aber die Schande wird sie nimmer los!«

»Aber nicht auf Sie, Jeanie, fällt die Schande, selbst wenn sie gerechterweise auf ihr ruhte!«

»Reuben, dergleichen trifft Kind und Kindeskind! O, wie sagte mein Vater: Der Glanz unseres Hauses ist erloschen; denn auch die Hütte des Armen hat ihren Glanz, wenn Gottesfurcht und Biedersinn darin wohnen, wenn er den guten Ruf sich erhalten hat. Doch ach! der Ruf ist von uns gewichen!«

»Aber, Jeanie! Sie haben mir doch Ihr Wort gegeben! und Sie können doch nicht daran denken, solche Wanderung ohne den Schutz eines Mannes zu unternehmen!«

»Reuben, Sie sind ein treuer, braver Mensch, und Sie würden mich, wie ich keinen Augenblick zweifle, zur Frau nehmen, trotz aller auf mir ruhenden Schmach! Aber Sie müssen doch selbst sagen, daß es jetzt nicht an der Zeit ist, von solchen Dingen zu reden. Nein! nur wenn uns fröhlichere Tage winken, könnte von so etwas die Rede sein. Sie sprechen davon, Reuben,« fuhr sie nach kurzer Zeit fort, »mir ein Beschützer zu sein? wer aber wird Sie schützen? Wer wird für Sie sorgen? Kaum einen Augenblick stehen Sie, und zittern doch schon an allen Gliedern! Wie könnten Sie die Beschwernisse solch weiter Reise auf sich nehmen?«

»O, ich bin nicht krank, Jeanie!« erklärte Butler; die Erschöpftheit aber, die ihn zwang, sich wieder in seinen Stuhl zu setzen, strafte ihn Lügen.

»Sie sehen doch, mein teurer Freund, daß ich recht habe, und daß die Natur Sie zwingt, mich allein reisen zu lassen. Es ist ein neuer Kummer, der mich unterwegs bedrücken wird,« sagte sie, nahm die Hand, die er ihr matt reichte, und blickte ihm freundlich ins Angesicht, »aber Sie müssen Ihr Leben schonen um meinetwillen, denn kann ich Ihnen nicht als Frau gehören, so keinem andern Manne. Und nun, Reuben, geben Sie mir die Papiere für Mac Callumore und bitten Sie zu Gott, daß er mich schütze!«

Er sah, daß ihr Entschluß felsenfest stand, und mußte seine Unfähigkeit, sie zu unterstützen, einräumen; so gab er ihr die Papiere, das einzige Andenken, das an seinen Großvater noch vorhanden war, an den mannhaften, schwärmerischen Bibel-Butler. Jeanie hatte inzwischen seine Taschenbibel genommen und gab sie ihm jetzt wieder. »Ich habe mit Ihrem Bleistift einen Spruch bezeichnet, der uns beiden zum Heile sein kann. Teilen Sie dem Vater alles, was ich Ihnen gesagt habe, mit; denn Ihrer Fürsorge vertraue ich ihn, und hoffentlich bekommen Sie bald Erlaubnis, ihn zu besuchen. Und, Reuben, wenn Sie mit ihm diskutieren, so lassen Sie seine Meinung gelten, um Jeanies willen! Vor allem brauchen Sie keine lateinischen Worte und Sätze, denn er mag sie nicht, er ist eben noch einer vom alten Schlage. Lassen Sie ihn nur reden, damit er sich das Herz frei mache, denn das wird ihm am ehesten Trost bringen. Und dann noch ein anderes, Reuben! Dem armen Kinde im Kerker sagen Sie – ach! ich brauche Ihr liebes Herz ja nicht erst dazu aufzufordern – ihm sagen Sie, doch nein! Von ihr darf ich nicht sprechen, denn nicht mit Tränen will ich von Ihnen Abschied nehmen. Das wäre ein schlimmes Vorzeichen, Reuben. Doch nun leben Sie wohl, Sie teurer Freund! Gott segne Sie! Adieu, adieu!«

Fast schien es, als sei die Kraft, zu reden, zu denken, zu handeln, von ihm gewichen, als sie das Zimmer verlassen; in solchem hohen Maße hatte ihre jähe Erscheinung auf den erschöpften Mann gewirkt. Als unmittelbar darauf Saddletree eintrat und ihn mit Fragen überschüttete, gab er wohl Antwort, wußte aber kaum, was er gefragt worden. Endlich erinnerte sich der rechtsgewandte Herr, daß irgendwo eine Gerichtsverhandlung angesetzt sei, bei der er nicht fehlen dürfe. Butler, froh, ihn los zu sein, griff nach der Taschenbibel, das letzte Buch aufschlagend, worin Jeanie geblättert hatte. Zu seiner maßlosen Verwunderung fiel ein Papier heraus, das einige Goldstücke enthielt. Die mit Bleistift von ihr angestrichne Stelle war Vers 16 und 25 im 37. Psalm.

»Das wenige, das ein Gerechter hat, ist besser denn das große Gut vieler Gottlosen.«

»Ich bin jung gewesen und alt geworden, und habe noch nie den Gerechten verlassen gesehen oder seinen Samen nach Brot gehen.«

Tief ergriffen von der liebevollen Zartheit, die eigne Großmut in das Gewand göttlicher Hilfe zu kleiden, drückte er die Lippen auf das Gold, mit größerer Inbrunst als je ein Geizhals. Ihr nachzueifern in gottergebenem Vertrauen, war jetzt das höchste Ziel seines Strebens, und für seine erste Aufgabe sah er es an, David Deans von dem Entschlusse seiner Tochter in Kenntnis zu setzen, und, um dem alten Manne die Aussöhnung damit zu erleichtern, wog er jedes Wort, jeden Gedanken sorgfältig ab. Durch einen Bauern aus dem Dorfe, der hin und wieder mit Deans zu tun hatte, ließ er den Brief nach Edinburg tragen und persönlich bei Deans abgeben. Welchen Eindruck er machte, werden wir in einem spätern Kapitel sehen.

Viertes Kapitel

Heutzutage ist eine Reise von Edinburg nach London ein Kinderspiel. Zu der Zeit, anno 1737, da unsre Erzählung spielt, bestand nicht einmal ein geordneter Postwagendienst. [denn der Verkehr zwischen den beiden Hauptstädten war so schwach, daß es vorgekommen ist, daß im wöchentlichen Post-Felleisen nur ein einziger Brief vorhanden war.] Es gab für den Personenverkehr nur Postpferde; doch konnten nur reiche Leute sich diese teure und dabei doch strapaziöse Bequemlichkeit leisten; allein zu reisen, durfte man wegen der großen Unsicherheit gewisser Strecken nicht riskieren, sondern mußte wenigstens ein zweites Pferd und einen Begleiter oder Führer nehmen. Der Arme war auf das ihm von der Natur verliehene Bewegungsmittel angewiesen.

Jeanie Deans war an körperliche Anstrengung von Kind auf gewöhnt und abgehärtet; mutigen Herzens wanderte sie unermüdlich vorwärts, zehn bis zwölf Marschstunden täglich, bis sie in Durham die südliche Grenze von Schottland erreichte. Bis hierher war sie unter Landsleuten gewesen, die an das schottische Umschlagetuch gewöhnt waren, und denen es nicht auffiel, daß sie barfuß ging. Je weiter sie aber nach England hinunter kam, desto öfter mußte sie spöttische Rufe und anzügliche Reden hören. Freilich fand sie es in ihrem schlichten Herzen unfreundlich und nicht löblich, eine auf der Wanderung begriffene Person aus fremdem Lande ihrer Tracht wegen zu höhnen; sie war aber klug und einsichtig genug, dasjenige, was dazu in ihrem Anzuge Ursache gab, zu ändern; sie legte ihr Plaid, das nach Schottensitte auch zugleich das Kopftuch vertrat, zusammen und in ihr Bündel und trug hinfort, wie englische Landdirnen bei der Feldarbeit, einen Strohhut, kam sich aber, wie sie späterhin oft erzählt hat, in den ersten Tagen darunter vor, als müsse sie sich zu Tode schämen, daß sie als ledige Person den in Schottland nur der verheirateten Frau zukommenden Hut trage. Auch unterwarf sie sich dem Brauche, von jetzt ab Schuhe und Strümpfe zu tragen, aber auch darüber hat sie oft erzählt, daß es lange gedauert habe, bis sie darin so gut habe gehen können wie barfuß und immer froh gewesen sei, wenn sie an der Seite der Landstraße einen Rain getroffen habe, auf dem sie sich die Füße ein wenig habe ausruhen können.

Um durch ihre Sprache nicht aufzufallen, denn auch sie war häufig schon bewitzelt worden, gewöhnte sie sich, nur wenig zu sprechen, dankte für den Gruß eines Vorbeigehenden nur durch ein Kopfnicken und suchte sich fürsorglich Herbergen aus, die einen anständigen Eindruck machten und doch nicht viel besucht waren. Sie hatte bald herausgefunden, daß der gemeine Mann in England, wenn auch nicht so zuvorkommend und freundlich gegen einen Fremden wie in Schottland, doch nicht offenkundig gegen die Pflichten der Gastfreundschaft verstieß; für ein geringes erhielt sie immer willig Speise und Trank und ein Obdach, und mancher Wirt lehnte auch dieses ab mit den herzlichen Worten: »Ihr habt noch einen langen Weg vor Euch, Jungfer, und etwas aus dem Beutel einer einzelnen Frau zu nehmen, ist meine Sache nicht. Worauf wollt Ihr Euch unterwegs, wenn Ihr allein seid, anders verlassen als auf ihn?« Es kam hie und da auch vor, daß eine Wirtsfrau, von dem bescheidenen Wesen »der netten schottischen Dirne« freundlich berührt, ihr auf eine Strecke jemand zur Begleitung gab oder ihr einen Sitz in einem Gefährt besorgte, das den gleichen Weg fuhr; und ohne daß man ihr Winke für das nächste Nachtquartier gab, wurde sie nirgends weggelassen.

In York, wo sie das Glück hatte, in der Gasthofswirtin eine Landsmännin anzutreffen, beschloß sie endlich, einen halben Tag zu rasten, sowohl um neue Kräfte zu sammeln, als um an ihren Vater und an Butler zu schreiben: eine Aufgabe, die für ihre des Schreibens wenig kundige Hand nicht leicht war und ihre Zeit brauchte. Der Brief an den Vater lautete:

»Mein teuerster Vater! – Meine Wanderung, von der Ihnen wohl Herr Butler, seinem Versprechen gemäß, Kunde gegeben, wird mir durch den Gedanken um vieles schwerer und drückender, daß ich sie ohne Ihr Vorwissen unternahm. Ich weiß, daß es der Heiligen Schrift widerstreitet, die da sagt: Das Gelübde der Tochter soll sie nicht binden ohne Bewilligung des Vaters«, aber mein Herz war von dem Gedanken ergriffen, daß ich berufen und auserwählt sei, die Schwester aus ihrer höchsten Not zu erretten; sonst würde ich, was ich getan, nicht für die größten Reichtümer der Welt ohne Ihr Wissen und Ihren Willen getan haben. Teuerster Vater! Wenn Sie den Segen des Himmels auf meine Wanderung und Ihr Haus herabrufen wollen, so sagen Sie oder schreiben Sie unserer armen Gefangenen ein Wort des Trostes. Hat sie gesündigt, so hat sie auch schwer gebüßt und gelitten, und Sie wissen besser als ich, Vater, daß, wie uns vergeben werden soll, auch wir vergeben sollen. Nicht böse dürfen Sie mir sein darum, weil ich, was sich nicht ziemt für die Jugend, ein graues Haupt bestimmen will, nach meinen Worten zu tun; aber ich bin so weit entfernt von Ihnen, und mein Herz bangt sich so sehr nach allen daheim, und es geht mir so sehr zu Herzen, daß ich wohl leicht mehr gesagt haben kann, als sich ziemt. Möge des Himmels Segen auf Ihrem Haupte ruhen, teuerster Vater! wenn Sie Ihr Lager aufsuchen oder verlassen, dann gedenken Sie in Ihrem Gebete auch Ihrer ergebenen und Sie aufrichtig liebenden Tochter Jeanie.«

In einer Nachschrift meldete sie noch, sie habe von einer braven Frau, der Witwe eines Viehmästers, von einem Mittel gegen Viehkrankheit gehört: »ein Nösel Bier, mit Seife und Hirschhorn gekocht,« das man dem Tier zu schlucken geben müsse, und das gut sei, bei der einjährigen Färse mit dem weißen Kopfe zu versuchen; »wenn es nichts hülfe, schaden könne es nichts.« Dann schrieb sie noch, in London gleich bei der Muhme, der Frau Glaß, einzukehren, deren Laden Zu finden ihr ja nicht schwer fallen werde ..

An Reuben Butler schrieb sie so:

»Geehrter Herr Butler! – In der Zuversicht, daß dies Blatt Sie bei besserer Gesundheit treffen werde, als ich Sie verließ, schreibe ich Ihnen, daß ich die große Stadt York glücklich erreicht habe und nicht müde vom Gehen, sondern im Gegenteil dadurch frisch und gestärkt bin. Ich habe gar vieles gesehen, wovon ich Ihnen noch zu erzählen hoffe, wie auch von der großen Kirche hier. Rund herum um die Stadt stehen Mühlen, die weder Räder noch Schleusen haben, sondern vom Winde in Gang gesetzt werden, was recht wunderlich anzuschauen ist. Ein Müller hat mich aufgefordert, mir seine Mühle anzusehen, aber ich bin nicht hinein gegangen, bin ich doch nicht dorthin gewandert, mit fremden Leuten Bekanntschaft anzuknüpfen. Ich halte mich auf der Heerstraße, antworte auf Grüße nur durch ein Nicken und spreche nur mit Frauen, die meines Glaubens sind, so viel mir auch daran liegt, ein Mittel ausfindig zu machen, das für Sie gut und heilsam wäre, denn man hört hier von mehr Heilmitteln sprechen, als man in ganz Schottland braucht, sich zu kurieren, und einige davon würden Ihnen sicher helfen. Lieber Herr Butler! Seien Sie fröhlichen Herzens, denn wir befinden uns alle in Dessen Händen, der besser ist als wir und besser weiß, was uns not tut, als wir. Daran, daß mir mein Unternehmen gelingen werde, zweifle ich nicht; ich will an Zweifel gar nicht denken; denn hätte ich nicht die volle Zuversicht in mein Beginnen, wie sollte ich dann das Herz dazu finden, mich in die Nähe so großer Herren mit meinem Flehen zu wenden? Wer aber sein Herz mit Mut wappnet und überzeugt ist, daß er nichts Unrechtes begeht, der findet auch durch den finstersten Tag endlich das Licht. An meine Bitten, den alten Vater und die arme Schwester zu trösten, erinnere ich nicht; denn ich weiß, schon christliche Barmherzigkeit allein wird Sie zu Beistand und Hilfe vermögen, und sie ist mehr wert als alle Bitten Ihrer ergebenen Dienerin

Jeanie Deans.

Auch dieser Brief hatte eine Nachschrift: »Wenn Sie meinen, mein teurer Reuben, es hätte sich für mich geziemt, Ihnen zärtlichere, liebevollere Worte zu schreiben, so denken Sie immerhin, sie seien geschrieben worden, weil ich Ihnen alles Gute und Liebe so recht von Herzen wünsche. Sie werden denken, daß ich recht verschwenderisch geworden sein müsse, denn ich trage jetzt Strümpfe und Schuhe. Aber hier ist es Brauch so, und barfuß gehen gilt für unanständig oder für ein Zeichen von höchster Armut: es hat eben jedes Land seine Sitten. Aber über nichts werden Sie wohl soviel lachen wie über meinen Strohhut, sieht mein rundes Gesicht darunter doch gerade so aus wie der Mittelchor in unserer Libberton-Kirche. Aber vor der Sonne schützt er vortrefflich und wehrt unanständigen Leuten, einen anzugaffen, wie wenn man eine wirrige Kuh wäre. Von London aus werde ich Ihnen wieder schreiben, wie es mir mit dem Herzog von Argyle geht. Senden Sie mir dorthin ein paar Zeilen, unter der Adresse von Frau Margarethe Glaß, Tabakshändlerin, Laden »zur Distel«, in London. Es wird mir das Herz um vieles erleichtern und meinen Mut um vieles heben, wenn ich höre, daß Sie sich wohl befinden. Meine vielen Fehler in der Schrift und auch meine schlechte Schrift entschuldigen Sie wohl gütigst, denn die Feder taugt nicht viel.«

Sie siegelte beide Briefe sorgfältig und brachte sie selbst zur Post, wo sie sich eingehend erkundigte, wann sie nach Edinburg abgingen und dort einträfen. Hierauf folgte sie gern einer Einladung der freundlichen Wirtin zum Essen und erklärte sich auch bereit, ihren Aufenthalt bis zum andern Morgen auszudehnen. Die wackre Frau war, trotzdem sie schon jahrelang den Gasthof zu den sieben Sternen in York führte, noch immer von all den vielen wunderlichen Vorurteilen ihrer Heimat erfüllt und bewies Jeanie darum auch so große Herzlichkeit, weil sie, wie Jeanie, aus Midlothian stammte; sie hatte soviel Teilnahme an der weiten Wanderung, die das Mädchen vorhatte, und erwies ihr soviel Gutes und Liebes, daß Jeanie, bei aller Vorsicht ihres Naturells, sich das Herz faßte, ihr alles zu offenbaren, was sie zu diesem Wagnis, zu Fuß von Edinburg bis London zu gehen, bestimmt hatte. Frau Bickerton – so hieß die brave Frau – schlug über all diesen schrecklichen Dingen die Hände über dem Kopfe zusammen; als sie sich aber wieder gesammelt hatte, gab sie Jeanie noch vielen guten Rat, fragte auch, wie es um ihre Geldmittel bestellt sei, die freilich zufolge der Spende, die sie ihrem Freunde Butler in die Heilige Schrift gelegt, und der Ausgaben für den Strohhut bereits bis auf fünfzehn Guineen zusammengeschmolzen waren.

Die Wirtin meinte, »wenn sie es sicher bis London brächte, möchte es wohl reichen,« und als Jeanie darauf sagte: »Sicher bis London?. O, außer dem Notwendigsten unterwegs will ich keinen Heller davon verausgaben, und es gewiß auch sicher aufbewahren.«

»Das glaube ich schon, mein Kind,« erwiderte die Frau, »aber die Straßenräuber und Wegelagerer zwischen hier und London! Bis jetzt hat Sie der Weg durch Land geführt, das von Zivilisation und größeren Ansprüchen ans Leben wenig oder gar nichts weiß, das wird aber hier anders, denn wir haben der Leute leider gar viel, die das viele, was sie zur Lebensführung brauchen, durch ihrer Hände Arbeit nicht zu verdienen imstande sind. Da versuchen sie es nun auf unredliche Weise, und ich weiß wirklich nicht, wie Sie sich weiterhin durchschlagen werden. Ja, könnten Sie acht Tage warten, da fahren unsre Wagen herauf, und ich könnte Sie dem John Bradwell anvertrauen, der Sie bestimmt in den Schwan mit doppeltem Halse nach London bringen würde. Aber nehmen Sie meinen Rat wahr, liebes Kind, und nähen Sie sich ihr Gold in ihr Leibchen ein und behalten sie in der Tasche bloß ein paar Guineen und das bißchen Silbergeld; denn an der Grenze von Pertshire, wenige Tagereisen von hier, treibt sich eine wilde Bande umher, der nichts Gutes zuzutrauen ist. Und wenn Sie in London sind, dann dürfen Sie auch nicht herumstehen und gaffen und fragen, ob jemand den Laden zur Distel wisse. Das machen Sie ja nicht, denn da würden Sie schön ausgelacht werden, und man würde gleich merken, daß Sie eben erst aus der Provinz kommen, und alles versuchen, Sie irre zu führen und zu bestehlen. Hier haben Sie die Adresse von einem ehrlichen Manne, der wohl alle ehrsamen Schotten kennt, die sich in London aufhalten; der wird Ihnen sicher sagen, wo Sie Ihre Verwandte antreffen.«

Jeanie bedankte sich bei der Frau aufs herzlichste; aber durch ihre Rede von Straßenräubern und Wegelagerern war sie so erschrocken und beunruhigt, daß sie nahe daran war zu weinen. Da aber fiel ihr ein, daß sie schon Ratcliffe vor ihnen gewarnt hatte, und sie zeigte der Wirtin den wunderlichen Paß, den ihr dieser gegeben. Frau Bickerton klingelte nicht – denn Klingeln kannte man damals noch nicht, sondern setzte eine kleine silberne Pfeife an den Mund, worauf eine Magd in die Stube trat. »Ruf mal den Aufwärter!« sagte Frau Bickerton. – Ein häßlicher Wicht mit verschmitzten Schielaugen und einem lahmen Beine zeigte sich auf der Schwelle. »Dick,« sagte die Wirtin zu ihm, »Du weißt ja auf der Landstraße Bescheid?«

»Kennst Du vielleicht so ein Ding wie das hier?« fragte Frau Bickerton und zeigte ihm das von Ratcliffe bekritzelte schmutzige Papier.

Der Aufwärter blinzelte, zog den Mund von einem Ohre bis zum andern, kratzte sich den Kopf und sagte: »Kennen? Hm, freilich, sofern es ihm keinen Schaden bringt.«

»Ihm Schaden?« fragte die Wirtin, »keineswegs, Dick; aber Dir soll's ein Glas Branntwein bringen, wenn Du uns sagst, wie es sich darum verhält.« –

»Nun, dann darf ich schon sagen, daß diesseits von Stafford jeder ordentliche Kerl auf der Heerstraße James Ratcliffes Paß kennt und ihn auch gelten lassen wird.«

»Aber was ist das für ein Mensch, James Ratcliffe?« fragte die Wirtin, »ich höre den Namen doch zum ersten Male.«

»Ja, was weiß ich?« antwortete der Aufwärter, »gemeinhin heißt er Väterchen Kliff und war in den letzten zwölf Monaten im Norden Hahn im Korbe, zusammen mit einem, den sie den schottischen Wilson nannten oder Andie Dandie; aber seit einiger Zeit ist er außer Landes, soviel ich weiß; sein Paß gilt aber trotzdem bei allen!«

Frau Bickerton gab ihm das versprochene Glas Branntwein, das er mit einem Zuge leerte, und ließ ihn gehen.

»Ich rate Ihnen, liebes Kind,« sagte sie zu Jeanie, »jedem groben Gesellen, den Sie treffen, das Stück Papier zu zeigen und es nicht aus den Händen zu lassen; es wird Ihnen sicher von Nutzen sein.«

Ein bescheidenes, aber kräftiges Abendbrot beschloß den Tag. Frau Bickerton aß tüchtig und trank ein Paar Krüge kräftigen Bieres dazu, setzte ein gutes Glas Negus darauf und klagte vorm Zubettgehen Jeanie ihr Leid, daß sie seit Jahren schon von schwerer Gicht geplagt sei, ohne zu wissen, woher sie solche Krankheit habe, von der sie doch, so lange sie oben im Schottischen gewesen sei, nie etwas gespürt habe, und von der in ihrer ganzen Familie, bis zu ihren Urvätern hinauf, nie ein Wort geredet worden sei. Jeanie hielt sich nicht für berechtigt, gegen die freundliche Frau über die Gründe, die ihrer Meinung nach die Krankheit habe, sich auszusprechen, beschränkte sich aber, trotz allem Zureden, auf ein wenig Gemüse und ein Glas frischen klaren Quellwassers.

Von Bezahlung wollte Frau Bickerton nichts hören, legte ihr nochmals ans Herz, mit dem Gelde recht vorsichtig zu sein, und sagte ihr, da sie so früh, wie Jeanie aufbrechen wollte, nicht auf den Beinen sein werde, aufs herzlichste Lebewohl.

Fünftes Kapitel

Als unsre Wandrerin am andern Morgen in aller Frühe aus dem Gasthof trat, fand sie Dick schon vor der Tür, der also entweder gar nicht zu Bett gegangen sein konnte oder mit dem ersten Hahnenschrei aufgestanden sein mußte. »He, guten Morgen, Mamsellchen!« rief er ihr nach, »nimm Dich in acht vor den Gunersbury-Felsen; wenn auch Robin Hood schon ins Gras gebissen hat, so fehlt's doch im Bewer-Tale noch lange nicht an Raubvögeln aller Art!« Jeanie sah ihm, wie wenn sie auf nähere Aufklärung warte, ängstlich ins Gesicht, aber Dick wandte sich mit listigem Seitenblicke zu seinen dürren Pferden und trällerte, während er sie mit der Striegel bearbeitete:

Der Robin war ein tapferer Schütz, Sein Pfeil schoß wie ein Feuerblitz, Und hieß Dich der Robin Rede stehn, Warum soll's Dir von uns aus besser geschehn?

In dem Wesen des Burschen lag nichts, was sie zur Fortsetzung der Unterhaltung hätte reizen können, und so setzte sie ihren Weg munter fort. Ein mühseliger Marsch brachte sie bis Ferrybridge, dem besten Gasthofe, damals wie jetzt, auf der Straße nach London von Norden her. Der Brief der Frau Bickerton, im Verein mit ihrem freundlichen schlichten Wesen, gewann Jeanie das Herz auch dieser Wirtin, die ihr günstige Gelegenheit verschaffte, mit einem Rückpostpferde bis Tuxton zu reiten, so daß sie am zweiten Tage von ihrem Aufbruch von York die größte Strecke bezwang, die sie bisher hatte hinter sich bringen können. Aber diese ungewohnte Art zu reisen, hatte sie so angegriffen, daß sie erst weit später als sonst am andern Morgen imstande war, ihre Wanderung wieder aufzunehmen.

Um 9 Uhr hatte sie die Ruinen des Newarker Schlosses hinter sich. Daß Jeanie kein Verlangen fühlte, sich in dem altertümlichen Bauwerk umzusehen, wird mir der Leser gern glauben, der meiner Charakterschilderung dieses eigentümlichen Mädchens gefolgt ist. Sie begab sich vielmehr nach dem ihr in Ferrybridge empfohlenen Gasthause, und während sie sich hier an einem Glase Milch erfrischte, trat die Magd, die sie bediente und mit aufmerksamen Blicken gemustert hatte, zu ihr und fragte sie, ob sie nicht aus Schottland sei und Deans heiße und unterwegs nach London in Gerichtsangelegenheiten sei?

Bei aller Schlichtheit ihres Charakters gebrach es ihr doch nicht an der den Schotten auszeichnenden Eigenschaft, vorsichtig im Umgange mit Menschen zu sein, die er zum ersten Male sieht, und sie begehrte von dem Mädchen, ehe sie ihm Antwort gab, zu wissen, wie sie zu diesen Fragen komme? Darauf sagte das Mädchen, es seien am Morgen ein paar Weiber hier gewesen, auch auf Wanderung begriffen, die sich nach einem Mädchen mit Namen Jeanie Deans bei ihr erkundigt und sie ihr genau beschrieben hätten.

Was sich der Mensch nicht erklären kann, hat immer etwas Beängstigendes für ihn, und so erging es auch Jeanie. Sie befragte sich umständlich nach den beiden Weibern, konnte aber von dem Mädchen nichts weiter in Erfahrung bringen, als daß die eine davon eine sehr alte, die andere noch eine junge Person gewesen sei, und daß beide Schottisch gesprochen hätten. Dadurch wurde Jeanie um nichts klüger; und von einem unerklärlichen Angstgefühl befallen, entschloß sie sich, bis zur nächsten Ortschaft Postpferde zu nehmen; da aber im Augenblick keine zur Stelle waren und der Knecht, der sie bringen sollte, lange auf sich warten ließ, besann sie sich eines andern, schämte sich ihrer Furchtsamkeit und setzte ihre Wanderung fort, zumal man ihr sagte, es sei bis kurz vor Grantham, dem nächsten Nachtquartier, das sie machen müsse, gerader Weg; dort aber käme sie an einem großen Berge, dem Gunersbury, vorbei. Darüber war Jeanie fast froh, denn Berge, sagte sie, hätte sie schon tagelang nicht mehr gesehen, und als sie den letzten blauen Gipfel aus dem Gesicht verloren, wäre es ihr zu mute gewesen, als ob der letzte Freund von ihr gewichen sei.

»Na, Jungfer,« sagte der Wirt, der gerade hinzutrat, »wenn Sie auf Berge so versessen sind, dann nehmen Sie sich nur den Gunersbury in Ihrem Bündel mit; wir würden froh sein, wenn wir ihn los wären, denn er ist der Ruin für all unsre Postpferde. Viel Glück zur Weiterreise! Sie scheinen ja ein mutiges Ding zu sein, aber ein bißchen Mut werden Sie schon brauchen können.«

»Hoffentlich treffe ich keine bösen Menschen dort?« fragte Jeanie.

»Na, Gott geb's,« erwiderte der Wirt, »aber Mangel hat's dort nicht daran, das dürfen Sie mir schon glauben. Wie Vater Kliff noch da war, haben sie bessere Zucht gehalten, jetzt marodiert jeder auf eigne Rechnung, und seitdem ist's gar schlecht geworden hierzulande. Nun, Kind, nehmen Sie einen guten Schluck mit auf den Weg. Vor Mitternacht werden Sie kaum was anderes als einen Trunk Wasser finden.«

Jeanie lehnte dankend ab und fragte, was sie schuldig sei?

»Schuldig?« rief der Wirt und wollte sich ausschütten vor Lachen, »na, das wär noch schöner! Sie haben ja kaum was verzehrt, und wenn man im Sarazenenkopfe für eine schmucke Jungfer, die nicht 'mal eine christliche Sprache redet, nicht ein Stück Brot und einen Schluck Bier mehr übrig hätte, dann täte er gescheiter, auf der Stelle einzupacken! Also noch einmal und ein andres Mal, denn aller guten Dinge sind drei, auf Ihr Wohl, liebe Jungfer, und dann Gottes Segen auf den Weg!«

Jeanie nahm von dem treuherzigen Gastwirte Abschied und setzte ihren einsamen Weg fort, hatte aber die öde Ebene, die sich am Fuße des Gunersbury dehnt und die, von Sumpf und Morast, dazwischen Gestrüpp und Buschwerk bedeckt, dort eine Art Bruch bildet, noch immer nicht hinter sich gebracht, als sich die Dämmerung einstellte. Von unsäglicher Angst vor Räubern und anderm schlimmen Gesindel befallen, beflügelte sie ihre Schritte, als sie Pferdetrab hinter sich vernahm. Unwillkürlich trat sie so weit auf die Seite, als der Sumpf neben der Straße ihr erlaubte; sie hoffte, ungesehen zu bleiben, aber als das Pferd näher kam, erkannte sie, daß ein paar Weiber drauf saßen, die eine auf einem Quersattel, die andere auf einem Reitkissen.

»Ei, guten Abend, Jeanie Deans,« rief ihr die vorderste zu, indem sie das Pferd ein wenig anhielt; »was sagst Du denn zu dem stattlichen Berge, der mit der Spitze zum Monde reicht? Meinst wohl, das sei das Himmelstor? Hinauf willst Du ja, nicht wahr? Na, vielleicht kommen wir heute nacht noch hin! Wenn bloß die Mutter nicht so faul wäre!«

Während die, die so gesprochen, sich mit halbem Leibe nach ihr herumdrehte, trieb die andere und, wie Jeanie jetzt sah, die ältere, sie zur Eile an. »Still doch,« rief sie ihr zu, »mondsüchtiger Balg! Was scherst Du Dich um Himmel oder Hölle?«

»Freilich, Muttchen, was schert man sich drum! was um den Himmel, wenn man Dich hinter sich hat; was um die Holle, wohin man immer kommt

zur rechten Zeit, fürs Feuer bereit, und zum ewigen Streit!

Na, Hengstchen, trab, trab, trab! Renne, als seist du der Besenstiel, auf dem zwei Hexen galoppieren!

Mit der Mütze am Fuß und dem Schuh auf der Hand, juchhe! Jag ich als Flamme durch Busch und Land, juchhe!«

Der Pferdetrab und die zunehmende Distanz erstickten den weiteren Gesang, aber noch eine ganze Zeitlang schallten die wilden, abgerissenen Töne über die Einöde her zu ihren Ohren. Von tausend bangen Besorgnissen gequält, blieb sie wie betäubt zurück. Sich in fremdem Lande auf so seltsame Weise, von so seltsamem Wesen ohne weitere Erklärung bei ihrem Namen gerufen zu hören, kam ihr schier übernatürlich vor. Sie setzte aber ihren Weg fort, und ihr gutes Gewissen, wie ihr Vertrauen auf die gute Sache, der sie diente, hatten ihr bald die Ruhe wieder gegeben, als sie gleich nachher wieder in Schreck und Angst gesetzt werden sollte. Aus einem Gebüsch neben der Straße sprangen zwei Männer hervor und traten ihr drohend in den Weg. Der eine, ein gedrungener, kräftiger Mensch, in einem schmutzigen Mantel, wie ihn Fuhrleute tragen, schrie sie an: »Steht und ergebt Euch!«

Der andere, eine große, hagere Figur, sagte: »Was weiß das Weib von unserm Komment? Sprich deutlich: Geld her, Dirne, oder das Leben!«

»Ich habe wenig Geld, meine Herren,« antwortete die arme Jeanie, ihnen das wenige reichend, das sie von ihrer eigentlichen Barschaft geschieden und für solchen besonderen Fall bereit hielt! »doch wenn Sie es mir armen Frauensperson nehmen wollen, dann muß ich es schon geben.« »Das langt nicht, Dirne,« rief der andere wieder, »oder meinst Du, wir trügen unsre Haut zu Markte um solcher Lappalie willen? Jeden Silberling wollen wir haben von Dir, und wenn Du nicht alles, was Du bei Dir führst, gutwillig herausrückst, dann ziehen wir Dich aus bis aufs Hemde!«

Sein Kamerad schien mit der Todesangst, die sich in Jeanies Gesicht malte, Mitleid zu haben.

»Nein, Tom,« sagte er, »das ist eine von den frommen Puritaner-Dirnen, der man aufs Wort glauben darf. Ich will Dir was sagen, Du,« rief er, dicht an sie herantretend, »guck mal zum Himmel 'nauf und sag, Du hättest keinen Heller weiter, und wir lassen Dich frei laufen.«

»Alles, was ich bei mir habe,« antwortete Jeanie, »kann ich Ihnen nicht geben, denn von meiner Wanderung hängt Tod und Leben eines Menschen ab. Wenn Sie mir aber soviel lassen wollen, um bei Brot und Wasser mich weiter zu schleppen, so will ich mich drein finden und Ihnen danken und für Sie beten.«

»Dein Gebet soll der Teufel holen,« rief der erste wieder, »auf solche Münze pfeifen wir hier!« und er machte eine Bewegung, wie wenn er Jeanie packen wollte.

In dieser äußersten Not fiel ihr Ratcliffes Zettel ein. »Haltet!« rief sie; »kennt ihr das?«

»Von Vater Kliff,« sagte der Große, nachdem er den Paß angeguckt hatte, »wir müssen sie frei passieren lassen.«

»Das wäre!« rief der andere, »Ratcliffe ist ein Abtrünniger geworden, ein Bluthund.«

»Aber nützen kann er uns allemal noch,« sagte der andere.

»Und was sollen wir machen?« fragte der andere; »haben wir nicht versprochen, die Dirne bis aufs Hemd auszuplündern und in ihr Bettelland zurück zu spedieren? Jetzt kommst Du damit, sie laufen Zu lassen?«

»Das nicht,« erwiderte der andere, seinem Kameraden etwas ins Ohr flüsternd, worauf der sagte: »Na, dann tummle Dich und schwatz nicht länger, sonst werden wir gar noch hier erwischt.«

»Du mußt mitkommen,« fuhr der erste jetzt Jeanie an.

»Gott im Himmel!« rief das Mädchen, »wenn Ihr vom Weibe geboren seid, dann seid menschlich! Haltet mich nicht auf, sondern nehmt lieber alles, was ich habe.«

»Wovor hat das Frauenzimmer Dampf?« fragte der andere wieder; »es soll ihr ja nichts passieren? wenn sie aber nicht parieren will, so schlage ich ihr den Schädel ein!«

»Tom, Du bist ein rauher Grobian. Ich sage Dir, wenn Du sie anrührst, so schüttle ich Dich, daß Dir die Knochen knacken.. Schere Dich nicht weiter um ihn, Kind,« wandte er sich an Jeanie; »ich leide nicht, daß er Dich mit einem Finger anrührt, sobald Du ruhig mit uns mitkommst. Willst Du uns aber noch länger aufhalten, dann mag er sehen, wie er mit Dir zurecht kommt.«

Jeanie, entsetzt durch diese Drohungen, erblickte in dem Anerbieten desjenigen von beiden, der ihr als der mildere erschien, ihren einzigen Schutz gegen die roheste Behandlung, der sich ein Weib ausgesetzt sehen kann. Sie folgte ihm nicht bloß, sondern hielt ihn fest am Arm, damit er sie nicht im Stiche lasse; jener aber, ein so verhärteter Bösewicht er sein mochte, schien durch solchen Beweis von Zutrauen gerührt zu werden und versicherte wiederholt, daß er nicht litte, daß ihr irgendwelches Leid geschehe.

Eine halbe Stunde lang marschierten sie nun zu dritt, die Straße verlassend, auch das Gebüsch meidend, auf einem Seitenwege bis zu einer alten, einsam gelegenen Scheune, die aber, wie man an dem herausschimmernden Lichtstrahle sah, bewohnt war. Einer der beiden Räuber klopfte an das Tor. Ein Weib öffnete, und sie traten mit der unglücklichen Gefangenen ein. Ueber einem Steinkohlenfeuer bereitete eine andere Frau eine Mahlzeit. Sie sah auf, und Jeanie sah, daß es die Alte war, die am Abend an ihr vorbeigeritten war.

»Warum bringt ihr den Balg hierher?« keifte sie; »warum habt ihr sie nicht ausgeplündert und die Straße zurückgejagt?«

»Ruhig, Blutmutter!« sagte der Lange, »wir tun Euch gern zu Gefallen, was angeht; aber nicht mehr schlecht sind wir zwar, aber so schlecht doch nicht, wie Ihr uns gern macht. Eingefleischte Teufel sind wir doch eben noch nicht!«

»Sie hat einen Paß vom Ratcliffe,« sagte der andere, »und Frank will's nicht leiden, daß man sie mißhandelt.«

»Nein, ich leide es auch nicht,« antwortete Frank, »wenn aber die alte Blutmutter sie hier eine Zeitlang festhält und dann wieder nach Schottland schafft, so sehe ich weiter nichts Schlimmes dabei.«

»Ich will Dir was sagen, Frank Lewitt,« keifte die Alte, »nennst Du mich noch einmal Blutmutter, dann tauch ich das Messer da« – und sie hielt drohend das Messer hoch, mit dem sie an dem Feuer hantiert hatte – »in Dein bestes Leibesblut!«

»Hoho!« rief Frank lachend, »es muß im Norden jetzt faul stehen, daß unsre Blutmutter bei so schlechter Laune ist!«

Kaum war das Wort aus seinem Munde, so flog, von dem wilden Weibe geschleudert, das Messer auf ihn zu. Sie hatte gut gezielt, das Messer flog dicht an seinem Ohr vorbei und blieb hinter ihm in der Lehmwand stecken; nur durch eine schnelle Bewegung des Kopfes war er dem tödlichen Wurfe ausgewichen.

»Heda, Mutter!« schrie er, sie bei beiden Armgelenken packend, »es wird gut sein, Dir wieder zu zeigen, wer hier Herr ist.« Er stieß die Alte mit solcher Gewalt rückwärts, daß sie auf ein Strohbund sank. Jetzt gab er ihr zwar die Hände frei, hielt ihr aber den Finger drohend entgegen, in der Weise etwa, wie ein Wärter eine Irrsinnige in Respekt hält. Der Eindruck, den er beabsichtigte, blieb nicht aus, denn sie getraute sich nicht, aufzustehen, sondern rang nur ihre magern, runzligen Hände in ohnmächtiger Wut und schrie und heulte wie eine Besessene.

»Mein Wort will ich halten, alter Teufel!« rief der Mann, den sie Frank Lewitt genannt hatte, »die Dirne soll nicht weiter nach London hin wandern; aber Ihr krümmt ihr kein Haar, das sage ich Euch.«

Durch dieses Versprechen aus seinem Munde schien die Alte ruhiger zu werden, und während sich ihr Geheul zu einem schwachen Gebrumm wandelte, bekam die seltsame Gesellschaft Zuwachs durch eine neue Person, eine jüngere Frau, die mit einem Satz vom Scheunentore bis zwischen die um das Kohlenfeuer gescharte Gruppe sprang.

»Oho, Frank Lewitt!« rief sie, »Du willst doch nicht unsre Mutter erschlagen? Oder der Sau, die Tom heut früh gebracht hat, die Ohren absäbeln? oder hast Du Dein Abendgebet rückwärts gelesen, um meinen alten guten Freund, den Papa Satan, herzurufen?«

Gleichwie Jeanie schon vordem die Alte erkannt hatte, so erkannte sie jetzt an der seltsamen Rede der Hinzugekommenen die andere der beiden Frauen, die auf der Straße an ihr vorbeigeritten waren und die närrischen Verse gesungen hatte; und der Leser wird nicht ermangelt haben, in ihr die Zigeunerin zu erkennen, deren Bekanntschaft er im ersten Bande gelegentlich des Porteous-Krawalls gemacht hat.

»Heda! Und wen habt Ihr denn da?« schrie sie, Tom beiseite schiebend, der aus einem zerbrochenen Geschirr Branntwein trank und auf die Alte schimpfte und die andere zu allen Teufeln wünschte – »ich glaub gar, die Tochter vom frommen David Deans aus Sankt-Leonard? Was will denn die bei nachtschlafender Zeit in unsrem Zigeunerstalle? Ist das ein Anblick für so heilige Augen? Wie tief sind doch die, so da selig in Gott sind, gesunken, meine Herren! Und die andere Schwester, die im Kerker von Edinburg? Mir tut sie ja leid, das muß ich sagen; und ich hab ihr nicht übelgewollt, sondern die Mutter, wenngleich ich auch Ursache genug dazu hätte.«

Als sie fertig war, tanzte sie zu Jeanie hin, um sie sich genau zu begucken; Jeanie aber, so entsetzt sie über all das Ungeheuerliche war, das ihre Augen hier sahen, beobachtete doch alles aufs schärfste, fest gewillt, sich keine Gelegenheit zur Flucht und auch nichts, was sie über ihre Lage und die ihr drohenden Gefahren aufklären könnte, entgehen zu lassen.

»Madge,« sagte der Lange, sich an die Tanzende wendend, »soviel Satansblut wie die Mutter, die Deine Großmutter sein könnte, hast Du nicht im Leibe; nimm das Mädel mit in Deine Kammer und laß selbst den Satan nicht hinein, und sollt er's gleich im Namen Gottes verlangen.«

»Ja, Frank,« antwortete Madge, Jeanie am Arme fassend und hinter sich herziehend, »das tu ich, denn für ein paar anständige Dinger, wie uns beide, ziemt es sich nicht, mit Tom und andern von Deinem Kaliber in solcher nächtlichen Stunde Gemeinschaft zu halten. Also schönste gute Nacht, meine Herren, und noch mehr schöne gute Tage! Schlaft, bis euch der Henker weckt, bis Satan euch am Ohre neckt, da bleibt das Land doch ohne Plage.«

Dem Impuls folgend, den ihre gestörte Phantasie ihr eingab, tanzte sie ehrbarlich zu ihrer Mutter hin, die, vom Schein des Kohlenfeuers getroffen, mit ihren greisen, von wilden Leidenschaften zerrissenen Zügen ganz so aussah wie Hekate am Höllenfeuer, ließ sich plötzlich auf ein Knie vor ihr nieder und flehte, Ton und Art eines kleinen Kindes annehmend: »Lieb Mütterchen, will Babeichen machen, will beten; komm, Mütterchen, segne mich und sprich, wie Du es früher getan – aber das ist schon lange her – Gott behüte Dein hübsches Gesichtlein!«

»Soll Dir Satan die Haut davon ziehen und sich die Schuhe damit besohlen, Du Luder!« schrie die Alte und wollte der vor ihr Knieenden mit der Faust ins Gesicht einen Denkzettel zeichnen; aber diese, wahrscheinlich durch Erfahrung klug gemacht, wich dem Schlage klug und geschickt aus. Nun sprang die Hexe auf und griff nach einer Feuerzange, und wäre nicht Frank Lewitt neuerdings ihr in den Arm gefallen, so hätte sie ihre Absicht, der Tochter oder Jeanie das Gehirn einzuschlagen, sicher ausgeführt.

»Madge!« rief er, »scher Dich Und nimm sie mit, die Muckerdirne! Verkriech Dich in Deine Höhle, sonst setzt's hier noch einen Teufelsspuk. Und Du, verdammtes Rabenaas!« herrschte er die Alte an; »nur einmal noch muckse Dich in meiner Gegenwart! und ich zerbreche Dir ein Paar von Deinen Satanskrallen!«

Madge befolgte den Rat und schlüpfte, Jeanie hinter sich her zerrend, in einen im Hintergrunde der Scheune angebrachten Verschlag, worin ein paar Schütten Stroh lagen. Durch einen weiten Spalt in der Decke drang der Mond und beleuchtete einen Packsattel, ein Reitpolster und ein paar Felleisen, die Reisegerätschaften von ihr und ihrer Mutter.

»Hast Du schon 'mal in Deinem Leben solch feines Schlafzimmerchen gesehen? Sieh nur, wie der Mond auf das frische Stroh blinkt. Ist sein süßer Strahl nicht kühl und labend? Im ganzen Narrenspital gibt's kein so schmuckes Kämmerchen, so stattlich auch das Haus von außen aussieht. Hast Du schon mal im Narrenhause gesteckt, Jeanie Deans?«

Jeanie fühlte bei der Frage, wie ihr ein Schauer durch die Glieder rann. Mühsam stieß sie ein mattes Nein! hervor, um die kranke Person nicht zu reizen, denn in ihrer schrecklichen Lage gewährte ihr die Anwesenheit selbst solcher Wahnsinnigen einen gewissen Schutz.

»Was Du sagst! Noch niemals im Tollhause? Na, es scheint fast, als schickten die dummen Michel vom hohen Rate von Edinburg bloß mich, und sonst niemand, hinein! Sie müssen's doch recht auf mich abgesehen haben! Aber weißt Du, Jeanie, verloren hast Du nichts dabei,« rief sie vertraulicher, »der Wärter ist ein bissiger Hund und macht einem den Ort zur Hölle, wenn man ihm nicht aufs Wort pariert. Ich hab ihm zwar oft genug ins Gesicht geschrieen, er sei der schlimmste Narr im ganzen Narren-Hause. Heidi! Was machen denn die da drin für Spektakel? Laß keiner sich's beikommen, den Fuß hier über die Schwelle zu setzen! So was schickt sich nicht, meine Herren! Ich setz mich mit dem Rücken vor die Tür, und mich da wegzubringen, soll keinem glücken!«

»Madge! Madge! Madge Wildfire!« schrieen die Männer draußen, »wo hast Du den Gaul gelassen?«

»Er ist beim Fressen, das arme Biest!« antwortete Madge.

»Beim Fressen?« fragte der wildere der beiden, »was soll das heißen, Kanaille? sag, wo Du den Gaul hast, oder es ist um Dich geschehen!«

»Er steckt in Gaffer Gabblenwoods Weizenfeld, und das ihr Kerle, kennt ihr doch, gelt?« versetzte sie, lachend.

»Im Weizenfeld, verrücktes Balg?« schrie Tom im wildesten Grimm. –

»Ja doch, mein feiner Galgenstrick! Lauf nur zum Dick! Was kann der Weizen dem Gaule schaden?«

»Schwatz keinen Unsinn, Madge,« rief jetzt Frank, »dem Gaule ja nicht, aber uns kann's schaden, wenn morgen das Biest auf fremder Leute Grund und Boden angetroffen wird. Geh, Tom, und schaff's her! Aber laß keine Spuren hinter Dir! Hörst Du?«

»Na, da haben wir's! Ich muß zuletzt immer den Packesel machen,« brummte Tom.

»Marsch, Du Faultier! Hast nun lange genug die Glieder geruht!« rief der andre, worauf Tom ohne weitere Einwände aus der Scheune ging.

Mittlerweile hatte sich Madge eine Stelle auf der Strohschütte zum Schlafen hergerichtet, saß aber noch immer, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, so daß sie, da die Tür nach innen zu aufging, den Eingang durch das Gewicht ihrer Person versperrte.

»List hilft durchs Leben, Jeanie, und Mausen auch,« schwatzte sie, »wenn's auch die Mutter nicht glauben mag. Wer käme wohl auf den Einfall, den Rücken als Riegel zu brauchen? Stärker sind ja die Riegel im Kerker von Edinburg freilich! Einen so tüchtigen Schmied wie in Edinburg scheint's wirklich nirgendswo mehr zu geben. Was für Stangen und Schlösser und Angeln und Riegel der schmieden kann! O, und die Zwangsjacken, die er macht, sind auch nicht schlecht! Teufel! schneiden einem die in die Knochen! Die Mutter hat 'mal einen prächtigen Zwangsgurt gehabt. Ach, wie gern hätt ich Kuchen drauf gebacken für meinen kleinen Balg! Die wären doch sicher schön knusprig geworden! Aber, Jeanie! sterben müssen wir ja doch alle 'mal! da hilft alles nichts.. Ihr Puritaner seid doch rechte Schafsköpfe! stellt euch den Himmel vor wie eine Hölle; bloß damit ihr die Erde nicht gar so ungern verlaßt! Aber das Narrenhaus, wovon ich eben gesprochen, Jeanie, das rat ich keinem, keinem, Jeanie! und ich will weder Gutes davon reden noch Böses! Aber Du kennst doch das feine Lied:

Ich saß in dunkler Narrenzelle,


Ums Handgelenk klirrte die Schelle,


Ich war noch keine zwanzig alt,


Da hat mir die Peitsche ums Ohr schon geknallt!

Da mußt ich fein fasten und beten,


Fein zupfen und stampfen und kneten,


Da mußt ich sein beten und fasten,


Fein sputen, fein schuften, fein hasten.

rallala! Trallala! Jup heidi, jup heida!

Jeanie, schade, daß ich heut ein bißchen heiser bin und nicht, wie sonst, fein singen kann! Aber komm, wir wollen jetzt schlafen!«

Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken, und Jeanie, die sich auch nach einem Augenblick Ruhe sehnte, um über Flucht und Mittel dazu zu sinnen, vermied ängstlich jede Störung. Aber Madge hatte kaum einige Minuten genickt, so kam der unstete Geist wieder über sie. Den Kopf emporrichtend, schwatzte sie, aber leiser, bis zuletzt die Ermüdung der ungewohnten Reise zu Pferde sie übermannte und ihre Stimme zu einem bloßen Lallen machte. »Weiß gar nicht, was mich heut so müde macht! Schlaf doch auch sonst erst, wenn Mond vom Himmel lacht. Und nun tritt er gar voll ans Firmament mit seinem großen silbernen Wagen, ach! wie oft ich da lustig getanzt, das ist nicht zu sagen! Aber es kamen auch Tote gesprungen, haben gar wohl mitgesungen, zum Beispiel John Porteous und noch einer, den ich gar gut gekannt hab, ein kleiner, lieber Kerl ist's gewesen, aber die hab ich bloß, als ich lebte, gekannt, war nämlich 'mal tot schon, Du dummer Fant!«

Und nun sang die Irre mit leiser Stimme, und doch gar wildem Klange:

Fern überm Meer auf dem Kirchhofe ruht


Mein bleichendes Gebein,


Und was sich mit Dir jetzt unterhält,


Ist bloß der Geist allein!

»Aber, Jeanie!« faselte sie weiter, »es weiß eigentlich niemand, was tot ist und was lebt, wer im Feenland oder hienieden wandelt. Dann und wann glaub ich, mein Kind sei tot, sie haben's begraben, mit Wangen so rot, ach! wie oft hab ich's geschaukelt auf meinen Knien, seit sie es haben begraben! und hätt ich's je wieder können anziehn, wenn's gewesen wär tot mit Wangen so rot? Nein, Jeanie, nein! So was kann ja nicht sein!«

Da war es plötzlich, als träte etwas aus ihren Tränen deutlicher hin vor sie; denn sie schrie auf einmal auf: »Ach! weh mir! weh!« Dann aber versank sie endlich, unter Flüstern und Schluchzen, in festen Schlaf, wie ihr tiefes Atemholen verriet, und Jeanie sah sich mit ihren trüben Betrachtungen allein.

Sechstes Kapitel

Jeanie erkannte bald, so trübe auch das Licht war, das durch den Spalt in ihren Verschlag fiel, daß es von hier kein Entrinnen gab. Freilich war oben in der Wand eine Luke, aber sie war so schmal, daß es unmöglich war, sich hindurchzuzwängen, selbst wenn es ihr hätte gelingen können, bis dort hinauf zu klettern. Mißglückte die Flucht, so mußte sie sich schlechterer Behandlung gewärtigen, als sie schon hatte, und ehe sie also solches Wagnis unternahm, hielt sie es für klüger, eine günstigere Gelegenheit zu erspähen.

In dieser Absicht näherte sie sich der Lehmwand, die den Verschlag von der großen Scheune schied; einen Spalt in derselben, den ihr Auge zufällig fand, suchte sie nun mit den Fingernägeln behutsam zu erweitern, um einen Blick auf die Alte und auf die Räuber zu gewinnen. Bei der halberloschenen Glut saßen sie in eifriger Unterhaltung, die schreckliche Alte und der wilde Mann. Der Anblick machte ihr das Blut gerinnen, denn ein Gesicht übertrumpfte das andere in seinem Ausdrucke verhärteter Bosheit und Tücke.

Aber ihr Gottvertrauen hielt Jeanie aufrecht und bei klarem Verstande. Sie gedachte der Worte des heiligen Sängers: »Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.« Und so gewann sie, trotz der Qual ihrer Lage, Fassung genug, den größten Teil des für sie bedeutungsvollen Gesprächs der beiden grausen Menschen zu belauschen, so leise dasselbe geführt wurde und so sehr es durchsetzt war mit Rotwelschworten.

»Du siehst, Weib,« sagte Frank, »daß ich Dein wahrhafter Freund bin. Daß Du mir damals die Feile zustecktest, die mir den Weg aus dem Loche in York zur Freiheit bahnte, vergeß ich Dir nicht; und Deinen Auftrag hab ich ausgeführt, ohne nach den Gründen zu fragen. Eine Liebe ist der andern wert. Madge, die immer wie ein Satan spektakelt, ist jetzt still, und Tom ist auf der Suche draußen nach dem Klepper. Den Augenblick, wo wir allein sind sollst Du wahrnehmen, mir reinen Wein darüber einzuschenken, wie es sich mit der Muckerdirne verhält, denn der Satan soll mir in den Brägen fahren, wenn ich leide, daß ihr was Uebles angetan werde, zumal sie vom Vater Kliff den Reisepaß bekommen hat.«

»Frank,« versetzte die Alte, »Du bist ein braver Kerl, aber für ein Handwerk, wie wir es treiben, zu weichen Gemüts. Das wird Dich noch ins Verderben stürzen. Paß auf! Ich seh Dich noch rücklings vom Hollbourn-Berge purzeln, weil Dich irgend ein Wicht verpetzt hat, dem Du das Messer nicht rechtzeitig in die Gurgel stießest.«

»Damit beschwatzt Du mich nicht, Alte!« versetzte er, »denn manchen netten Jungen, den ich gut kannte, haben sie schon beim Kragen genommen im ersten Sommer, den ich auf der Landstraße zubrachte, und bloß deshalb, weil er zu flink mit seinem Messer hantierte. Zudem könnte man ja, wenn man soviel auf dem Gewissen herumschleppte, sich keine zwei Jahre mehr in der Welt herumschleppen! Drum sage mir, wie das zusammenhängt, kurz und bündig, und was geschehen muß, um Dir auf anständige Manier zur Hand zu gehen!«

»Na, Frank, sollst's wissen,« antwortete die Alte: »aber vorerst nimm einen Schluck von dem Kümmel da, es ist eine gute Holländer Sorte.« Mit diesen Worten langte sie aus ihrer Tasche eine bauchige Flasche und goß dem Räuber einen tüchtigen Schluck in die Kehle, der ihm trefflich mundete. »Frank, auf einem Bein steht keiner, und doppelte Schnur hält besser als einfache! Also trink noch einmal!«

»Nein, nein!« wehrte er. »Will Dich ein Weib zu Schlimmem verleiten, dann ist's das erste, daß sie den Mann zum Trinken beschwatzt. Hol aber der Teufel allen Branntweinsmut! Was ich tue, will ich nüchtern tun. Dann wird's bloß um so besser.«

Ohne weitere Versuche, ihn zu beruhigen, sagte nun die Alte: »Nun, das Mädchen, weißt Du, ist auf dem Wege nach London.« Von dem Ende des Satzes konnte Jeanie weiter nichts als das Wort Schwester hören.

»Nun, das ist doch aller Ehren wert von dem Mädel,« meinte der Wegelagerer, so daß es Jeanie verstehen konnte, »ich möchte bloß wissen, was die Sache Dich angeht.«

»Gerade genug, sollt ich meinen. Entgeht das Balg in Edinburg dem Galgen, dann heiratet sie doch der Robertson.«

»Und was kann Dir dran liegen?«

»Was mir dran liegt, Du Tropf?« versetzte die Alte, »viel, sage ich Dir, viel; und ehe ich das zugebe, eher erwürge ich sie mit meinen beiden Händen; Madges Recht soll Madges Recht bleiben!«

»Madges Recht? .Tragen Dich Deine alten Augen nicht weiter? Meinst Du denn, der nähm ein albernes Stück, wie die Madge, zum Weibe? wenn es zutrifft, was Du von ihm gesagt, glaub ich's in aller Welt nicht, daß er es täte! Donner und Doria! Ein glorioser Einfall, ein Kalb wie die Madge, zur Frau zu nehmen!«

»Was redst Du, Du Beutelschneider, Du ausgefeimter Spitzbub, Du Galgenvogel, Du Lumpenmatz! Und wenn er sie nicht nehmen sollte, muß dann der andern der gebratene Täuberich ins Maul fliegen? Um keines andern als seinetwillen bin ich zur Bettlerin, und Madge, mein Kind, reif fürs Narrenhaus geworden! Aber ich weiß was von ihm, das ihn an den Galgen bringt, und wenn er tausend Leben hätte! An den Galgen! Ja, an den Galgen!« – Bei den letzten Worten fletschte sie grimmig die Zähne und rollte wild die Augen.

»Und warum bringst Du ihn nicht an den Galgen, ja, an den Galgen,« äffte Frank ihr höhnisch nach. »Darin läge doch Verstand, mehr Verstand, als Dein Mütchen zu kühlen an ein paar harmlosen Weibsbildern, die weder Dir noch Deiner Tochter was zuleide getan haben!«

»Weder mir noch ihr was zuleide?« wiederholte wild die Alte; »so, und die Rache, die kaufst Du für nichts?«

»Mag ihn der Teufel sich selber holen, wenn er Appetit nach ihm hat,« rief Frank, »aber hängen lasse ich mich, wenn mir die Brühe passen sollte, worin er ihn schmort.«

»Rache!« zischte die Alte, »Rache ist der schönste Lohn, der leckerste Bissen, mit dem uns Satan traktiert! Ha, wie hart hab ich dafür gekämpft, gelitten und gesündigt, und die Rache muß ich kosten, sonst gäb's keine Gerechtigkeit, mehr auf der Erde, und weder im Himmel noch in der Hölle!« Frank hatte sich mittlerweile seine Pfeife angesteckt und hörte die Wutausbrüche der alten Hexe mit Seelenruhe an. Um Aergernis daran zu nehmen, dazu war er zu abgehärtet im Bösen, und die leidenschaftliche Kraft zu fassen, die sich darin zum Ausdrucke brachte, dazu war er zu gleichgültigen Charakters, wenn es ihm nicht vielleicht auch an Verstand dafür fehlte.

»Aber, Mutter,« sagte er nach einer Weile, »dabei bleibe ich trotz alledem: wenn Du Dich durchaus rächen willst, dann läg doch der Kerl näher als die beiden Dirnen!«

Mit der Gier eines dem Verdursten nahen Wesens sog sie den Atem hinter: dann rief sie: »Ich wollt, ich könnt's! Ich wollt, ich könnt's! Aber ich kann's nicht, nein! Ich kann's nicht!«

Und warum kannst Du's nicht? He?« fragte Frank; »eine Lappalie war's, ihm wegen der Porteous-Geschichte zum Stricke zu helfen! Gott verdamm mich! Mehr Aufhebens könnten die in London auch nicht machen, wenn er die ganze englische Bank ausgeraubt hätte!«

»Ich kann's nicht,« wiederholte die Alte; »an dieser welken Brust hab ich ihn genährt,« – und sie kreuzte die Hände über der Brust, wie wenn sie ein Kind dran hielte – »und wenngleich er sich als eine Natter erwiesen hat, als ein böses Subjekt, mir und den Meinigen zum Unglück, wenn er auch mich zur Gesellin des Satans gemacht hat, wenn's einen Satan gibt, so kann ich ihm doch nicht ans Leben, nein! ich kann's nicht! Ich kann's nicht! Gedacht dran hab ich,« sagte sie, wie von einem Schauder geschüttelt, »auch versucht hab ich's; aber es war das erste Kind, das ich an der Brust hatte, und was ein Weib fühlt für ein solches Wesen, davon hat kein Mann einen Begriff.«

»Aber, Mutter, es heißt doch, gegen andre Kinder, die Dir in den Weg gerieten, hättst Du kein Mitleid gekannt? Ruhig, ruhig,« rief er hart, »hier bin ich Herr, und Auflehnung leide ich nicht!«

Die grimme Hexe hatte wieder nach dem Messer gegriffen, das an ihrer Hüfte steckte, ließ es aber, die Hand öffnend, fallen und rief mit teuflischem Grinsen:

»Machst wohl Witze, Junge? Wer wird Kinderchen anrühren? Madge, das arme Ding, hat Unglück gehabt mit dem einen, und das andre.« Was nun folgte, sprach sie so leise, daß Jeanie, so angstvoll sie auch lauschte, kein Wort verstehen konnte, als am Schlusse: »und so hat's, meines Wissens, Madge in ihrem Wahnsinn in den See geschmissen!«

Madge, die, wie gemeinhin Geisteskranke, einen lückenhaften Schlummer hatte, fuhr auf und rief: »Das lügst Du, Mutter! In den See geschmissen hab ich's nicht.«

»Still, Du Satansbalg!« keifte die Alte, »wirst die andre Dirne noch munter schreien! Wenn sie nicht gar schon gehorcht hat!«

»Das wäre schlecht!« rief Frank Lewitt und stand auf, um der Alten zur Tür zu folgen, die nach dem Verschlage führte.

»Steh auf, Balg,« schrie sie der Tochter zu, »oder ich renn' Dir das Messer durch die Türfüllung in Deinen Narrenbuckel!«

Es schien, als wenn sie ihre Drohung wahr machen wollte, denn sie fuhr mit dem Messer in einen Spalt hinein, und im andern Augenblicke schrie Madge auf, wich von ihrem Platze, und die Tür ging auf.

Die Alte hielt ein Talglicht in der einen, ein Messer in der andern Hand; der Räuber schritt ihr hinterher, ob in der Absicht, eine Gewalttätigkeit zu verhindern oder mit auszuführen, war zweifelhaft. Jeanies Retterin in diesem Augenblicke höchster Gefahr wurde ihre Geistesgegenwart; sie besaß Willensstärke genug, sich wie eine Schlafende zu stellen und, trotz ihres Schrecks, auch beim Atemholen den Anschein tiefster Ruhe zu wahren. Die grimme Alte fuhr ihr mit dem Licht vor den Augen hin und her, und die Furcht, die Jeanies Herz erfüllte, war so stark, daß sie meinte, die Gestalten der beiden feindlichen Personen durch die festgeschlossenen Lider zu erkennen; und doch wich die Kraft, sich nicht zu verraten, nicht von ihr.

Der Räuber betrachtete sie eine ganze Weile mit scharfem Blicke. Dann stieß er die Alte zurück und ging ihr hinterher. In der Scheune sagte er, zu Jeanies nicht geringer Beruhigung:

»Die Muckerdirne schläft ganz fest, als ob sie bei sich zu Hause im Bett läge, und nicht in solcher Höhle auf Stroh. Der Satan soll mich bei lebendigem Leibe holen, wenn ich begreife, was Dir's nützen soll. Immerhin will ich nach wie vor zu meinen Freunden halten und ihnen zu Gefallen sein, wo und wie ich kann; ich sehe ja, es ist ein schlechter Streich, aber es wird sich vielleicht machen lassen, daß ich sie bis zum Strande bringe und in Toms Boote drei bis vier Wochen halte, wenn Dir das recht ist? Aber daß ihr jemand was antut, Alte, das leide ich nicht, sei es wer es sei. Schlecht ist's ja, was Du vorhast, und grausam erst recht; und mir wär's schon lieber, Du und er, und Madge, wären mitsammen da, wo der Pfeffer wächst.«

»Aber schwatz doch keinen Unsinn, Junge,« erwiderte die Alte, »Du bist ein Gauner und bleibst einer, und recht willst und mußt Du eben behalten, das weiß ich ja. Mir liegt nichts dran, ob sie eine Stunde früher oder später in den Himmel hinauf kutschiert, ich pfeife drauf, ob sie krepiert oder länger noch in Psalmen flötet. Bloß die Schwester! Die Schwester!«

»Gut, Alte, und kein Wort mehr drüber! Tom kommt. Legen wir uns aufs Ohr und schlafen wir eine Stunde. Es wird uns gut tun.«

Sie warfen sich auf die Streu, und von jetzt ab herrschte Ruhe in der Scheune. Jeanies Augen fand der Schlaf noch lange nicht. Als der Tag graute, hörte sie, wie die beiden Räuber ihr Lager verließen, nachdem sie noch eine Zeitlang mit dem alten Weibe getuschelt hatten. Das Bewußtsein, jetzt nur mit Personen des eignen Geschlechts zusammen zu sein, gab ihr eine gewisse Beruhigung, und sie widerstand dem Bedürfnis, zu schlafen, nicht länger.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie wieder erwachte. Noch immer war Madge Wildfire in dem Verschlage, sagte ihr aber gleich mit der ihr eigenen irren Lebhaftigkeit guten Morgen.

»Du, weißt Du, Mädel, während Du im Lande der Träume wärest, sind hier schnurrige Dinge vorgegangen. Die Frone waren da; mein Muttchen haben sie weggeholt, wegen dem Weizenfelde, worin der Gaul gefressen hat. Sieh doch bloß, was für Hunde diese englischen Kerle sind, was für ein Wesen sie machen um ein paar Körner und ein paar Halme! gerade als ging's um Rebhühner und Hasen. Nein, Mädel, komm, wir wollen ihnen einen Streich spielen, wenn Du Lust dazu hast; wollen uns ein bißchen draußen im Freien umsehen. Hei! werden die einen Lärm anheben, wenn sie uns beide nicht mehr finden, aber um die Mittagszeit können wir wieder daheim sein, jedenfalls doch vor Einbruch der Nacht und einen Heidenspaß wird's setzen; komm, Mädel, komm! Oder willst Du erst frühstücken und Dich dann noch ein Weilchen aufs Stroh hauen, ist's mir auch recht! Brauchst Dich aber nicht vor mir zu fürchten, kannst ruhig mitgehn; ich tue Dir nichts an.«

Jeanie beteuerte, keinen Appetit zu haben, weder auf Speise noch auf Trank; und sie hätte gegen den Vorschlag, die Scheune zu verlassen, auch dann noch keinen Einspruch erhoben, wenn Madge Wildfire nicht bloß eine gutmütige Irre gewesen wäre, sondern wirklich gerast hätte. In der Hoffnung, sich durch solche Verstellung keiner Sünde schuldig zu machen, redete sie ihr sogar zu, sich gar nicht lange in dem Verschlage mehr aufzuhalten, sondern hinaus in den grünen Wald zu schweifen.

»Ich denke mir, Mädel,« sagte Madge, »daß es Dir nichts schaden wird, wenn Du der Sippe hier ein bißchen aus dem Gesichte kommst. Ich will ja nicht sagen, daß es böse Menschen seien, aber sie sind doch wunderlich, und seit wir in solcher Umgebung sind, Mutter und ich, kommt's mir immer vor, als seien wir gar nicht mehr gut daran.«

Hastig griff Jeanie nach ihrem Bündel und lief hinter ihrer Kameradin her, in den Wald hinaus; aber so sorglich ihre Augen spähten, wenn sie freien Blick auf das Bruch gewann, von Menschen oder einer menschlichen Behausung war nichts zu sehen; hin und wieder war wohl der Boden bebaut, aber zumeist sah sie bloß Gestrüpp oder Sumpf.

Schmeichlerisch, wie eine Wärterin zum Kinde spricht, das sie ihrem Willen gefügig machen will, fragte sie Madge, als sie erkannte, daß sie in dieser Wildnis keine Aussicht habe, ihren Weg wieder zu finden, ob es nicht besser sei, auf die Straße zu gehen? auf einem hübschen, breiten Wege lasse es sich doch besser ausschreiten als hier zwischen Dornen und Disteln.

Madge aber blieb, als sie diese Frage hörte, jäh stehen und heftete auf Jeanie einen argwöhnischen Blick, als errate sie, was diese in Wirklichkeit wolle. »Aha, Mädel!« rief sie, »hast wohl Lust, mich aus meinen Wäldern zu locken? Willst wohl Deinen Kopf durch Deine Füße in Sicherheit bringen?«

Einen Augenblick war Jeanie unschlüssig, ob sie der Andeutung nicht auf der Stelle folgen und ihr Heil in der Flucht suchen solle; aber sie wußte nicht, nach welcher Richtung sie sich wenden müßte, und war ihrer Sache auch insofern nicht sicher, als ihr die Wahnsinnige an Körperkraft doch vielleicht überlegen war. Darum leistete sie vorderhand noch Verzicht auf die Ausführung des Gedankens, der sie, je weiter der Tag vorrückte, desto hartnäckiger beschäftigte. Madge lief sehr schnell; und ihre Gedanken liefen ebenso schnell von einem Gegenstande zum andern, so daß sie bald wieder anfing, allerhand durcheinander zu schwatzen.

»An so schönem Morgen ist's doch gar zu schön im Walde, ach! und viel schöner als in einer Stadt. Hier schreit kein Rudel zerlumpter Rangen hinter einem her, als ob man ein Wundertier war, bloß weil man anders angezogen ist als sonst alles in der Stadt und keine so bleiche, häßliche Fratze hat. Freilich, Jeanie! auf Kleid und Fratze soll man sich nie was zu gute tun, das sind bloß Fallstricke, sonst hab ich viel drauf gehalten, Jeanie, gar viel! Aber was ist dabei herausgekommen für die arme Madge?«

»Weißt Du denn auch den Weg, Madge?« fragte Jeanie aus Furcht, sie werde sich noch tiefer in den Wald hinein und schließlich gar von der Heerstraße so weit verirren, daß es ihr nicht mehr möglich sein möchte, sie wieder aufzufinden.

»Ich, und den Weg nicht kennen?« rief Madge, hell auflachend; »hab doch lange genug im Walde gehaust, daß ich Weg und Steg drin kennen muß! Freilich ist's gewesen vor dem Unglück, das über mich kam, und da könnt ich wohl manches vergessen haben; aber es gibt Dinge, die vergißt ein Mensch nie, und Madge vergißt ihren Wald im Leben nicht, das kann ich Dir sagen, Mädel!«

Sie gerieten immer tiefer in das Dickicht hinein und kamen an eine Stelle, wo um einen kleinen Rasenhügel herum die Bäume eine Art Rundell bildeten. Da geriet Madge plötzlich ganz außer sich, schlug die Hände vor das Gesicht und fing an, mörderlich zu schreien; dann sank sie wie ein Klotz über den Hügel hin und blieb darauf liegen.

Jeanies erster Gedanke war, den günstigen Moment für die Flucht wahrzunehmen; im andern Augenblick aber siegte ihre Menschenliebe über diesen selbstsüchtigen Drang; es erschien ihr gewissenlos, die arme Wahnsinnige ohne Beistand hier umkommen zu lassen, und mit einer, in ihrer Lage bewunderungswürdigen Aufopferung blieb sie und bemühte sich um das arme, verlorene Geschöpf, suchte es zu trösten und geistig und leiblich aufzurichten. Nach Aufwendung vieler Mühe gelang es ihr endlich, und da nahm sie mit Erstaunen wahr, daß sich die sonst so blühende Farbe von Madges Gesicht in Leichenblässe verwandelt hatte, und daß ihr Gesicht in Tränen schwamm. Jeanie fühlte sich tief durch diesen Anblick ergriffen, um so mehr als sie in dem wild umherschweifenden Gemüte der armen Irren eine gewisse Zuneigung durchschimmern sah, die von ihr Dankbarkeit forderte.

»Laß mich allein! Laß mich allein!« rief Madge, als ihr Schmerz zu schwinden begann; »mir ist's wohl, wenn ich weinen kann. Tränen sind eine Seltenheit bei mir, sie kommen nur ein paarmal im Jahre; dann gehe ich zu diesem Rasenhügel, ihn damit zu netzen, weil vom Tränennaß die Blumen am schönsten gedeihen und das Gras das lieblichste Grün annimmt.« »Aber, Madge, was ist Dir nur?« sagte Jeanie; »warum weinst Du denn so bitterlich?«

»Ach, Mädel,« klagte die Irre: »dazu hab ich wohl Grund, gar tiefen Grund! Mehr, mehr als mein armer Sinn tragen und aushalten kann. Warte bloß ein Weilchen noch, Mädel, dann will ich Dir alles, alles sagen, wie es gewesen. Denn, Jeanie, weißt Du, ich bin Dir gut, glaub's mir, Du hast so was Sanftes, und doch so was Festes an Dir, und alle Leute in Edinburg haben bloß Gutes von Dir gesprochen, und ich denke immer noch an den Trunk Milch, den Du mir damals gabst, als ich vierundzwanzig Stunden lang auf Arturs Sitz herumgestiegen war, um nach einem Schiffe zu sehen, das jemand von der Küste hinweg trug.«

Jetzt erst besann sich Jeanie darauf, daß ihr einmal früh am Morgen ein irres, halbverhungertes Mädchen in den Weg gekommen war, dicht vor ihres Vaters Hütte, über das sie sich erst erschrocken, das sie aber dann, aus Mitleid, mit Speise und Trank gestärkt hatte; und dieser Zug von Barmherzigkeit sollte ihr jetzt zum Segen gereichen ..

»Ja,« sagte Madge wieder, »ich will Dir alles sagen, alles, wie es zugegangen ist, denn Du bist eines frommen Mannes Tochter und kannst mir vielleicht den Weg zeigen, den ich wandeln muß; denn lange genug bin ich in den sengenden Wüsten des Aegypterlandes herumgeirrt und in den Wildnissen des Berges Sinai, und es hat mir nicht zur Freude gereicht, auch nicht zum Troste. Aber, Mädel, wenn meine Gedanken darauf geraten, dann überkommt mich die Scham und ich möchte die Lippen schließen für immer ..« Sie blickte in die Höhe und lächelte. »Sonderbar! Ich habe mit Dir in den paar Minuten mehr Gutes gesprochen, als ich's mit der Mutter in ebensoviel Jahren nicht zu Wege brächte! Manchmal möcht ich's, manchmal drängt's mich dazu; aber dann fährt der Satan über mich und fegt mir mit seinen schwarzen Fittichen über die Lippen, daß all meine guten Vorsätze zum Teufel gehen, und dann kommen mir wieder die sündigen Lieder ins Gedächtnis, und mein Sinn neigt sich zu Leere und Eitelkeit.«

»Such Dich doch zusammenzunehmen, Madge,« mahnte Jeanie die Arme, »und klaren Sinnes zu werden, dann wird's Dir auch leichter ums Herz sein. Widerstehe nur dem Teufel tapfer, und er weicht von Dir! Mein frommer Vater sagt immer, es sei kein Teufel so arg wie unsre eignen unstäten bösen Gedanken.«

»Mädel,« rief Madge, in die Höhe fahrend, »das ist wahr, nur allzu wahr, und drum will ich gleich einen Weg gehen, wohin mir kein Teufel folgen kann. Aber Du wirst ihn gern mit mir gehen, bloß muß ich mich an Deinem Arme festhalten, denn sonst könnte Apollyon mir über den Weg kommen und mich hindern, wie er's dem Pilger auf seiner Wallfahrt angetan hat.«

Sie hing sich fest an Jeanies Arm, und bald kamen sie, zu Jeanies nicht geringer Freude, an einen gangbaren Pfad, mit dessen Krümmungen Madge wohlvertraut zu sein schien, denn sie schritt fest und zuversichtlich weiter. Jeanie versuchte, die Unglückliche bei ihren guten Regungen festzuhalten, aber ihr irrer Geist war schon wieder davon gewichen; glich er doch so ganz einem Haufen dürrer Blätter, die wohl eine Weile lang still auf einem Flecke liegen, aber vom leisesten Windhauche bewegt und verjagt werden. Jetzt war ihr Sinn ausschließlich bei der Pilgerfahrt, und mit großer Zungenfertigkeit schwatzte sie: »Hast Du sie schon gelesen, die Pilgerfahrt von Bunyan?. O, ein schönes Buch, Kind! ein schönes Buch! Du könntest die Maria draus sein, die Frau, und ich das Mädchen, die Magdalena. Du weißt ja, die Magdalena war schöner als die andere, und hätt ich meinen kleinen dürren Hund noch, so wäre auch Goodheart vertreten, denn der war grade so frech wie mein kleiner Kläffer. Die Frechheit hat ihm den Tod gebracht, denn eines Morgens fiel ihm ein, Max Alpin, den Korporal, in die Waden zu beißen, und dafür schleppten sie mich auf die Wache und dort erschlug mir der Korporal den Hund mit seinem Beile. Hol den alten Hochländer dafür der Teufel!«

»Ach pfui, Madge! Du solltest solch böses Wort nicht über Deine Lippen bringen!« sagte Jeanie.

»Aber so ist's doch hergegangen, Mädel!« sagte Madge, »der arme nette Shnog! Es tat mir so weh, als ich ihn krepiert im Rinnstein liegen sah. Aber vielleicht war's ganz gut für ihn, daß er so schnell krepierte, denn er hat sein Lebtag kaum was anders als Hunger und Durst gekannt und hätte vielleicht 'mal verhungern müssen, das arme niedliche Vieh! Im Grabe findet alles seine Ruhe, ob Hund, ob Kind!«

»Dein Kind?« fragte Jeanie weich.

»Ja doch, meins,« erwiderte sie verdrießlich; »warum sollt' ich nicht auch ein Kind haben wie andre? und warum nicht auch eines verlieren,« setzte sie heftig hinzu, »wie Dein niedliches Schwesterchen, die Lilie von Sankt-Leonard?«

Diese Antwort erschreckte Jeanie, und sie gab sich alle Mühe, den Mißmut zu beseitigen, den sie durch ihre Frage, ohne es zu wollen, geweckt hatte. »Es tut mir recht leid um Dich, Madge.« »Leid tun?« wiederholte Madge, »was denn? Das Kind war zum Segen gewesen wär nicht die Mutter gewesen; aber die Mutter, die Mutter ist ein schlimmes Weib! Laß Dir sagen, da war ein alter Kerl im Lande, mit einem kleinen Hut auf dem Kopfe, und einem dicken Beutel voll Gold. O, ich hätt was drum gegeben, wenn Du den mal hättest watscheln sehen, ein Bein hierhin, ein Bein dorthin, als wenn sie nicht einem allein gehörten. Ich hab mich immer ausschütten wollen, wenn der schmucke Georg ihm nachäffte. Ach, Mädel, mir ist's, als hätt ich damals viel froher, wenn auch nicht soviel gelacht, als jetzt!«

»Und wer war der schmucke Georg?« fragte Jeanie, ängstlich gespannt, denn daß im Leben dieser armen Irren Dinge vorgegangen, die mit dem Leben ihrer Schwester in so seltsamem Zusammenhange standen, hätte sie nun und nimmer vermutet.

»O, das war ja Georg Robertson! der Edinburger Robertson! Aber sein rechter Name ist das auch nicht. Mädel! Was geht das Dich an?« rief sie, sich plötzlich besinnend; »warum fragst Du mich aus nach anderer Leute Namen? Oder soll ich Dir, wie Mutter immer sagt, das Messer schleifen zwischen Deinen Rippen?« – In ihrer Sprache und ihrer Gebärde kam ein solches Maß von Wildheit zum Ausdruck, daß Jeanie es für geraten hielt, ihr zu beteuern, sie habe bei der Frage nicht die geringste Absicht verfolgt, wodurch sich Madge beruhigen ließ. »Jeanie, merk Dir, nach anderer Leute Namen mußt Du mich nicht fragen! Dabei kommt nichts heraus, und das ist auch nicht artig. Bei der Mutter sind manchmal über ein Dutzend Menschen gewesen, und es hat doch keiner den andern nach seinem Namen gefragt. Das war auch immer Papa Kliffs Rede, so was zu tun sei die größte Unhöflichkeit auf der Welt, das täten die Herren vom Rat und Gericht schon genug, die kämen immer mit dergleichen blöden Fragen, ob man den oder jenen kenne, ob man wisse, wie er heiße, ob er überall so, heiße, und so weiter. Wenn man aber Namen nicht weiß, dann hört alles Gerede ganz von selbst auf.«

»Wie verworfen muß die Schule sein,« dachte Jeanie bei sich, »in der dies arme Wesen erzogen worden! wo man sich durch solche Maßregeln vor der Verfolgung der Gerechtigkeit zu schützen suchen muß! Was möchte wohl der Vater oder Reuben Butler dazu sagen, wenn sie von mir hörten, daß es dergleichen Menschen unter Gottes Sonne gibt? O, wie verworfen, die Einfalt dieses armen unglücklichen Wesens derart zu mißbrauchen! Ach, wie glücklich werde ich sein, wenn ich erst wieder in meiner schlichten Heimat, bei meinen redlichen Landsleuten bin! Wie will ich den Herrn dafür loben und preisen, daß er mir meinen Platz angewiesen unter denen, die unter dem Schatten seiner Fittiche in der Furcht vor Ihm leben!«

Ein wildes Gelächter riß sie aus diesem Sinnen. Es rührte von Madge her, der es eine über den Weg hüpfende Elster entlockte.

»Sieh doch nur! Gerade so hüpfte mein alter Schatz, bloß fehlten ihm die Flügel, um den dürren Beinen nachzuhelfen. Geheiratet hätte ich ihn aber doch, weil mich die Mutter sonst totgeschlagen hätte. Da kam aber die Geschichte mit meinem armen Kinde, und die Mutter bekam es mit der Angst, sein Geschrei könnte den alten Kerl taub machen, und da hat sie es fortgeschleppt, damit es aus dem Wege sei, und unter den kleinen Hügel dort gebettet. Aber mir ist seitdem immer, als hätt sie auch mein bißchen Verstand mit drunter gebettet, denn ich bin von der Zeit an gar nicht mehr die gleiche. Und nun denke Dir, Jeanie, nachdem sich die Mutter mit dem alten lendenlahmen Kerl so am Leibe gerissen, schwenkt er ab und läßt mich sitzen; ich aber hab deshalb den Kopf nicht hängen lassen, Mädel, sondern ein fideles Leben seitdem geführt, und es gibt wohl kaum einen schmucken Herrn, der nicht, wenn er mich sieht, gleich vom Pferde spränge, weil ich ihm in der Nase stecke! Es hat auch manch einer gleich in die Tasche gegriffen und mir ein Paar Silberlinge zugeworfen bloß wegen meiner niedlichen Fratze.«

Die Erzählung hatte Jeanie einen trüben Blick in das Leben der armen Irren eröffnet. Ein reicher Freier hatte das Auge auf sie geworfen und war von der Mutter, ungeachtet seines Alters und seiner Gebrechlichkeit, der Tochter zugeführt worden, die sich aber von einem Wüstling hatte verführen lassen und ihm ein Kind gebar. Um die Schande zu verbergen und die Heirat nicht zu gefährden, die der Mutter im Sinne lag, hatte diese das Kind, den unschuldigen Zeugen der Schwäche ihrer Tochter, auf die Seite geschafft. Der Alte aber hatte doch davon erfahren und sich von der Tochter abgewandt, deren von Natur eitler, schwacher Sinn dadurch dermaßen gestört worden war, daß er in richtigen Wahnsinn ausartete.

Siebentes Kapitel

Als sie den von Madge eingeschlagenen Pfad ein Stück weit gegangen waren, gewahrte Jeanie zu ihrer großen Freude Spuren, daß sie sich einer wirtlicheren Gegend nahten, und bald erblickte sie, zwischen Buschicht verborgen, Hütten, mit Strohdächern gedeckt, von denen blauer Rauch in kleinen Säulen aufstieg. Dorthin führte der Pfad, und um ihre Führerin nicht zu erzürnen oder ihren Sinn abzulenken, nahm sich Jeanie vor, so lange Schweigen zu wahren, als sie keine Neigung bezeigte, den Pfad zu verlassen. Madge schwatzte nun in einem fort, wie es ihre wirren Ideen ihr eingaben; und erzählte auf diese Weise von sich und anderen weit mehr, als wenn Jeanie versucht hätte, sie auszufragen.

»Seltsam,« hob sie wieder an, »es kommen Augenblicke über mich, in denen ich von meinem Kinde ganz so reden kann, als ginge es mich nichts an, sondern eine andere, und dann wieder ist's mir zumute, als müßte mir das Herz darüber brechen. Hast Du schon ein Kind gehabt, Jeanie?«

Jeanie schüttelte mit dem Kopfe.

»Aber Deine Schwester hat eins gehabt, und was aus dem geworden, Mädel, das weiß ich, weiß ich genau.«

»Im Namen der göttlichen Barmherzigkeit,« rief Jeanie, ganz aus der Rolle fallend, die sie bisher festgehalten, »Madge, sage mir, was aus dem armen Wesen geworden ist, und ..«

Madge blieb stehen, blickte sie starr an und schlug dann eine helle Lache auf. »Heidi, Mädchen, hasche mich! und fang mich, wenn Du mich kriegst. Hahaha! Du läßt Dir auch alles vorschwatzen. Wie sollte ich was wissen von Deiner Schwester Kinde? Mädel sollen mit Kindern erst was zu tun haben, wenn sie die Haube tragen. Dann kommt die Gevatter- und Nachbarssippe zusammen und hält großen Fest- und Feiertag, als ob es was Wichtigeres in der Welt gar nicht gäbe. Bei den Leuten heißt's wohl immer, Jungfernkinder Glückskinder; aber das ist weder bei meinem Kinde wahr geworden noch beim Kinde Deiner Schwester. O, sind das traurige Geschichten! Ich muß mich wieder lustig singen, Mädel, mit den Liedern, die mir der schmucke Georg auf den Leib gesungen hat, wenn ich mit ihm nach Lockington zur Kirchweih fuhr, wo er in gar prächtigem Staate mit vielen andern Komödie spielte. Damals hätte er mich heiraten sollen, wie es auch sein Wille war; jetzt kann er lange herumsuchen, ehe er's wieder so gut trifft! Aber das hat mit meinem Liede nichts zu schaffen, also weg damit!

Ich bin die Madge vom Dorfe, die Madge von der Stadt,


Die den schmucksten der Buben zum Herzliebsten hat.


Und prangt auch die Herrin in gülden Geschmeid,


So bleibt doch die Madge Königin heut,


Die Königin der Kirchweih,


Die Königin vom Mai!


Mit 'nem Herzen im Leibe, klar und hell,


Und Augen wie Feuer so wild und grell!

Das ist immer mein liebstes Lied, denn er hat's gedichtet und hat's gesungen, und ich hab's mit ihm gesungen, ach! wie oft! wie oft! und es mag wohl darum sein, daß mir die Leute den Namen Wildfire gegeben haben. Ja, Madge Wildfire! Madge Wildfire! Und warum sollte ich nicht hören drauf und antworten drauf? Verdanke ich ihn doch dem schmucken Georg!«

»Aber am heiligen Sabbath, Madge, solltest Du doch nicht singen!« sagte Jeanie, denn bei aller Angst und Not nahm sie Aergernis an dem wüsten Betragen des Mädchens, und um so mehr, je näher sie dem kleinen Dorfe kamen.

»Ach!, ist heut Sabbath?« rief Madge; »die Mutter führt ein Leben, daß man nicht weiß, was Tag ist, was Nacht, geschweige ob Sonn-, ob Wochentag! Zudem ist das auch bloß bei Euch oben in Schottland so, bei euch Muckern und Heiligen! Wir im lustigen England haben alle Tage Sonntag und singen und trällern, wenn uns der Schnabel danach steht.«

Inzwischen waren sie dicht an das Dörfchen gekommen, dessen kleine, schmucke Häuser in Gruppen zwischen hohen Eichen und Ulmen, von Obstbäumen umfriedigt, standen, und nicht, wie es Jeanie von Schottland gewöhnt war, in Reih und Glied zu beiden Seiten der Straße. Die Obstbäume standen gerade in der Blüte und erhöhten die Schönheit des Bildes durch ihre herrliche Pracht. Mitten im Dörfchen erhob sich die kleine Kirche mit ihrem gotischen Türmchen, von dem eben die Glocke zum Gottesdienste rief.

»Warten wir, bis alles Volk in der Kirche ist,« sagte Madge, »denn laß ich mich vorher sehen, dann rennen sie mir hinterher, und schreien und johlen, und dann kommt der Büttel und nimmt mich fest, als ob ich dran schuld wäre, und Dich ließe er auch nicht aus seinen Krallen! Besser wird's erst wieder werden für mich, wenn erst 'mal Herr Staunton heraustreten wird vor die Menschen und mich aufheben, die Arme, Verlorene, und bei der Hand nehmen und mir einen Granatapfel reichen wird mit einem Stück Honigkuchen und einem Fläschen Weingeist, meine Ohnmacht zu verjagen, ja, wenn er erst mal erscheinen wird, der wackre Herr Staunton, dann werden auch für die arme Madge die Zeiten wiederkommen, wo sie glücklich sein darf mit den Glücklichen!«

Jeanie schickte sich gern in dieses Verlangen der Irren, denn ihr Kleid hatte durch die Nacht in der Scheune viel von seiner Sauberkeit verloren, und der höchst auffällige Anzug ihrer Kameradin ließ erwarten, daß die Leute, die heut ihren Sonntagsstaat hervorgesucht, Anstoß daran nehmen würden. Sie schickte sich um so lieber darein, als Wadge ihr noch gesagt hatte, daß es nicht das Dorf sei, wohin die Mutter gebracht worden, und daß auch die Räuber und Wegelagerer sich anderswohin begeben hätten.

Jeanie konnte es nicht über sich gewinnen, ihre Kleidung in dem unordentlichen Stande zu lassen, den sie seit dem gestrigen Abend aufwies. Sich am Sonntag vor jemand so zu zeigen, war ihr ganz und gar nicht möglich, und sie trug sich doch mit dem Gedanken, in dem Dörfchen nach Hilfe und Beistand zu suchen. Sie setzte sich also an einer Eiche nieder, die an einem hier vorbeifließenden Bächlein stand, und begann, die glatte Fläche desselben als Spiegel benutzend, sich zu säubern und, zu putzen, so gut es die Umstände erlaubten; doch bald sollte sie erkennen, daß sie, so notwendig ihr die Arbeit erschien, sie besser ungetan gelassen hätte; denn ihre Gefährtin, in ihren irren Begriffen auf ihre körperlichen Vorzüge über die Maßen eitel, – zum Teil Wohl entschuldbar insofern, als dieselben ja die eigentliche Quelle ihres Unglücks waren – hatte kaum gesehen, daß Jeanie sich das Haar glatt strich, Rock und Schuhe vom Staube säuberte und Halstuch und Aermel in Ordnung brachte, als auch sie den Gedanken faßte, sich zu putzen, und aus einem Bündelchen, das sie, auch da schon Jeanie nachäffend, aus der Scheune mitgenommen, allerhand Lumpen und Flitterstaat hervorzog, um an den Männerhut, den sie trug, eine geknickte Pfauenfeder zu stecken, an den Saum ihres alten Reitkittels einen Kranz verblichener und zerdrückter Blumen zu heften, den ehedem eine vornehme Dame getragen haben mochte, die ihn aber ihrer Zofe geschenkt, nachdem sie ihn satt hatte, und der von der Zofe in irgend eine Trödlerbude gewandert sein mochte, aus der er, auf ehrliche oder andere Weise, zu Madge Wildfire gelangt war. Eine gelbseidene Schürze, ohne Zweifel gleichen oder ähnlichen Ursprungs, mit allerhand Flittern bestickt, hing sie sich wie ein Wehrgehenk, über die Schulter, und ein Paar schäbige Atlasschuhe mit Stöckelabsätzen mußten die groben Lederstiefel ersetzen, die sie bisher getragen. Von einer Weidengerte, die sie schon unterwegs abgeschnitten und mitgebracht, schälte sie fein säuberlich die Rinde ab und sagte zu ihrer Gefährtin, jetzt könnten sie sich beide vor allen Leuten sehen lassen und gingen angezogen, wie es sich für junge, anständige Dirnen an einem Sonntagmorgen schicke; und da nun, sagte sie, das Läuten aufgehört hätte, wollten sie nicht länger säumen, sondern sich ins Dorf begeben.

Jeanie seufzte innerlich darüber, daß sie sich am Tage des Herrn mit solcher Gefährtin öffentlich zeigen sollte; aber Not kennt nun einmal kein Gebot, und Jeanie sah ein, daß sie sich ohne heftigen Streit von der Irren nicht werde losmachen können; da sich aber ihre Lage dann nur noch ärger gestalten muhte, als sie an sich schon war, meinte sie, es sei am klügsten, sich in die Umstände zu schicken, wie sie nun einmal lagen.

Die arme Irre hingegen, im siebenten Himmel der Freude über ihren Putz und ihr strahlendes Aussehen, blähte sich förmlich vor Eitelkeit. Sie gelangten in das Dörfchen, ohne von jemand gesehen zu werden, ein altes Mütterchen ausgenommen, das sich, geblendet von Madges Flitterstaat, bis tief auf die Erde vor ihnen verneigte. Dadurch stieg Madges Stolz bis auf die höchste Stufe; sie drehte sich, zierte sich, wandte sich, tänzelte, trippelte, hüpfte und winkte Jeanie, sich wenigstens als Herzogin dünkend, mit huldreicher Handbewegung, ihr zu folgen. Um Madges lächerliches Getue nicht zu sehen, schlug Jeanie die Augen zu Boden und folgte ihr geduldig. Aber als sie sich jetzt vor der Kirche und Madge willens sah, den Fuß über die Schwelle derselben zu setzen, machte sie einen Schritt zur Seite, denn in solcher Gemeinschaft das Gotteshaus zu betreten, hielt sie für eine große Sünde. Mit festem Tone sprach sie: »Madge, laß uns hier warten, bis die Kirche aus ist. Willst Du hineingehen, so hindert Dich ja nichts; ich aber bleibe draußen.«

Sie wollte sich auf einen Grabstein setzen, denn um die Kirche herum, wie auf Dörfern üblich, lag der Friedhof, da machte Madge, die ihr einige Schritte voraus war, plötzlich Kehrt, sprang auf sie zu, packte sie am Arme und rief: »Was? Du undankbares Geschöpf, willst Dich auf Vaters Grab setzen? Der Teufel soll Dich herunterbringen, wenn Du nicht gleich aufstehst und mit mir ins Mittler-Haus trittst, wie wir das Gotteshaus nennen. Marsch! steh auf, oder ich reiße Dir all Deine Lumpen vom Leibe!«

Wort und Handlung waren eins, denn schon hatte sie mit einem einzigen Griffe dem erschreckten Mädchen den Strohhut vom Kopfe gerissen mit einer Handvoll Haar und auf einen Eibenbaum geschleudert, an dessen Zweigen er hängen blieb. Jeanie wollte um Hilfe schreien, aber sie faßte sich schnell, denn sie sagte sich, die Rasende könne ihr, ob auch die Kirche nahe war, früher ein Leid angetan haben, als Leute zu ihrer Hilfe herbeikämen, und so meinte sie, es sei minder gefährlich, ihr in die Kirche, wo sie schnellen Schutz finden werden, zu folgen, als draußen mit dem Unhold allein zu bleiben. In Madges unstetem Sinne hatten aber schon wieder andere Vorstellungen die Oberhand gewonnen, als sie Jeanies milde Versicherung, ihr folgen zu wollen, hörte. Sie nahm Jeanie wieder bei der einen und zeigte mit der andern Hand auf die Inschrift des Grabsteins, auf den sich Jeanie gesetzt hatte. »Da, lies,« sagte sie, und Jeanie, gehorchend, las:

Dem Gedächtnis des Donald Murdockson, vom 26ten Königl. oder kameronischen Regiment, eines wahren Christen, tapfern Soldaten und treuen Dieners, errichtete diesen Denkstein in tiefer Trauer sein dankbarer Herr

Robert Staunton.

»Hast richtig gelesen, Jeanie, es sind Worte, die auf dem Steine stehen,« sagte Madge, deren Zorn verraucht und einer tiefen Schwermut gewichen war, und ruhigen, ja ernsten Schrittes, den man an ihr nicht gewöhnt war, der aber Jeanie von Herzen freute, begab sie sich, Jeanie noch immer an der Hand haltend, zur Kirchtür.

Kaum hatten sie aber den Fuß in das altertümliche gotische Gotteshaus hinein gesetzt, als sich auch aller Augen auf sie lenkten, und stolz hierauf, verfiel Madge sogleich wieder in ihre eitlen Torheiten und schritt, Jeanie hinter sich her ziehend, in gezierter Haltung den Mittelgang hinauf, um sich allen Gliedern der kleinen Gemeinde zu zeigen. Jeanie hätte sich gern in einen Stuhl geflüchtet und Madge allein weiter gehen lassen; aber ohne sich gewaltsam zu widersetzen, wäre das nicht möglich gewesen; so mußte sie sich von dieser seltsamen Person durch das Gotteshaus weiter schleppen und von allen Kirchgängern angaffen oder mit strafenden Blicken verfolgen lassen. Endlich traf die Betörte ein verweisender Blick des Predigers und machte ihrer Unrast ein Ende. Schnell öffnete sie einen Kirchstuhl und trat hinein, Jeanie auch dorthin ziehend. Durch einen Puff in die Seite suchte sie ihr begreiflich zu machen, daß sie sich nach ihrem Tun richten solle. Aber die Sitte, den Kopf ein paar Minuten in die Hand zu stützen, zum äußern Zeichen des Gebetes, das man nach dem Eintritt in das Gotteshaus verrichtet, war Jeanie fremd; statt es zu tun, blickte sie angstvoll umher, was natürlich ihre Nachbarn, nach der Gesellschaft schließend, in her sie sich befand, als offenkundiges Zeichen von Irrsinn deuteten. Alles retirierte vor dem befremdlichen Paare; einem Greise gelang das nicht so schnell, wie den übrigen, und Madge stürzte sich wild auf ihn und riß ihm die Bibel aus der Hand, um mit wichtigem Getue die Stelle aufzuschlagen, der die heutige Predigt gewidmet war.

Dem Prediger, einem ältlichen Herrn von würdigem Aussehen, war Jeanies Ruhe von Anfang nicht entgangen, und oft während des Gottesdienstes hatte er die Blicke nach dem Stuhle gerichtet, wo sie mit Madge sah, von der er Störung zu befürchten schien; und wenn auch Jeanies aufgelöstes Haar und die Angst, die sich auf ihrem Gesicht malte, ihr Aussehen sehr zu ihrem Nachteil beeinträchtigten, hatte er doch schnell erkannt, wie verschieden die Gemütsart der beiden Mädchen, die sicher, wie er meinte, irgend ein unglücklicher Zufall zusammengeführt, voneinander sei. Als er nun sah, wie Jeanie nach dem Schlusse der Predigt sich voll Bangen umsah und verschiedenen Leuten zu nähern suchte, um das Wort an sie zu richten, sich aber schüchtern, als diese ihr aus dem Wege gingen, wieder zurückzog, beschloß er als redlicher, wohlwollender, wahrhaft christlicher Seelsorger, genaue Erkundigung über den Fall, der ihm etwas Außergewöhnliches zu verraten schien, einzuziehen.

Achtes Kapitel

Während Reverend Staunton – das war der Name des würdigen Dieners Gottes, – sich in der Sakristei seines Amtskleides entledigte, waren Jeanie und Madge neuerdings in Zwiespalt geraten. Madge hatte, als sie die Kirche verlassen mußten, zu Jeanie gesagt:

»Nun müssen wir aber wieder nach der Scheune zurück, die Mutter wird schon ungeduldig sein und uns gewiß einen feinen Empfang bereiten.«

Jeanie aber nahm eine Guinee aus der Tasche, gab sie ihr und antwortete: »Da nimm, Madge; ich bin Dir von Herzen dankbar; aber zurück mit Dir gehe ich nicht.«

»Hab ich Dir zu Gefallen, Du undankbarer Balg, solch weiten Weg gemacht, um mich, wenn ich ohne Dich zurückkomme, von der Mutter totschlagen zu lassen? Ha! Ich will Dich doch gleich.«

»Um Gottes willen, Mann!« rief Jeanie ängstlich einem Bauern zu, der dicht in ihrer Nähe stand, »helft mir! Sie ist von Sinnen,«

»Na,« erwiderte der Bauer, »gehört hab ich wohl so was, daß es mit ihr nicht richtig sei, aber bei Dir scheint's nicht viel anders.« Immerhin drohte er Madge mit der Faust und sagte: »Du, laß die Finger von ihr, wenn Du es nicht mit mir zu tun kriegen willst.«

Andre Kirchgänger sammelten sich um die Mädchen, und Jungen schrieen, es würde gleich zwischen zwei tollen Weibern eine Prügelei setzen, von denen eine die Madge Murdockson sei. Da zeigte sich aber auch schon der Tressenhut des Büttels, und seiner obrigkeitlichen Gewalt wich alles ehrfürchtiglich. Sein erstes Wort galt der Irren:

»Was bringt Dich wieder hierher in unser Kirchspiel, Du garstiges Mensch? Bringst Wohl einen neuen Bastard mit? Oder hast Du Absicht, uns die Landläuferin da auf den Hals zu hängen, mit der es wohl nicht viel besser stehen mag als mit Dir? Als wenn wir nicht schon der Lasten genug zu tragen hätten! Marsch, lauf zu Deiner Mutter, der spitzbübischen Satansliese! Sie sitzt schon wieder im Loche drin in Barkstone. Scher Dich hinweg aus unserm Dorfe, oder ich geb Dir die Peitsche zu kosten,«

Madge schwieg eine Weile. Aber sie hatte mit dem Büttel schon zu oft üble Erfahrung gemacht, um Lust zu Widersetzlichkeit zu spüren, und bequemte sich schließlich zu der Antwort:

»Was sagt Ihr? Meine Mutter im Stockhause? Drüben in Barkstone? Ha, Du Balg! Daran bist bloß Du schuld! Aber ich will's Dir eintränken, Jungfer Jeanie Deans, so gewiß ich die Madge Wildfire bin, Madge Murdockson, wollte ich sagen.. Steh mir Gott bei! In diesem Gewirr und Gelärm vergesse ich sogar meinen Namen.«

Mit diesen Worten raste sie weg, verfolgt von dem Geschrei der Buben, die ihr die Kleider zu zerreißen suchten und alles aufboten, die Unglückliche in die höchste Wut zu versetzen.

So herzlich Jeanie wünschte, Magde den wichtigen Dienst zu vergelten, den sie ihr geleistet, so war sie doch auch von Herzen froh darüber, daß sie fort war. Sie wandte sich an den Büttel mit der Frage, ob es im Dorfe ein Haus gebe, wo sie für Geld ein rechtschaffenes Unterkommen finden könnte, und ob es ihr wohl verstattet sei, mit dem Herrn Prediger ein paar Worte zu sprechen.

»Freilich, Hochwürden will mit Dir sprechen, Kind,« versetzte der Vertreter der Ortspolizei, »und ich will Dir bloß sagen, daß Du besser Dein Geld sparst, wenn Du dem Herrn Pfarrer nicht offen und ehrlich Rede und Antwort stehst; denn sonst dürftest Du auf Kosten des Kirchspiels Quartier bekommen.«

»Wohin soll ich denn gehen?« fragte Jeanie, bestürzt.

»Zuerst zu Hochwürden, damit Du über Dein Tun und Lassen Rechenschaft gibst und Ausweis, daß Du dem Kirchspiele nicht zur Last fällst.« '

»Zur Last fallen will ich niemand,« rief Jeanie, »ich habe, was zur Befriedigung meiner Bedürfnisse notwendig ist, und will weiter nichts als meine Reise mit Ruhe fortsetzen.«

»Nun, das ist was anders, und wenn es wahr ist – Du siehst nur eben auch so verdreht aus wie die verrückte Person, die grade von hier weggelaufen – aber komm nur mit, unser Prediger ist ein sehr guter Mann.«

»O, ich gehe sicher gern zu ihm, denn ich muß mit ihm sprechen,« sagte Jeanie, »nach der Art, wie er das Wort des Herrn verkündete, muß ich wohl glauben, daß er ein würdiger, gottesfürchtiger Mann ist.«

Die Menge, in ihrer Hoffnung, einer Prügelei beizuwohnen getäuscht, hatte sich mittlerweile verlaufen, und Jeanie folgte mit der ihr eigenen Geduld dem langsamen, breitspurigen Büttel in die Pfarrei.

Es war ein bequemes, großes Wohnhaus, denn die Pfründe war groß, wenn auch das Dörfchen klein war, worin sie lag, und die reiche Familie, die das Patronat besaß, hatte es seit Jahren so gehalten, daß sie in der Regel einen Sohn oder Neffen dem Dienste der Kirche weihte, um ihn in das einträgliche Amt zu setzen. Auf diese Weise war die Pfarrei von Willingham immer als eine Art Familienlehen von Willingham-Hall betrachtet worden, und da zwischen dem reichen Baronet, der dort residierte, und dem Pfarrer verwandtschaftlicher Verkehr gepflegt wurde, hatte die Familie Sorge getragen, das Pfarrhaus nicht nur bequem und wohnlich, sondern auch würdig und vornehm einzurichten. Hinter ihm hatte ein kleiner Fluß sein Bett, der durch seine mit Weiden und Pappeln gesäumten Ufer die Landschaft erheblich verschönte. Der Büttel war, seitdem ihm Jeanie gesagt, daß sie dem Kirchspiel nicht zur Last fallen wolle, mitteilsamer geworden und erzählte, daß das Flüßchen die meisten und schönsten Forellen in ganz Lincolnshire berge.

Er geleitete Jeanie zu einer Seitentür, die zu dem ältern Teil des Gebäudes führte, worin zumeist die Dienerschaft wohnte. Ein Bedienter in scharlachner Livree, wie sie den Leuten eines vornehmen Geistlichen in England geziemt, erschien auf der Schwelle. Ihn fragte der Büttel, wie sich der junge Herr Staunton befinde?

»Je nun, so, so!« lautete die Antwort; »aber Sie wollen zu Seiner Hochwürden, Herr Stubs?«

»Allerdings, Tom;, und bitte, bestellen Sie Seiner Hochwürden, ich hätte die junge Person mitgebracht, die mit der tollen Madge Murdockson in der Kirche war. Mir käme es so vor, sagen Sie noch, bitte, als sei es ein recht bescheidenes, anständiges Ding, aber ausgefragt hätte ich sie noch nicht. Bloß soviel wüßte ich, daß sie eine Schottin sei und, meiner Meinung nach, besonders klug und weise nicht eben zu sein scheine.«

Tom maß Jeanie mit einem jener Blicke von oben herab, zu denen sich Bediente großer Herren für berechtigt halten, und hieß dann den Büttel mit seiner Begleiterin warten, bis er seinem Herrn von ihrer Anwesenheit Kenntnis gegeben habe.

Das Gemach, wohin er sie führte, war eine Art Vorzimmer, worin ein paar Landkarten und auch mehrere Kupferstiche von Männern hingen, die sich in der Grafschaft ausgezeichnet hatten. Tom lud den Büttel ein, sich von einem Schinkenrest, der auf dem Tische stand, zu nehmen, und goß ihm auch einen Krug Ale ein. Jeanie, aufgefordert, auch eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen, lehnte freundlich dankend ab; sie hatte zwar den ganzen Tag noch nichts gegessen, und eine Erquickung hätte ihr recht not getan, aber die Unruhe, die sie über die Unsicherheit ihrer Situation noch immer erfüllte, und ihre Schüchternheit fremden Leuten gegenüber machten es ihr unmöglich, etwas zu sich zu nehmen.

So blieb sie seitab von den beiden Männern sitzen, die es sich munden ließen, denn auch Tom, der mit der Meldung zurückkam, daß der Herr Prediger in etwa einer halben Stunde klingeln werde, hieb gar tüchtig mit ein, wußte er doch, daß es erst Mittagessen nach dem Nachmittagsgottesdienst gäbe.

Als die Klingel nach der bezeichneten Frist ertönte, stand Tom auf und hieß den Büttel und Jeanie ihm nach der Bibliothek folgen. Der Büttel schob flink noch ein tüchtiges Stück Schinken in den Mund und spülte es mit einem kräftigen Schluck hinunter. In einem kleinen Vorstübchen, an dessen Tür sich Tom verabschiedete, herrschte er, sich im Vollgefühl seiner Würde blähend, das Mädchen an, so lange zu warten, bis er Hochwürden gemeldet habe, daß sie da sei.

Es war Jeanies Weise nicht, auf Gespräche zu lauschen. Hier aber konnte sie nicht umhin, mitanzuhören, was zwischen den beiden Männern gesprochen wurde, denn der Büttel war an der Tür stehen geblieben und Seine Hochwürden stand in unmittelbarer Nähe derselben; mithin mußte jedes Wort zu ihren Worten dringen.

»So? Ihr habt also die Person mitgebracht, Stubs?« fragte der Prediger. »Ich hab Euch schon früher erwartet. Ihr wißt doch, daß ich kein Freund davon bin, über Leute lange in Ungewißheit zu bleiben.«

»Freilich, freilich, Euer Ehrwürden. Aber das Mädchen hatte heute noch keinen Bissen genossen, und da hat Herr Tom ihr ein bißchen was vorgesetzt.« – »Recht so von ihm. Und was ist aus dem andern unglücklichen Wesen geworden?« – »Weil ich fürchtete, sie würde Euer Ehrwürden doch nur zum Aergernis dienen, habe ich sie laufen lassen. Sie wird wohl schon bei der Mutter sein,, die im Nachbar-Kirchspiel schlimm dran ist.«

»Schlimm dran?« fragte der Pfarrer, »Ihr meint, im Stockhause?« – »Jawohl, Hochwürden, so ungefähr.« – »Armes Geschöpf, aller Besserung verschlossen,« rief der Prediger; »und welche Meinung habt Ihr von ihrer Gefährtin?« – »Hochwürden, dem Anschein nach eine reputierliche Person, sagt auch, sie habe Geld und werde dem Kirchspiel nicht zur Last fallen.« – »Nun, ja immer Eure erste Sorge! Aber hat sie den Verstand richtig beisammen? Kann sie für sich selbst sorgen?«

»Darüber kann ich Gewisses nicht sagen, Hochwürden, die Klügste ist sie Wohl kaum, zum wenigsten hat Gaffer Gibs, der in ihrer Nähe in der Kirche gesessen, mitangesehen, daß die Madge zu allem, was der Gottesdienst von einem Christen fordert, sie hat erst nötigen und sogar zu Knuffen und Püffen hat greifen müssen, um sie aus ihrer Trägheit aufzurütteln. Ich hab gehört, daß sie Schottin sei, und von denen heißt's doch, sie wüßten sich bei aller Dummheit immer auszureden und durchzuhelfen. Sie ist auch anständig angezogen und hat nicht solchen Flitterkram an sich wie die andre.«

»Nun, so sagt ihr, sie solle hereinkommen. Wartet aber unten!«

Diese Unterhaltung hatte Jeanies Aufmerksamkeit so ganz in Anspruch genommen, daß sie erst, als sie zu Ende war, die Wahrnehmung machte, daß ein junger, bleich und krank aussehender Mensch von zwei Männern zur Glastür hereingetragen und auf ein Ruhebett gelegt worden war, um sich dort von der für ihn augenscheinlich zu großen Strapaze dieses Transports zu erholen. Unterdes war der Büttel aus dem Bibliothekszimmer gekommen und hatte Jeanie vor den Prediger geführt. Zitternd und zagend gehorchte sie, war es ihr doch zu Mute, als hinge von dem Eindrucke, den sie auf diesen Herrn Staunton machen würde, das Gelingen ihres ganzen Vorhabens ab.

Herr Staunton aber sprach sie mildreich an, sagte, ihre Erscheinung in der Kirche sei freilich aufgefallen, zumal durch das höchst respektwidrige Verhalten ihrer Gefährtin, so daß die versammelte Gemeinde mit Recht Anstoß daran genommen habe, er möchte aber, ehe er sie zur Verantwortung zöge, denn er sei zugleich Friedensrichter im Kirchspiel, erst aus ihrem Munde hören, was sie zur Aufklärung des Vorfalls vorzubringen habe.

»Euer Gnaden,« sagte sie – denn den Titel Hochwürden über die Lippen zu bringen, war ihr bei, ihrer strengen Richtung nicht möglich – »sind sehr gut und höflich.«

»Wer sind Sie?« fragte der Geistliche strenger, »und was führt Sie in unsre Gegend, und in solche Gesellschaft? Landstreicher und Vagabunden dulden wir hier nicht.«

»Ich bin keine Landstreicherin, Herr,« versetzte Jeanie, verletzt durch diese Voraussetzung, »sondern ein ehrliches schottisches Mädchen, auf der Wanderschaft nicht aus Zufall oder aus Neigung, sondern aus einem bestimmten Grunde; daß ich durch schlechte Gesellschaft eine ganze Nacht Aufenthalt gehabt habe, ist ein unglücklicher Zufall, an dem mich keine Schuld trifft. Das arme Geschöpf, das etwas verwirrt im Kopfe ist, hat mich am Morgen hierhergebracht.«

»Schlechte Gesellschaft?« sagte der Prediger, »Sie sind ihr vielleicht nicht genug aus dem Wege gegangen?«

»Ich bin streng genug erzogen worden, Herr,« antwortete Jeanie, »um böse Gesellschaft zu fliehen. Aber ich bin unter Diebe und Wegelagerer geraten, die mich mit Gewalt festgehalten haben.«

»Also klagen Sie jemand an, Sie beraubt zu haben?«

»Nein, Herr! Es ist mir nichts geraubt, auch kein ernstliches Leid zugefügt worden; aber die Menschen haben mich eingesperrt und nicht weggelassen, trotz allem Bitten.«

»Eine merkwürdige Geschichte! und nicht sonderlich wahrscheinlich, Kind!« sagte der Prediger; »nach unsern Landesgesetzen müßten Sie, wenn die Klage anhängig würde, für ihre Durchführung einstehen.«

Jeanie verstand den Sinn der Worte nicht, und nun setzte ihr der Prediger auseinander, daß das englische Gesetz demjenigen, welcher einen Verlust an seinem Eigentum oder seiner Ehre erlitten, noch die Sorge und die Kosten für die gerichtliche Verfolgung der Täter aufnötigt.

Jeanie wiederholte, sie habe ein dringliches Geschäft in London, und wie die Dinge sich jetzt für sie gestaltet hätten, sei sie auf die Unterstützung irgend eines gütigen Herrn angewiesen, der ihr aus christlicher Barmherzigkeit bis zu einer Stadt weiter hälfe, wo sie Führer und Pferde erhalten könnte; aber um in einem englischen Gerichtshofe als Klägerin oder Zeugin aufzutreten, dazu müsse sie erst die väterliche Genehmigung einholen.

Der Prediger blickte sie verwundert an. »Ist Ihr Vater ein Quäker?« fragte er.

»Behüte Gott, Herr,« antwortete sie; »er ist weder Quäker, noch gehört er sonst einer Sekte an, hat sich vielmehr im ganzen Leben noch nicht mit solch argem Treiben befaßt.«

»Wie heißt denn Ihr Vater?« fragte Herr Staunton verwundert.

»David Deans, Herr. Er wohnt bei Edinburg am Sankt-Leonards-Felsen und ist Kuhpächter.«

Aus dem Vorgemach klang ein tiefes Stöhnen herüber. Der Prediger fuhr zusammen. Dann stürzte er mit dem Rufe: »O Gott! Der unglückliche Jüngling!« hinaus, und wohl eine Stunde verging, ohne daß sich jemand im Bibliothekzimmer sehen ließ.

Neuntes Kapitel

Allein mit sich, überlegte Jeanie, welchen Weg sie am klügsten einschlüge. Einerseits verzehrte sie die Ungeduld, ihre Wanderung fortzusetzen, anderseits hatte sie aus den wirren Reden der unglücklichen Madge, wie aus der in der Scheune erlauschten Unterredung zwischen Madges Mutter und dem Wegelagerer, den diese Frank Lewitt genannt, sattsam ersehen, daß ein rachsüchtiger Plan im Werk sei, sie an der Fortsetzung ihrer Wanderung zu hindern; wenn sie aber nicht auf den Beistand des Predigers rechnen durfte, an wen sollte sie sich wenden? Endlich ging die Tür auf und zu ihrer nicht geringen Freude sah sie eine Person ihres eignen Geschlechts eintreten, eine Frau in vorgerückten Jahren von mütterlichem Aussehen, in der sie die Hausverwalterin vermutete. Jeanie erklärte ihr mit wenig Worten ihre Situation und bat sie um Hilfe und Beistand. Aber mit einer Person sich ohne weiteres zu befassen, die auf die Pfarrei gebracht wurden, um amtlich vernommen zu werden, wollte sich mit der Würde der alten Dame nicht vereinbaren, und so antwortete sie höflich, aber zurückhaltend: Der junge Herr sei mit dem Pferde gestürzt, leide überhaupt an häufigen Ohnmachtsanfällen, und darum sei es leicht möglich, daß Hochwürden das Mädchen warten lassen müßten; aber Jeanie möchte sich deshalb nicht beunruhigen, denn was recht und in Ordnung sei, und was in seinen Kräften stünde, würde der Herr gern tun, sobald er irgend Zeit dazu gewönne. Zum Schlusse bot sie Jeanie ein Stübchen an, wo sie sich so lange aufhalten könne, bis Hochwürden sie rufen lasse.

Jeanie nahm das Anerbieten dankbar an und bat die würdige Frau um einige Dinge, die ihr zur Säuberung und Ordnung ihres Anzuges von nöten waren. Die Hausverwalterin gab sie ihr gern, denn Reinlichkeit und Ordnungsliebe rechnete sie zu den ersten menschlichen Tugenden. Die Veränderung, die auf diese Weise mit Jeanie vorging, gewann ihr das Herz der alten Frau, denn aus der unsaubern, fast liederlich aussehenden Person, die im Geruch der Landstreicherei stand, war eine schmucke, adrette, bescheidene kleine Schottin geworden, die die ehrsame Frau Dalton – so stellte sich ihr die Hausverwalterin jetzt vor – gern bat, ihr Mittagbrot zu teilen; und durch das artige, zurückhaltende Wesen, das Jeanie bei Tische zeigte, wurde sie noch um vieles mehr zu ihren gunsten eingenommen.

»Da, Kind, kannst Du ein bißchen lesen,« sagte Frau Dalton, als sie abgeräumt hatte, und legte die Hand auf eine große Bibel; »Du kannst's doch?«

Verwundert über solche Frage, antwortete Jeanie: »O, der Vater hätte lieber alles entbehrt, als mich solches Unterrichts ermangeln zu lassen.«

»Brau, recht brav von Deinem Vater! Nun, so nimm das Buch und lies mir draus vor, denn meine Augen sind trübe. Schlage nur auf, was Du willst. Die Bibel ist ja das einzige Buch, worin Du auf nichts Unrechtes stoßen kannst.«

Zuerst wollte Jeanie die Parabel vom barmherzigen Samariter lesen, aber ihr Gewissen hielt ihr vor, es möchte so aussehen, als ob sie die heilige Schrift nicht zur Erbauung allein, sondern in der Absicht, anderer Gemüter für sich einzunehmen, lesen wolle; mit strenger Rücksicht auf reine Pflichterfüllung wählte sie darum einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaias, las mit so andächtiger Frömmigkeit, daß Frau Dalton sich höchst erbaut fand, und sagte, wenn alle schottischen Mädchen so wären wie sie, statt barfuß in die Stadt hinein zu kommen und sich auf allen Jahrmärkten herumzutreiben, dann möchte sich freilich für manche mehr als jetzt ein guter Dienst in England finden.

Toms Eintritt unterbrach sie. »Der Herr wolle das Mädchen aus Schottland sehen,« meldete er.

»Nun, so geh schnell, meine Liebe,« sagte Frau Dalton, »und erzähle ihm nur alles so wie mir. Ich habe ein Zeichen in das Buch gelegt und will in der Zeit eine Tasse Tee mit etwas Brot zurechtmachen, wie Du es in Deinem Schottland wohl noch nicht gegessen haben dürftest.«

»Der Herr wartet,« mahnte Tom ungeduldig.

»Schön, Sie Naseweis,« sagte Frau Dalton; »müssen Sie sich in alles mischen? Uebrigens habe ich Ihnen doch schon oft genug gesagt, Sie sollen von Herrn Staunton nicht anders als von Hochwürden reden! Es schickt sich nicht, ihn bloß als Herr zu titulieren.«

Jeanie stand schon an der Tür, und der Diener schritt ihr voraus, vor sich hin brummend, es gäbe nun einmal mehr denn einen Herrn hier, und ließe man Frau Dalton allen Willen, noch eine Herrin dazu den Gang entlang bis zu einem Zimmer, das von außen so gut wie abgesperrt war dadurch, daß alle Läden geschlossen waren. Ein Bett stand darin, dessen Gardinen ebenfalls zugezogen waren.

»So! Da ist das Mädchen,« sagte Tom.

»Recht,« fügte eine Stimme vom Bette her, die aber nicht die des geistlichen Herrn war »und nun geh, Tom, und warte draußen, bis ich klingle.«

Verwundert darüber, sich in einer Krankenstube zu sehen, sagte Jeanie: »Hier muß ein Irrtum vorwalten; der Diener sagte mir, der Herr Prediger.«

»Seien Sie unbesorgt,« sagte die gleiche Stimme wieder, »von Irrtum ist keine Rede. Ich weiß von Ihren Angelegenheiten mehr als mein Vater und kann mit besserm Rate dienen als er, Tom, laß uns allem!« rief der Kranke, und Tom verschwand aus der Stube. »Zur Sache!« fuhr er fort, »es ist schon zuviel Zeit verloren gegangen. Oeffnen Sie den Laden ein wenig!« Sie gehorchte, und da er nun auch die Bettgardine zurückstreifte, fiel helles Licht auf sein bleiches, durch Kopfbinden halbverhülltes, erschöpftes Gesicht.

»Sehen Sie mich an, Jeanie Deans,« sagte er; »besinnen Sie sich auf mich?« – »Nein,« erwiderte sie verwundert; »war ich doch nie zuvor in diesem Lande!« – »Aber ich könnte drüben in Schottland gewesen sein,« sagte er; »besinnen Sie sich! Ich möchte einen Namen nicht nennen, der Ihnen bitter verhaßt sein muß.«

Eine schreckliche Erinnerung stieg blitzesgleich in Jeanies Geiste auf, die zusammen mit dem Klange seiner Stimme und mit den Worten, die er nun sprach, zur Gewißheit wurde. »Hören Sie mich ruhig an, Jeanie! und gedenken Sie der Muschatsteine!«

Die Hände über der Brust faltend, von Todesangst geschüttelt, sank Jeanie auf einen Stuhl.

»Ja,« rief er, »hier liege ich wie ein zertretener Wurm, und krümme mich vor Unrast und Ungeduld. Da liege ich, während ich in Edinburg sein und alles versuchen sollte, ein Leben, mir teurer als mein eigenes, aus Not und Pein zu retten! Wie steht's um Ihre Schwester? Zum Tode verurteilt! Ich hab's vernommen. Ha! Daß mein Pferd, das mich zu so vielen Sünden sicher führte, mit mir stürzen mußte auf dem einzigen gerechten Wege, den ich seit Jahren gegangen. Sagen Sie mir – o! ich darf nicht so wild sein, mein Körper hält's nicht mehr aus, und ich habe noch gar viel zu reden – geben Sie mir ein paar Tropfen aus dem Glas hier, zur Stärkung – Jeanie, sagen Sie mir, was Sie hierher führt, kurz und bündig – es ist schon zuviel Zeit vertrödelt worden – Sie zittern? Lassen Sie Tropfen Tropfen sein! Ich fühle mich wieder besser.. Was hat Sie hierher gefühlt, Jeanie? Sprechen Sie! sprechen Sie! Ich will Ihnen beistehen, und niemand kann es wie ich, sprechen Sie also! Und ohne Furcht! Wenn ich auch Ihrer Schwester schlimmster Feind gewesen, so will ich doch jederzeit mein Herzblut für sie vergießen.«

»Ich fühle mich frei von Furcht, Herr,« antwortete Jeanie mit Ruhe, »denn ich baue auf Gott. Möge es Ihm gefallen, der Schwester die Freiheit zu geben, sei das Werkzeug auch, welches es wolle! Aber Ihren Rat, Herr, wenn er nicht mit der Lehre übereinstimmt, der ich anhänge, darf ich nicht annehmen.«

»Hol der Teufel die Muckerei!« rief Georg Staunton, wie wir ihn jetzt nennen müssen; »Jeanie, mir hat die Natur ein wildes Temperament gegeben, und Ihre Worte machen mich rasend! Wie kann es Ihnen zum Nachteil sein, mir Kunde zu geben von der Lage Ihrer Schwester, und von den Hoffnungen, die sich ihr vielleicht noch bieten? Meinen Rat abzuweisen, haben Sie allemal noch Zeit, wenn er Ihnen verwerflich erscheint. Jetzt spreche ich ruhig mit Ihnen, obgleich das sonst meine Art nicht ist. Aber, Jeanie, Sie dürfen mich nicht zur Ungeduld treiben! Es würde mich außer stand setzen, für Effie etwas zu tun.«

Nach einem kurzen Bedenken kam Jeanie zu der Einsicht, daß es ihr nicht gezieme, ihm die traurigen Folgen seines Verbrechens zu verheimlichen, auch nicht, seinen Rat zu verwerfen, der doch vielleicht einen Wink zur Hilfe enthielt. So gedrängt wie möglich erzählte sie ihm deshalb den Verlauf der Gerichtsverhandlung, das über Effie gefällte Urteil und die Gründe, die sie zu ihrer Wanderung bestimmt hatten. Er lauschte ihr mit äußerster Anstrengung, vermied alles, was Jeanie hätte stören können, aber das tiefe Leid, das ihm das Herz zerriß, verriet sich durch das Beben seiner Glieder, das krampfhafte Aufeinanderschlagen seiner Zähne. Als sie zu den Ereignissen kam, die ihre Wanderung hier unterbrochen, schienen diese Anzeichen von Reue zu verschwinden und einem maßlosen Staunen das Feld zu räumen. Er erkundigte sich genau über das Aussehen der beiden Wegelagerer, ließ sich das Gespräch wiederholen, das sie zwischen dem einen von ihnen und der alten Frau belauscht, und rief, als sie von dem Säugling sprach, dessen Amme sie gewesen: »Es ist leider wahr, die Quelle, die mir die ersts Lebensnahrung reichte, muß mir den verderblichen Hang zum Bösen eingeflößt haben, der meiner Familie bis dahin fremd war.«

Jeanie berührte ihr Zusammensein mit Madge Wildfire nur flüchtig, weil es ihr nicht behagte, das zu wiederholen, was Madge vielleicht nur im Wahnsinn gesprochen, und war somit bald am Schlusse. Staunton saß ein paar Augenblicke in tiefem Sinnen. Dann sagte er, mit größerer Fassung als bisher: »Jeanie, Sie sind ein Mädchen, gefühlvoll und gut, und ich will Ihnen von meinem Leben erzählen, was ich bisher noch keinem Menschen erzählte. Es ist eine trübe Geschichte, ein Gewebe von Torheit, Schuld und Elend. Aber ich tue es, weil ich hoffe, mir dadurch Ihr Vertrauen zu gewinnen, weil ich von Ihnen erwarte, daß Sie in dieser schrecklichen Sache nach meinem Rat und Winke handeln werden.«

»Alles will und werde ich gern tun, Herr,« antwortete sie, »was einer Schwester, Tochter und Christin geziemt. Aber von Ihren Geheimnissen sagen Sie mir nichts! denn auf Ihren Rat zu hören, geziemt mir so wenig, wie auf die Lehre, die zum Irrtum verleitet.«

»Törin!« rief der Jüngling unwillig, »sehen Sie mich doch an! Habe ich etwa Pferdefuß oder Hörner und Klauen? Und wenn ich der Teufel nicht bin, was könnt ich damit bezwecken, die Einbildungen zu zerstören, mit denen Sie sich trösten oder betrügen? Hören Sie mich ruhig an, und Sie werden erkennen, daß mein Rat Ihnen kein Hindernis ist, bis zum siebenten Himmel zu gelangen, denn er wird Ihren Flug um kein hundertstel Quentchen erschweren.«

Was er nun erzählte, las er zum Teil aus einem Hefte vor, vielleicht bestimmt, nach seinem Tode seinen Verwandten Aufschluß über sein Geschick zu geben. »Um mich kurz zu fassen,« begann er, »jenes greuliche Weib, die Grete Murdockson, war mit einem Diener meines Vaters verheiratet und meine Amme. Ihr Mann war tot, und sie wohnte in einer unserm Wohnhause nahe gelegenen Hütte. Sie hatte eine Tochter, die zu einem hübschen Mädchen heranwuchs, aber eitel und hoffärtig war. Die Mutter wollte sie zu einer Heirat mit einem alten, reichen Geizhals in der Nähe drängen; das Mädchen ließ sich mit mir ein und ich mit ihr. So abscheulich wie gegen Ihre Schwester gehandelt war's ja nicht, aber doch immer unrecht genug, denn schon ihre Torheit hätte ihr ein Schutz sein sollen. Bald darauf mußte ich außer Landes gehen, mein Vater bestand darauf; ich muß ihm die Gerechtigkeit lassen, daß ihn die Schuld nicht trifft, wenn ich zum Bösewicht wurde, daß er im Gegenteil alles getan, was mich zum Besten führen konnte. Als ich wiederkam, waren Mutter und Tochter aus dem Orte gejagt; meine Schuld war offenbar geworden, mein Vater stellte mich zur Rede, wir gerieten aneinander, und ich verließ das Vaterhaus, um mich einem wilden Abenteuerleben zu ergeben, entschlossen, nicht mehr wiederzukehren. Mein Hang war, glaube ich, besonderer Art, und hätten frühe Ausschweifungen ihn nicht entarten lassen, so wäre ich vielleicht zum Bessern zu lenken gewesen. Das tolle Treiben und die unbeschränkte Freiheit stand mir nicht so sehr zu Sinne, als der abenteuerliche Schwung, die Geistesgegenwart in Momenten der Gefahr und der Scharfsinn, der bei allen Unternehmungen aufgeboten werden mußte, in die ich mich mit meinen Kameraden einließ. Jeanie, haben Sie die Pfarrei sich angesehen? Ist's nicht eine freundliche, angenehme Stätte?«

Jeanie, wenn auch von dem jähen Wechsel der Rede überrascht, antwortete bejahend. »Nun, Jeanie! Ich wünschte, sie wäre zehntausend Klafter unter der Erde, mit all ihren Aeckern und Zehnten und was sonst zu ihr gehört. Wäre sie nicht gewesen, und der Profit, den sie abwirft, und den meine Familie nie hat missen wollen, obwohl sie es recht gut gekonnt hätte, dann wäre ich Soldat geworden, hätte bloß die Hälfte von all dem Mut und der Gewandtheit aufzubieten brauchen, den ich unter Wilddieben und Schmugglern aufbieten mußte, und mir noch immer einen ehrenvollen Platz in der Welt gesichert. Mein abenteuerliches Leben führte mich nach Schottland, und hier schloß ich Bekanntschaft mit Wilson, einem merkwürdigen Menschen, der in jeder Lebenslage einen ruhigen, festen Sinn zeigte und mit ungewöhnlicher Leibeskraft und einer natürlichen Beredsamkeit begabt war, die ihm ein Uebergewicht über all seine Gefährten gab. Zu seinem und meinem Unglück wollte es das Schicksal, daß er, trotz der Verschiedenheit unserer Herkunft und Erziehung, einen faszinierenden Einfluß auf mich gewann, den ich nur der Ueberlegenheit seines ruhigen Charakters über meine maßlose Heftigkeit zuschreiben kann. Wohin er ging, mußte ich ihm folgen; sein Mut und seine List hielten mich in seinem Banne. Verstrickt unter seiner erstaunlichen Leitung in die verwegensten Abenteuer, machte ich die Bekanntschaft Ihrer Schwester auf einem Ball in der Vorstadt, den sie heimlich besuchte, und ihre Verführung bildete nur einen Akt in dem Drama von Schändlichkeiten, das ich nun, tiefer und tiefer sinkend, aufführte. Aber es war nicht das Werk eines abgefeimten Planes, der mir ihre Schwester zu Willen machte, nein! das dürfen Sie mir glauben, und der Entschluß, ihr allen Ersatz durch Heirat zu leisten, sobald ich mich aus meinen Sünden gerissen, stand bei mir fest. Ich hatte tolle Träume, malte mir aus, wie ich sie nach einer armseligen Hütte führen und von da plötzlich zu Rang und Reichtum führen wollte; und in diese Zeit fallen die Bemühungen eines Freundes, mich mit meinem Vater auszusöhnen. Der Augenblick war nahe, da erfuhr, Gott weiß wie, mein Vater, wie tief ich gesunken sei, schrieb mir, er hätte keinen Sohn mehr, sandte mir eine nicht unbedeutende Summe und riet mir, damit aus England zu verschwinden. Ich geriet in Verzweiflung, und um mich zu betäuben, ließ ich mich mit Wilson in ein Schmuggelgeschäft ein, das aber fehlschlug.

»Beute lockte mich nicht; ich überließ sie willig den Gefährten und bestand nur darauf, daß man mich auf den gefährlichsten Posten stellte. Ich besinne mich noch recht gut, als sie mich mit gezücktem Säbel Wache stehen ließen, daß ich mit keinem Atem an die eigene Sicherheit dachte, sondern nur in dem Gefühle schwelgte, wie angenehm es in den Ohren der hochmütigen Familie Willingham klingen werde, wenn sie hörten, daß einer ihres Geschlechts, der wahrscheinliche Erbe all ihrer Ehren und Würden, unter den Händen des Henkers sterben solle deshalb, weil er ein Zollhaus an der schottischen Grenze ausgeraubt hätte!

»Wir wurden, wie ich nicht anders erwartet, ergriffen, prozessiert und verurteilt. Aber je näher der Tod rückte, desto gräßlicher erschien er mir, und das Bewußtsein, Ihre Schwester hilflos zurückzulassen, rüttelte mich Zu dem Entschlusse auf, meine Rettung zu versuchen. In Edinburg hatte ich, wie ich zu erwähnen vergessen, die Grete Murduckson mit ihrer Tochter wiedergefunden. Sie war in ihrer Jugend Marketenderin gewesen und stand, unter dem Deckmantel eines kleinen Handels, mit allerhand Gaunervolk in Verbindung. Die erste Auseinandersetzung verlief höchst stürmisch, aber ich gab, was ich hatte, und so schien sie vergessen zu wollen, was ich ihrer Tochter angetan, deren Verstand, wie sie sagte, durch eine schwere Niederkunft gelitten habe. Daß dem so war, erkannte ich bald selbst, denn als ich ihr gegenüber trat, wußte sie nichts mehr von mir und von dem, was ich ihr angetan. Aber jeder Blick des unglücklichen Wesens, jedes Wort aus ihrem Munde, die unklaren Andeutungen auf Vorgänge, die so scharf in meinem Gedächtnis standen, waren ebensoviel Dolchstiche für mich, ich mußte es ertragen und habe es ertragen. Doch nun zu den Qualen, die mich im Gefängnisse folterten.

»Nicht die geringste darunter war die nahende Niederkunft Ihrer Schwester; wie sehr sie fürchtete, daß ihre Schande Ihnen und dem Vater zu Ohren käme, wußte ich; oft sagte sie, lieber wolle sie tausendmal sterben, ehe sie das erlebte und doch mußte für ihr Wochenbett Fürsorge getroffen werden.

»Daß die Grete Murdockson ein Teufel sei, wußte ich; ich glaubte aber, sie sei mir zugetan und würde mir um des Geldes willen, mit dem ich ihr gegenüber nicht geizte, treu bleiben. Sie übernahm es, für Effie zu sorgen, nachdem sie mir und Wilson Feilen ins Gefängnis zugeschanzt hatte. Effie sollte, bis ich entwichen und wieder im stande sei, Bestimmungen zu treffen, in ihrer Obhut bleiben. Ich setzte Effie hiervon in Kenntnis. Unser Fluchtversuch mißlang, durch Wilsons Eigensinn; aber die unerschrockene und selbstlose Art, wie er denselben wieder gut machte, hat in Schottland lange genug den Gesprächsstoff gebildet. Es war ein kühnes Unterfangen von ihm und er führte es mit der größten Bravour aus. Ich mag viele Fehler haben; aber Undankbarkeit und Feigheit gehören nicht dazu. Ich nahm mir vor, ihm seine Großmut zu lohnen, und hinter dieser Aufgabe mußte die Sorge um Ihre Schwester momentan zurücktreten. Doch vergaß ich über der Befreiung des Freundes die Geliebte nicht; die Spürhunde der Polizei waren scharf hinter mir her, so daß ich mich nicht in die Stadt hinein wagen durfte; es gelang mir, die Murdockson in einer Vorstadt zu sprechen, und nun erfuhr ich von ihr, daß Effie einem Knaben das Leben geschenkt habe. Ich gab ihr Geld über Geld mit der Bitte, es ihr an nichts mangeln zu lassen, und verwendete den ganzen Rest der mir vom Vater gesandten Summe dazu. Dann suchte ich Wilsons Kameraden in ihren Schlupfwinkeln auf und erklärte mich bereit, den zu seiner Befreiung geplanten Ueberfall der Stadtwache zu leiten. Er wäre uns auch gelungen, hätte nicht die Stadt-Obrigkeit, auf Anraten des schurkischen Hauptmanns Porteous, die Hinrichtung um eine halbe Stunde früher angesetzt, so daß wir zu spät kamen, denn wir hatten ausgemacht, uns erst zu sammeln, wenn Wilson zum Schafott geführt würde; wir hatten vermeiden wollen, Aufsehen zu wecken, was leicht möglich gewesen wäre, wenn wir den Markt früher besetzten. Aber noch immer gab ich nicht alles auf, sondern erstürmte das Schafott und schnitt Wilsons Leiche los, mit eigner Hand! Es war zu spät! Der beherzte Schmuggler hatte ausgelitten, und wir konnten ihm bloß ein ehrliches Begräbnis schaffen. Nun blieb uns nur die Rache.«

»O Herr!« rief Jeanie ein, erschüttert von dem Gehörten, »und Sie gedachten des Bibelwortes nicht: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr?« – »Bibel?« fragte Georg Staunton höhnisch, »was soll sie mir? »Ich habe sie seit fünf Jahren nicht aufgeschlagen!« – »Heiliger Gott! Weh mir!« rief Jeanie, »und solche Rede aus dem Mund eines Predigersohnes?«

»Daß Sie so reden, ist begreiflich« nahm er wieder das Wort; »aber lassen Sie mich meine Erzählung, so fluchwürdig sie ist, zu Ende bringen. Porteous, der Stadtgarden-Hauptmann, wurde durch die übertriebene Pflichterfüllung sowohl mir als der ganzen Edinburger Bevölkerung verhaßt, besonders dadurch, daß er auf den Pöbel schießen ließ und selbst schoß, als gar keine Notwendigkeit mehr dazu vorlag. Alles schwor ihm Rache, aber Vorsicht war von nöten; denn mir war es so vorgekommen, als ob mich einer von den Fronen erkannt hätte. Ich verhielt mich also in der Nähe der Stadt, setzte aber keinen Fuß hinein, bis es mich zuletzt nicht länger hielt, mich nach Effie und ihrem und meinem Knaben umzusehen. Die Wohnung fand ich, aber weder Effie noch das Kind – beide waren verschwunden, und die Murdockson sagte mir, sobald Effie gehört habe, Wilsons Befreiung sei fehlgeschlagen, und die Polizei sei scharf hinter mir her, sei sie in ein hitziges Fieber verfallen und, kaum genesen, bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bot, entflohen. Ich überschüttete sie mit Vorwürfen, drohte mit der Polizei; aber sie blieb kalt, meinte, ich hätte mehr auf dem Kerbholze als sie, und Rache, mit der ich nun drohte, hätte ich nach allem, was zwischen ihr und mir vorgefallen, mehr zu fürchten als sie. Ich raste hinweg und betraute einen Kameraden, sich nach Effie in Sankt-Leonard zu erkundigen. Nach einem fernen Schlupfwinkel – denn die Polizei verfolgte mich unablässig – brachte er mir die Nachricht, daß Porteous zum Tode verurteilt und Effie in den Kerker abgeführt worden sei. Noch einmal wagte ich mich in die Wohnung der Murdockson und sagte ihr ins Gesicht, sie hätte Effie tückisch in Elend und Jammer gebracht, bloß um sich auch noch des Geldes, das ich Effie dagelassen, zu bemächtigen. Jetzt aber hat mir Ihre Erzählung von der Verfolgung, der Sie ausgesetzt gewesen, das rechte Licht gebracht; jetzt weiß ich, daß Rachedurst das Motiv ist, das sie leitet. Herrgott! Warum hat sie nicht mich dem Schafott überliefert!«

»Aber was sagte sie von Effie und ihrem Kinde, die Elende?« fragte Jeanie, trotz aller Schrecknisse der Erzählung noch immer gefaßt und besonnen genug, um diejenigen Punkte zu erfassen, die Licht in die unglückliche Lage der Schwester zu bringen vermöchten.

»Sie weigerte alle Auskunft, meinte, ihres Wissens sei Effie mit ihrem Kind auf dem Arm bei Mondschein entwichen und habe das arme Ding vielleicht in die See geworfen.« – »Aber Sie halten es für nicht wahr?« rief Jeanie zitternd; »und warum nicht?« – »Weil ich diesmal die Tochter traf und von ihr herausbrachte, das Kind sei während Effies Krankheit weggeschafft oder ermordet worden. Aber all diese Auskünfte waren zu unsicher, als daß sich Weiteres hätte in Erfahrung bringen lassen. Bloß läßt mich der teuflische Charakter dieser alten Furie alles befürchten.«

»Die letzte Kunde stimmt mit der Aussage meiner armen Schwester überein,« sagte Jeanie; »aber, Herr, ich bitte Sie, Ihre eigene Erzählung fortzusetzen,«

»Daß Effie, so lange sie bei Verstand gewesen, keinem sterblichen Wesen ein Leid hat zufügen können, davon bin ich überzeugt,« erklärte Staunton, »was aber konnte ich tun, sie zu rechtfertigen? Nichts – und das brachte mich außer mir! Ich versuchte alles, sie zu retten, kroch demütig vor der alten Hexe, in deren Hand ja auch mein Leben lag, tat als ob ich ihr vertraute, aber ob sie mir auch Proben ihrer Treue gab, gelangte ich doch durch sie zu nichts Bestimmtem für Effies Rettung. Da brachte mich die Wut, die in ganz Edinburg über die dem Schufte Porteous bewilligte Galgenfrist herrschte, die ja immer nur das Vorspiel gänzlicher Begnadigung ist, auf den Einfall, mit dem Pöbel den Kerker von Edinburg zu stürmen, und so nicht bloß den Schuft der verdienten Strafe zu überantworten, sondern Ihre Schwester, Jeanie, den Klauen der Justiz zu entwinden. Als die Gärung den Höhepunkt erreicht, stürzte ich unter die rasende Menge, die mich zum Anführer wählte, und führte den Plan aus. Einem Vertrauten gab ich Auftrag, Effie, sobald die Meuterei das Gefängnis verließen, an einen sichern Ort zu geleiten, von wo ich mit ihr über See fliehen wollte. Aber alle Überredungskunst, die ich in der Eile des Augenblicks aufwandte, scheiterte an ihrem Starrsinn. Die Ehre sei verloren, sagte sie, und so habe auch das Leben für sie keinen Wert mehr.«

»Es war recht von ihr gehandelt,« sagte Jeanie, »zu bleiben, und ich liebe sie darum nur mehr.« – »Was soll das heißen?« rief er. – »Es wäre müßig, Ihnen Gründe darzulegen, für die Sie doch nicht Verständnis finden würden, denn wer nach dem Blute seines Feindes dürstet, hat keinen Sinn für den innersten, heiligsten Bronnen des Lebens.«

»So wurden meine Hoffnungen,« fuhr Staunton fort, »zum zweiten Male getäuscht. Mein nächster Versuch war, durch Ihre Hilfe dem wider Effie angehängten Prozesse einen günstigen Ausgang zu geben. Aber darüber brauche ich Ihnen nichts zu sagen, denn diese Vorgänge sind Ihnen ja so bekannt wie mir. Meinen Sie meinetwegen, es auch in mir mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben! Ich wußte nicht, wohin mich wenden, da alle meine Anstrengungen umsonst waren; und so floh ich aus Schottland, erreichte das Vaterhaus, mein elendes Aussehen erwärmte das Herz des Vaters, und er gewährte mir Verzeihung. Hier habe ich nun in Seelenangst, wie sie schlimmer kein dem Tode geweihter Verbrecher fühlen kann, den Verlauf des Prozesses gegen Effie abgewartet.« – »Ohne Schritte zu ihrem Heile zu tun?« fragte Jeanie. – »Ich hatte noch immer Hoffnung, es werde einen glücklichen Ausgang für sie nehmen,« antwortete er, »und erst vorgestern erreichte mich die Unglückskunde. Ich wußte, was mir allein noch zu tun blieb, und saß im Nu auf meinem besten Rosse, nach London zu jagen und von dem Staatssekretär der Justiz, Robert Walpole, Effies Leben zu erkaufen durch Auslieferung des berüchtigten Georg Robertson, des Spießgesellen von Andrew Wilson und Anführers des Edinburger Pöbels im Porteous-Aufruhr.«

»Und Sie meinen, das hätte meiner Schwester das Leben gerettet?« fragte Jeanie.

»So, wie ich die Sache eingefädelt hätte, ja!« antwortete er mit Festigkeit; »Rache ist ein Gift, das den Gaumen des Fürsten kitzelt wie den des Bauern. Was kann dem Staate liegen am Leben eines schlichten Landmädchens? Aber für das Haupt solch frecher Verschwörung gegen die Landesgesetze hätte man mir die Kronjuwelen nicht geweigert. Doch auch dieser Plan, der nicht mißlungen wäre, mußte scheitern, denn keine zehn Stunden von hier stürzte mein sonst so sichres Roß in eine Schlucht, wie von einer Kanonensalve niedergestreckt. Der Himmel ist gerecht und wollte mir den Mut nicht gönnen, freiwilligen Ersatz für Ihre Schwester zu stellen. Ich litt schweren Schaden an meinem Leibe und wurde in dem Zustande aufgefunden und zurückgebracht, in welchem Sie mich hier sehen.«

Kaum hatte Georg Staunton geendigt, als die Tür aufging und Toms ängstliches Gesicht sich in ihrem Rahmen zeigte. »Seine Hochwürden sind auf dem Wege die Treppe herauf, um Ihnen einen Besuch zu machen, gnädiger Herr!«

»Ums Himmels willen, Jeanie, verstecken Sie sich!« rief der junge Staunton, »dort im Ankleidezimmer!« – »Nein, Herr,« versetzte Jeanie, »ich bin nicht in böser Absicht hier und kann die Schande nicht auf mich laden, mich vor dem Herrn des Hauses zu verstecken.« – »Aber, Gott im Himmel, so bedenken Sie doch!«

Doch ehe er ausgesprochen hatte, ging die Tür auf, und sein Vater trat herein.

Zehntes Kapitel

Jeanie stand sogleich auf, um dem Prediger, dessen Verwunderung, sie in Gesellschaft seines Sohnes zu finden, schier keine Grenzen fand, einen artigen Knicks zu machen.

»Ich sehe, daß ich Sie doch nicht recht beurteilt habe,« sagte er, sich an sie wendend, »und hätte es wohl dem jungen Manne überlassen sollen, Sie zu examinieren und Ihnen die erlittene Unbill weit zu machen, denn es scheint, die beiden Personen sind alte Bekannte.«

»Daß ich hier bin,« antwortete Jeanie, »ist ganz wider meinen Willen; der Diener sagte, der Herr wollte mich sprechen, und hat mich hierher geführt.«

»Na,« murmelte Tom vor sich hin, »auf die Weise muß ich's wieder ausbaden! Die Schwerenot über das Frauenzimmer! Muß sie auch gerade die Wahrheit reden! Jeder andere Bescheid hätte es doch auch getan!«

»Georg!« wandte sich Herr Staunton an seinen Sohn, »wenn Du auch von Deinen Gewohnheiten noch immer nicht gelassen hast, so hättest Du doch Deinem Vater und Deinem Hause solch unangenehmen Auftritt ersparen können!«

»Bei meinem Leben, meiner Ehre, Vater,« rief der Jüngling. »Wenn Sie in allen Hinsichten auch recht haben, mich zu tadeln, in dieser haben Sie unrecht! Bei meiner Ehre, unrecht!«

»Bei Deiner Ehre!« wiederholte der Vater, sich geringschätzig von ihm weg und, zu Jeanie wendend. »Von Ihnen, junge Person, begehre und erwarte ich keine Erklärung; aber als Vater dieses jungen Menschen und Herr dieses Hauses befehle ich Ihnen, sich aus diesem Hause zu entfernen.«

»Nein, Vater,« rief Georg, trotz aller Schmerzen, die ihn plagten, aufspringend, »Sie sind von Herzen gut und human, und meinetwegen sollen Sie nicht grausam und inhuman werden! Heißen Sie den Aufpasser dort gehen!«»sagte er, auf Tom zeigend, »und geben Sie mir ein paar von den stärkenden Tropfen; dann will ich Ihnen die Geschichte meiner Bekanntschaft mit dem Mädchen erzählen, die um meinetwillen ebenfalls nicht in schlimmen Verdacht geraten soll! Dazu habe ich ihrer Familie schon zu schweres Leid angetan, und hab's nur zu gut empfunden, wie tief der Verlust eines guten Namens schmerzt.«

»Gehen Sie,« sagte der Prediger, zu Tom und schloß hinter ihm die Tür ab. Dann wandte er sich zu seinem Sohne: »Ich bin bereit, die neue Ehrlosigkeit von Dir zu hören.«

Der junge Staunton wollte eben zu sprechen anfangen, als ihm Jeanie, in einem jener Momente besonnenen Mutes, der starke Seelen auszeichnet, das Wort vom Munde abschnitt, indem sie sich an Staunton den Vater wandte: »Mein Herr! Sie haben wohl das Recht, Ihren Sohn über sein Betragen zur Rede zu stellen; aber ich bin hier bloß Passantin und als solche Ihnen in keiner Weise verpflichtet, es sei denn für die Mahlzeit, die Sie mir freundlich reichen ließen; die wir in Schottland aber für jeden übrig haben, ob reich oder arm, und die ich gern bezahlt hätte, wenn ich nicht hätte fürchten müssen, mit solcher Zumutung zu beleidigen.«

»Alles ganz gut und schön,« antwortete, nicht wenig erstaunt, der Geistliche, »aber wir wollen bei der Sache bleiben; es gefällt mir wenig, daß Sie sich herausnehmen, dem jungen Manne den Mund zu verbieten, als er willens war, sich seinem Vater zu offenbaren über ein Verhältnis, das nicht eben erfreulich zu sein scheint.«

»Von seinen eignen Angelegenheiten mag er sprechen, was und soviel er will,« antwortete Jeanie; »aber von den Meinigen soll nichts bekannt werden ohne ihr Wissen und ihren Willen, und ich muß mir ausbitten, daß Sie Herrn Georg Ro – oder Staunton – wie sein Name nun heißen mag – nicht über die Meinigen ausfragen; denn sofern er auf den Namen eines Christen oder Edelmannes Anspruch erhebt, darf er solcher Aufforderung nicht nachkommen.«

»Ich fühle, Vater,« sagte der Jüngling, »mit meinem Worte zu rasch gewesen zu sein, denn es steht mir wirklich kein Recht zu, über ihre Angehörigen etwas auszusagen, sofern sie mir die Erlaubnis dazu verweigert.«

Wieder ließ der Prediger seinen Blick erstaunt vom einen zur andern gleiten. »Ich fürchte, was hier spielen mag, ist schlimmer als alles, was meine Ohren bis jetzt über Dich hörten, Georg! Ich bestehe aber gerade darum darauf, dies Geheimnis zu erfahren.«

»Ich habe schon erklärt, daß ich ohne Erlaubnis des Mädchens nicht sprechen darf,« sagte der Sohn.

»Und ich verfüge über keine Geheimnisse,« sagte Jeanie, »sondern habe Sie nur noch zu bitten, Herr, als Prediger des Evangeliums und rechtschaffener Mann, mich nach dem nächsten Gasthause auf der Londoner Straße führen zu lassen.«

»Für Ihre Sicherheit werde ich sorgen,« rief der Jüngling; »Sie sollen nicht notwendig haben, von anderen, was meine Pflicht ist, als Gunst zu erbitten.«

»Wagst Du so in meiner Gegenwart zu sprechen?« rief der jetzt mit Recht erzürnte Vater. »Willst Du durch eine Mißheirat das Maß Deiner Vergehen füllen? Aber nimm Dich in acht, ich rate es Dir.«

»Wenn Sie das im Hinblick auf mich befürchten, Herr,« sagte Jeanie, »so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich für alles Land von einem Ende des Regenbogens zum andern Ihren Sohn nicht zum Manne nähme.«

»In all diesen Dingen steckt etwas, was ich mir nicht erklären kann,« sagte der Prediger; »komm mit mir in das andere Zimmer, Mädchen!«

»Höre mich erst an, Jeanie Deans,« rief der Sohn ihr zu; »nur ein Wort, ich baue auf Deinen Verstand. Entdecke meinem Vater soviel Du willst von diesen Dingen, durch mich soll er nicht mehr erfahren.«

Sein Vater warf ihm einen unwilligen Blick zu, der sich aber zu gramvoller Sorge milderte, als er ihn, erschöpft von dem Vorgange, auf sein Lager zurücksinken sah. Er ging aus der Stube und Jeanie folgte ihm. Als sie über die Schwelle ging, erhob sich Georg Staunton und rief ihr mit feierlich ermahnendem Tone nach: »Bleib eingedenk!«

»In Deiner Miene und Deinem Wesen,« sagte der Prediger, als er mit Jeanie allein war, »liegt etwas, das auf Verstand und Unbefangenheit und auch Unschuld schließen läßt, sofern ich nicht irre – Du müßtest denn auch die größte Heuchlerin sein, die mir je vor Augen gekommen. Ich will Dich nach keinem Geheimnis fragen, am wenigsten nach solchem, die meinen Sohn betreffen. Seine Aufführung hat mir schon zu viel Kummer bereitet, als daß ich je Trost oder Freude von ihm erwarten dürfte. Glaube mir aber, Deine Verbindungen mit ihm seien, wie sie wollen, je eher Du ihnen entsagst, desto besser.«

»Ich verstehe Sie, Herr,« versetzte Jeanie! »da Sie selbst aber so freimütig über Ihren Sohn sprechen, muß ich Ihnen sagen, daß ich ihn heute erst zum zweitenmal in meinem Leben gesprochen; und was ich hier aus seinem Munde hörte, legt mir den Wunsch nahe, nie wieder Aehnliches zu hören.«

»So ist es also Deine ernstliche Absicht, diese Gegend auf der Stelle zu verlassen und nach London zu gehen?«

»Allerdings, Herr; denn ich kann in gewissem Sinne sagen, daß mir der Bluträcher nachjage; und wäre ich nur gegen Unheil auf dem Wege geschützt – –«

»Ich habe über jene verdächtigen Menschen, die Du mir beschrieben, Erkundigungen einziehen lassen; sie sind nicht mehr in ihrem Schlupfwinkel angetroffen wurden; doch könnten sie in der Nachbarschaft lauern, und da Du persönliche Gründe hast, vor ihnen auf der Hut zu sein, will ich Dich der Fürsorge eines sichern Begleiters überantworten, der Dich nach Stamford bringen und Dir dort Gelegenheit verschaffen soll, mit der Landkutsche weiter zu kommen.«

»Eine Kutsche schickt sich nicht für Leute meines Standes,« sagte Jeanie, denn sie wußte nichts von Postwagen, die damals nur in der unmittelbaren Nähe Londons gebräuchlich waren. Herr Staunton gab ihr einige Auskunft über diese bequemere, wohlfeilere und sichrere Art zu reisen; und sie gab ihrer Dankbarkeit hierfür so aufrichtigen und unbefangenen Ausdruck, daß er sich zu der Frage veranlaßt fühlte, ob es ihr auch nicht an Geld fehle? Sie sagte indes, sie habe noch so viel, als sie brauche, um bis London zu kommen; und wirklich war sie auch mit ihrer kleinen Barschaft sehr sparsam umgegangen.

Herr Staunton befragte sie dann, nach welchem Stadtviertel von London sie zu gehen wünsche.

»Zu meiner Muhme, der Frau Glas, die einen Rauch- und Schnupftabak-Laden »zum Dornbusch« in London hat,« antwortete Jeanie, nicht ohne einen Anflug von Selbstgefühl, denn sie meinte nicht anders, als daß dieser Bescheid dem Geistlichen imponieren müsse.

»Und ist das Deine einzige Bekannte dort, mein armes Kind?« fragte dieser mitleidig. »Weißt Du wirklich keine bessere Adresse, als Du hier angibst?«

»Ich will auch zum Herzog von Argyle,« sagte Jeanie; »wenn Sie indessen meinen, es sei besser, erst zu diesem zu gehen, so könnte ich ja einen von dessen Leuten bitten, mir meiner Muhme Laden zu zeigen.«

»Hast Du Bekannte unter der Dienerschaft des Herzogs?«

»Nein, Herr.«

»Es scheint doch nicht ganz richtig mit ihr,« dachte der Geistliche, »sonst könnte sie sich wohl nicht einbilden, bei solchem Herrn ohne alle Fürsprache vorgelassen zu werden«. »Aber,« wandte er sich zu ihr, »wenn ich den Grund Deiner Reise nicht wissen darf, dann kann ich Dir doch auch nicht raten. Merke Dir aber, daß die Gasthofswirtin, bei der Du einkehren wirst, eine brave, anständige Frau ist; ich kenne sie, denn ich steige, hin und wieder bei ihr ab und will Dir ein Paar Worte an sie mitgeben.«

Jeanie dankte ihm für diese Güte.

»Mit dem Brief von Euer Gnaden,« fügte sie, »und dem von der braven Frau Bickerton von den sieben Sternen zu Durk kann's mir ja kaum in London fehlen.«

»Und nun willst Du wohl so bald wie möglich fort?«

»Wäre ich in einem Gasthof oder sonst einer schicklichen Raststelle abgestiegen, würde ich am Tage des Herrn meine Wanderung nicht fortsetzen. Da ich aber einen Weg der Barmherzigkeit vorhabe, wird es mir hoffentlich nicht als Sünde angerechnet werden, daß ich es tue.«

»Wenn es Dir recht ist, kannst Du den Abend bei Frau Dalton bleiben; ich möchte bloß nicht haben, daß Du mit meinem Sohn noch einmal sprächest, der keinesfalls ein Mensch ist, auf dessen Rat Du etwas geben solltest, möge Deine Situation noch so schlimm sein.«

»Euer Gnaden haben recht, und durch mich ist auch die Unterhaltung, in der Sie mich mit ihm trafen, nicht herbeigeführt worden. Ich wünsche dem jungen Herrn alles Gute, doch es wäre mir lieber, ich sähe ihn in meinem Leben nicht wieder.«

Der Geistliche ließ Frau Dalton rufen und bat sie, für Jeanie aufs beste zu sorgen. Dann verabschiedete er sich ernst und würdevoll von ihr, indem er ihr nochmals Geleit für den anderen Morgen nach Stamford zusicherte. Die Hausverwalterin führte sie wieder zu ihrem Stübchen, der Abend sollte indes nicht vorübergehen, ohne daß sie nochmals von Georg Staunton belästigt wurde. Thomas drückte ihr nämlich einen Zettel in die Hand, der ihr den Wunsch oder vielmehr das dringende Verlangen des jungen Mannes meldete, ihm auf der Stelle eine nochmalige Unterredung zu gewähren; er habe dafür Sorge getragen, daß keine Störung zu erwarten sei.

»Sage Deinem jungen Herrn,« erwiderte Jeanie laut, ohne sich durch die Winke und Zeichen das Lakaien irre machen zu lassen, »daß ich seinem ehrenwerten Vater fest versprochen habe, mich nicht mehr mit ihm zu befassen.«

Thomas zog sich darauf kleinlaut zurück, zumal auch Frau Dalton die günstige Gelegenheit nicht vorüber gehen ließ, ihm einen derben Denkzettel zu erteilen.

Nach einer ruhigen Nacht verließ Jeanie früh am andern Morgen die gastliche Pfarrei; auf einem Reitkissen saß sie hinter einem rüstigen, wohlbewaffneten Landmann auf einem tüchtig ausschreitenden Pferde. Eine Zeitlang ging es einen Feldweg entlang, der aber bald auf die Landstraße führte; bis dorthin war kein Wort zwischen ihnen gefallen. Nachher aber fragte sie der Bauer, ob sie nicht die Jeanie Deans sei, die Pächterstochter von Sanct Leonard. Verwundert bejahte sie die Frage.

»So hab' ich hier was für Euch,« sagte der Mann und reichte ihr ein Zettelchen über die linke Schulter; »es kommt, glaub ich, von unserem jungen Herrn, dem ja bei uns in Willingham jeder gern zu Gefallen tut, aus Liebe oder aus Furcht, was er ihm von den Augen absehen kann – wird er ja doch einmal unser Herr, mögen auch die Leute von ihm reden, was sie wollen.«

Jeanie erbrach das Siegel und las: »Sie wollen mich nicht sehen, wahrscheinlich weil Sie sich bangen; ich hätte Ihnen doch vielleicht manches nicht sagen sollen; aber meine Aufrichtigkeit zeigt Ihnen, daß ich, mag ich noch so schlecht sein, zum wenigsten kein Heuchler bin, Sie haben gesehen, daß ich meine eigene Ehre, die Ehre der Meinigen, ja mein Leben für Ihre Schwester zu opfern bereit bin, und Sie weigern sich doch zu kommen? Sie achten mich zu gering, halten mich nicht für wert, etwas für Sie zu tun. Nun, wollen Sie auch von mir nichts wissen, so ist doch das Opfer, das ich bringen will, einiger Beachtung wert; wer weiß, ob nicht die vergeltende Gerechtigkeit des Himmels mir den traurigen Ruhm versagt, das Opfer aus eigenem freien Willen zu bringen? Da Sie nun von mir nichts wissen wollen, müssen Sie eben selbst zusehen, wie Sie bei der Sache, die mich soviel beschäftigt, wie Sie zurecht kommen. So gehen Sie denn zum Herzog von Argyle, und sollten alle Ueberredungskünste nichts helfen, so sagen Sie ihm, es stünde in Ihrer Macht, den Mann der Obrigkeit zu überliefern, der den Edinburger Pöbel im Porteus-Aufstande angeführt hat. Wenn Sie ihm das sagen, so predigen Sie keinen tauben Ohren: das kann ich Ihnen versichern. Stellen Sie die Bedingungen, wie Sie wollen: Wo ich zu finden bin, wissen Sie; daß ich nicht fliehen werde, wie einst bei den Muschat-Steinen, um der Gefahr zu entrinnen, wissen Sie auch. Im Vaterhause werde ich bleiben – will mich gleich von dem Hasen zerreißen lassen, wo man mich aufjagt. Daß Sie als Lohn für die Auslieferung dieses Verbrechers das Leben Ihrer Schwester fordern können, fordern müssen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, aber daß Sie auch Amt und Einkommen für Butler fordern dürfen, will ich Ihnen noch sagen, denn man wird Ihnen alles gewähren, wenn Sie dem Henker einen Menschen überliefern, der zwar jung an Jahren, aber alt an Sünden ist und der kein anderes. Verlangen mehr hat, als nach den Stürmen eines wilden Lebens sein Haupt niederzulegen und zu schlafen,«

Dieser wunderliche Brief war mit den Anfangsbuchstaben G. S. unterschrieben. Jeanie las ihn zweimal mit größter Aufmerksamkeit durch; dann aber zerriß sie ihn in lauter kleine Schnippelchen, die sie dem Winde als Beute ließ, um zu verhindern, daß ein so gefährliches Geheimnis in fremde Hände gerate. Dann ging sie mit sich zu Rate, ob sie im äußersten Falle das Recht habe, den Mann, von dem ihr das Schreiben zugegangen, für die Schwester zu opfern. Einerseits wollte es ihr als gerechte Wiedervergeltung bedünken, daß derjenige, der ihre Schwester ins Unglück gebracht, auch die Strafe dafür leide. Anderseits aber widerstrebte es ihrem strengen Sittlichkeitsgefühl, daß Effie als die Mitschuldige nicht bloß straffrei ausgehen, sondern ihr Leben behalten, weil Staunton es verlieren sollte. Zudem betrachtete sie die am Hauptmann Porteous verübte Rache als Schottin, mithin durchaus nicht als ungehörig oder gar als straffälligen Verstoß gegen Recht und Gesetz, sondern zitterte vielmehr bei dem Gedanken, durch eine Denunziation des Rädelsführers als Verräterin an ihrem Volke angesehen zu werden. Und doch wieder war es eine schreckliche Marter für ihr liebendes Herz, das Mittel zu Effies Rettung in der Hand zu haben und nicht brauchen zu dürfen.

»O, daß Gott mich leiten und mir helfen möge!« rief Jeanie, »sofern es Sein Wille ist, mich solchen Prüfungen auszusetzen, unter denen meine Kraft schier zu erliegen droht.«

Während Jeanie sich in diesen Betrachtungen erging, schien ihr Führer, ein braver, rechtlicher Mensch, dessen Empfindungsvermögen aber nicht über den Stand hinausging, dem er angehörte, des Schweigens müde und mitteilsamer zu werden; sein Horizont reichte nicht über Willingham hinaus, und so beschränkte er seine Unterhaltung auf die Familie, der Willingham gehörte. Auf diese Weise erfuhr indes Jeanie mancherlei Umstände, von denen sie bisher keine Kenntnis hatte, und deren Kenntnis auch für unsere Leser vorteilhaft sein wird, indem sie ihnen den bisherigen und auch den künftigen Verlauf unserer Erzählung leichter verständlich machen werden.

Georg Stauntons Vater hatte in seinen jüngeren Jahren in dem britischen Heere gedient, war nach Westindien versetzt worden und hatte sich dort mit der Erbin eines reichen Pflanzers verheiratet. Aus dieser Ehe war ein einziges Kind hervorgegangen, eben der unglückliche junge Mann, der im Verlaufe unserer Erzählung schon allzu oft eine Rolle gespielt hat. Georg Staunton verlebte seine Kindheit im Elternhause, abgöttisch geliebt von seiner schwärmerischen Mutter und verhätschelt von der Dienerschaft, die ihm alles an den Augen abzusehen beflissen war. Sein Vater war ein würdiger und kluger Mann, der aber von seinem Dienste so stark in Anspruch genommen wurde, daß ihm wenig Zeit blieb, sich um seine Häuslichkeit und die Erziehung seines Sohnes zu kümmern. Wohl entging ihm nicht, daß seine Frau dem Knaben allen Willen ließ; es fiel ihm aber sehr schwer, sie darüber zur Rede zu stellen, weil sie einen krankhaften Eigensinn besaß und, auf ihre Schönheit pochend, vor häuslichen Szenen nicht zurückscheute, wenn es ihr darauf ankam, ihren Willen durchzusetzen; ihm ging nun für die wenigen Stunden, die er in seiner Häuslichkeit verbringen konnte, die Ruhe über alles, und so neigte er mehr dazu, fünf gerade sein zu lassen, als daß er sich energisch aufgerafft und seinen Willen zur Geltung gebracht hätte. Das hinderte ihn freilich nicht, dann und wann es doch mit einem Versuche zu wagen, Wandlung in die verkehrte Erziehung seines Kindes zu bringen; aber diese Versuche schadeten mehr, als sie besserten; denn er war dann in der Regel heftig und ungeduldig, und die Mutter, wenn sie sich dadurch gekränkt oder verletzt fühlte, besaß nicht Taktgefühl genug, dem Knaben gegenüber darüber zu schweigen, sondern ließ sich zuweilen vom Zorne verleiten, vor dem Kinde über den Vater zu schelten, so daß dieses sich früh daran gewöhnte, in dem Vater keinen liebenden Berater und Führer, sondern einen nörgelsüchtigen Pedanten zu erblicken, dessen Nähe er verabscheute, weil er sich bedrückt und behindert in derselben fühlte.

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