In der andern Woche traf, wie Effie geschrieben, der Herzog auf Roseneath ein und meldete sich in der Pfarrei als Gast an; schon bei dem ersten Mittagessen, das er dort einnahm, brachte er gleich die Rede auf Lady Staunton von Willingham in Lincolnshire und erzählte von dem Aufsehen, das ihr Witz und ihre Schönheit in London wachriefen. Jeanie hatte sich doch anders besonnen, als Hauptmann Knockdunder in seiner »sechsspännigen Equipage« wieder abgefahren war. Sie hatte sich gesagt, daß es ein gar zu schreckliches Geheimnis sei, das sie ihrem Manne offenbaren müsse, wenn sie ihn von dem durch den Hauptmann ihr überbrachten Briefe Kenntnis geben wolle. Wie konnte sie wissen, ob er es mit seinem geistlichen Berufe für vereinbar halte, dasselbe in seinem Heizen zu verschließen? Daß Effie mit jenem schrecklichen Robertson entflohen sei, mußte er ja ohnehin annehmen, aber davon, daß dieser Robertson identisch sei mit Georg Staunton, der eine solche Stellung jetzt in der englischen Gesellschaft einnahm, davon wußte er nichts, und das ahnte er auch gewiß nicht! Darum hielt sie es für richtiger, dem Manne gegenüber reinen Mund zu halten: das Geld wollte sie erst zurückschicken, entschied sich aber später ebenfalls anders, indem sie sich vornahm, es auf die Erziehung der Kinder zu verwenden.

Die Worte des Herzogs trafen sie also in mancher Hinsicht nicht unvorbereitet; in anderer Hinsicht aber überraschten sie dieselben. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß Effie in ihrer Bildung es so weit bringen werde, daß sie die Aufmerksamkeit der Londoner Gesellschaft, wie der Herzog sagte, damit wachrief; war es ihr doch nicht bekannt, daß man in den höheren Ständen über die Menschen ebenso gern herzieht, wie in den unteren Klassen. Der Herzog bemerkte vielleicht einen Zug von Ungläubigkeit in dem Gesichte der Frau Pfarrerin, denn er setzte jetzt hinzu: »O, wie ich Ihnen sage; sie war im vergangenen Winter die gefeiertste Schönheit, der leuchtende Stern! Keine Dame, die beim Geburtsfeste Seiner Majestät zur Cour erschien, konnte mit ihr wetteifern!«

»Wie zur Cour? Wie bei Hofe?« und Jeanie dachte der Audienz, die sie selbst bei der Königin gehabt, und all die seltsamen Umstände, unter denen sie sich vollzogen hatte, zogen noch einmal an ihrem Geiste vorüber.

»Ich spreche nur darum Ihnen gegenüber von dieser Dame,« bemerkte der Herzog, »weil mich der Klang ihrer Stimme und der Schnitt ihres Gesichts in so eigentümlicher Weise an Sie erinnerte, Frau Butler; aber wenn Sie so bleich aussehen wie heute, dann verliert sich dieser Zug von Ähnlichkeit. Sie haben sich gewiß zu sehr angestrengt um meinetwillen, Frau Butler. Ich muß Sie deshalb schon bitten, mir mit einem Gläschen Wein Bescheid zu tun.« – Während sie der Aufforderung des Herzogs nachkam, meinte Reuben, es sei für eine schlichte Predigersfrau doch eine gar nicht so unverfängliche Schmeichelei, durch herzogliche Durchlaucht mit einer Schönheit bei Hofe verglichen zu werden. – »Ei, ei! Herr Pfarrer, Sie werden doch nicht etwa eifersüchtig? Damit kämen Sie aber ein bißchen zu spät; denn ich gehöre ja schon geraume Zeit zu den Verehrern Ihrer lieben Frau. Aber im Ernste, zwischen den beiden Damen besteht Aehnlichkeit, und zwar eine jener unerklärlichen Ähnlichkeiten, die man in Gesichtern findet, die, sich doch eigentlich nicht ähnlich sehen.« – Jeanie mochte fühlen, daß es einen ungünstigen Eindruck auf den Herzog machen müßte, wenn sie sich aller Aeußerung zu der Frage enthielte, und meinte, die Aehnlichkeit könne vielleicht mehr in dem Anklange des hochländischen Idioms liegen als im Aussehen oder doch den Eindruck desselben wesentlich beeinflussen. – »Sie dürften mit dieser Meinung den eigentlichen Kernpunkt getroffen haben,« erwiderte der Herzog, »die Dame, ist tatsächlich Schottin und spricht auch das Englische mit schottischem Accent, ja hin und wieder passiert es ihr, daß ihr eine echt provinzielle Wendung entschlüpft, was sich aber immer wie lauter Poesie anhört. – »Ich hätte gemeint,« warf Reuben Butler dazwischen, »daß die vornehme Welt eine Redeweise, die sich nicht frei von provinziellen Wendungen zu halten weiß, für vulgär ansieht?« – »Nicht im geringsten, lieber Herr Pfarrer, nicht im geringsten,« antwortete der Herzog, »denn Sie dürfen nicht etwa meinen, die Dame spräche jenes grobe schottische Platt, das man in den Edinburger Vorstädten hört... Meines Wissens hat die Dame überhaupt nur wenig in Schottland gelebt, sondern ist in einem ausländischen Kloster erzogen worden. Sie spricht das reine, vornehme Schottisch, das zu meiner Jugendzeit am Hofe gesprochen wurde, aber jetzt leider so außer Gebrauch gekommen ist, daß es einen wie fremdartig anmutet, wenn man es noch einmal hört.«

So große Beklommenheit Jeanie fühlte, konnte sie sich doch nicht genug wundern, wie sich auch ein so feiner Kenner der gesellschaftlichen Verhältnisse wie der Herzog von Argyle von einer vorgefaßten Meinung so vollständig beherrschen lassen konnte. Der Herzog aber fuhr fort: »Die Dame entstammt dem vom Unglück schwerverfolgten Geschlechte der Wintons. Infolge ihrer im Auslande vollendeten Erziehung ist sie jedoch mit ihrem Stammbaume nicht recht vertraut, und begrüßte es recht dankbar, als ich ihr sagte, daß sie ein Seton von Windygout sei. [Vergleiche hierüber den Roman »Der Abt« von Walter Scott.] Ich hätte Ihnen gewünscht, die Röte zu sehen, die infolge dieser Belehrung ihre Wangen färbte. Ich wurde an die Rose erinnert, die verborgen und ungepflückt im keuschen Schatten eines Klostergartens blüht.«

»Ut flos in septis secretus nascitur hortis« [Wie das Blümchen erblüht, versteckt im umfriedeten Garten], konnte der an klassischen Sentenzen reiche Pfarrer sich nicht erwehren, aus Catull zu zitieren, während die Frau Pfarrerin es kaum für möglich halten konnte, daß sich alle die Reden und Worte auf ihre einst so unglückliche Schwester beziehen sollten. Sie meinte jedoch, die Gelegenheit, die sich ihr so unerwartet bot, über Effies Verhältnisse einiges Nähere zu erfahren, wahrnehmen zu sollen, wenn auch nur, um sich über die bangen Sorgen hinwegzutäuschen, in die sie durch die Aeußerungen des Herzogs versetzt wurde; darum wagte sie einige Fragen nach dem Gemahl der Dame, die Seine Herrlichkeit in so hohem Maße interessierte.

»Es ist ein sehr vermögender Herr, und ein Herr aus sehr altem vornehmen Geschlecht,« erklärte der Herzog, »auch ein Herr natürlich, der über ein sehr feines und vornehmes Benehmen gebietet. Es läßt sich indessen von ihm nicht sagen, daß er in der Gesellschaft die gleiche Beliebtheit besäße wie seine Gemahlin. Manche meinen wohl, daß er ein sehr angenehmer Gesellschafter sei; ich habe ihn als solchen jedoch noch nie kennen gelernt; auf mich hat er immer nur den Eindruck eines finstern, verschlossenen Mannes gemacht. Er soll eine stürmische Jugend hinter sich haben, ist auch nicht im Besitz einer sonderlich festen Gesundheit; immerhin gilt er noch immer als ein stattlicher und auch schöner Herr, der übrigens,« sagte er, zu dem Pfarrer sich wendend, »mit Ihrem Oberkirchenrat in sehr freundlichen Beziehungen steht.« – »Dann hätte er sich ja des Umganges eines unserer würdigsten Herren vom schottischen Adel zu erfreuen,« bemerkte Reuben Butler.

»Verehrt er seine Gattin auch, wie es die Gesellschaft, Ihren Worten nach, Durchlaucht, tut?« fragte Jeanie schüchtern. – »Sir George? Nun, man sagt, er liebe sie abgöttisch,« erwiderte der Herzog. »Indessen habe ich wohl schon, wenn er das Auge auf sie richtet, ein leichtes Erbeben ihrer Züge bemerkt, und das erachte ich für kein sonderlich gutes Zeichen. Ich kann mich aber wirklich gar nicht beruhigen über die eigentümliche Aehnlichkeit, die zwischen Ihnen, Frau Pfarrerin, und Lady Staunton vorwaltet, im Blick sowohl als in der Stimme. Man könnte wirklich schwören darauf, sie müßten Schwestern sein.«

Jetzt war es Jeanie nicht mehr möglich, die Unruhe, die sie quälte, in sich zu verschließen. Der Herzog, bestürzt über die Wirkung seiner Worte, war gutmütig genug, dies auf Rechnung der Erregung zu setzen, in die sie durch seine Unvorsichtigkeit, sie an ihre unglückliche Schwester zu erinnern, geraten war, und wechselte, durch ein Taktgefühl verhindert, sich zu entschuldigen, was das Uebel nicht gebessert, sondern nur verschlimmert hätte, das Thema, indem er einige Differenzen zwischen dem Geistlichen und Hauptmann von Knockdunder erörterte, dem er seinerseits nicht abstreiten wollte, daß er sich nach bestem Wissen und Können befleißige, ihn schicklich zu vertreten, während er ihn anderseits von einer gehörigen Portion Eigensinn und Heftigkeit nicht freizusprechen vermochte.

Reuben Butler erwiderte, daß sich weder gegen das eine, noch gegen das andere etwas sagen ließe, nur sei es zu wünschen, daß sich der Hauptmann im Weingenuß Mäßigung auferlegen, wenigstens in solcher Stimmung nicht allzu derb über die Stränge schlagen möchte; und nun lenkte die Unterhaltung der beiden Herren auf Kirchspielangelegenheiten hinüber, mit denen wir den freundlichen Leser nicht zu behelligen brauchen.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Die Schwestern blieben nun, unter Beobachtung der äußersten Vorsicht, in schriftlichem Verkehr, wie es Effie in ihrem Schreiben gesagt hatte. Lady Staunton klagte jedesmal, daß ihr Gemahl mehr und mehr in Hypochondrie verfalle, und daß sie vor allem sich über ihre Kinderlosigkeit nicht hinwegsetzen könne. Ihr Mann könne sich mit seinem nächsten Leibeserben gar nicht gut stehen, da er denselben im Verdacht habe, unter der übrigen Verwandtschaft gegen ihn zu agitieren, und hätte sich wiederholt verschworen, lieber ganz Willingham einer wohltätigen Stiftung zu vermachen, als ihm einen Stein davon zukommen zu lassen. »Hätte mein Mann Kinder,« schrieb sie, »oder wäre nur jenes arme Wesen am Leben geblieben, um dessentwillen ich soviel und schwer gelitten, dann hätte er doch etwas, was ihn ans Leben fesselte, was ihm das Dasein lieb und wert machte. Aber der Himmel versagt uns solchen Segen, und es muß wohl sein, daß es uns seiner nicht für wert befindet.«

Aus den hohen, weiten Hallen des Willinghamer Schlosses drangen die fruchtlosen Klagen hinüber in das stille, gemütvolle Pfarrhaus zu Knocktarlitie, und Jahre um Jahre flossen darüber hin. Von allen tief, am tiefsten aber von Reuben Butler und seiner Frau bedauert, starb anno 1743 John, Herzog von Argyle und Greenwich. Standen sie auch seinem Bruder und Erben, dem Herzog Archibald, nicht so nahe wie ihm, so trat doch in ihr Verhältnis keinerlei Aenderung, sondern der Schutz, den ihnen Sir John gewährt, blieb auch unter Sir Archibald bestehen. Er tat ihnen aber auch nötiger denn je, da nach dem unglücklich verlaufenen Putsche des Prätendenten Charles Stuart und seiner Niederlage bei Culloden in den beiden Jahren nach dem Tode Sir Johns Ruhe und Frieden in den an die Hochlande grenzenden Distrikten noch geraume Zeit gestört blieben. In den Felsenklüften von Perth, Stirling und Dumbarton rottete sich allerhand Gesindel zusammen, das die romantischen Bergtäler und das Unterland zum Schauplatze seiner Räubereien und Plünderungen machte.

Die Hauptgeißel von Knocktarlitie war der unter dem Namen Donacha Dhuna Dunaigh oder schwarzer Duncan bekannte Räuber, dessen bereits flüchtig in dieser Erzählung gedacht worden. Von Haus aus Kesselflicker, gab er während des in Schottland wütenden Bürgerkrieges sein wenig lohnendes Gewerbe auf und wurde Hauptmann einer Räuberbande. Er war ein kräftiger Mann, kühn und verschlagen und im Hochlande mit jedem Passe, jeder Kluft und Schlucht vertraut. Daß Duncan von Knockdunder seinem Namensvetter, sobald er es ernstlich gewollt hätte, das Handwerk hätte legen können, davon war jedermann überzeugt, gab es doch im Kirchspiel junger, kräftiger Burschen genug, die dem Herzog in den Krieg gefolgt waren und sich ausgezeichnet geschlagen hatten. Man meinte aber, es müsse Donacha irgendwie geglückt sein, sich der Gunst Knockdunders zu versichern, und besonders bestärkt wurde man in dieser Meinung durch den Umstand, daß David Deans' Viehherden von seiten des Räubers verschont blieben, wahrend dem Pfarrer alle Kühe weggetrieben wurden.

Bei einem neuerlichen Ueberfall entschloß sich Reuben, sein friedliches Amt zu verleugnen und an der Spitze einiger Nachbarn den Räubern ihre Beute wieder abzujagen. Natürlich ließ es sich der greise David Deans nicht nehmen, trotz seines hohen Alters seinen Schwiegersohn auf diesem Zuge zu begleiten, und auf seinem hochländischen Klepper, mit dem breiten Schwert an der Seite, glich er ganz David, dem Sohne Jesses, als er wider die Amalekiter zog. Donacha Dhuna Dunaigh wurde durch Reuben und David Deans, wenn auch nicht festgenommen, so doch dermaßen eingeschüchtert, daß er sich geraume Zeit nicht mehr ins Kirchspiel wagte, sondern seine Raubzüge nach entfernteren Distrikten verlegte. Aber vor seinem Namen herrschte noch Furcht und Schrecken bis über das Jahr 1751 hinaus; in diesem Jahre aber wurde, wenn ihn die Scheu vor dem zweiten David zurückgehalten hatte, dieser Zwang durch das Schicksal von ihm genommen, indem in diesem Jahre der ehrwürdige Patriarch zu seinen Vätern versammelt wurde. Reich an Jahren und Ehren, ging David Deans zum Himmel ein. Sein Geburtsjahr kannte niemand; da er sich aber mancher Vorgänge erinnerte, die mit der Zeit nach der Schlacht an der Brücke von Bothwell zusammenfallen, ist der Schluß erlaubt, daß er über neunzig Jahre alt geworden. Dankbar für den ihm durch die Vorsehung während seines Wandels durch dieses Tränen- und Sündental gespendeten Segen, entschlief er in den Armen seiner geliebten Tochter Jeanie, für deren ferneres Wohl er ergreifende Gebete zum Himmel sandte. Lange hörte man ihn dann noch murren über den Verfall der Zeiten und ähnliche Dinge; aber wie die greise May Hettly meinte, schien er nicht mehr recht bei sich und führte solche Reden nur, weil sie ihm zur Gewohnheit geworden waren; sein Ende war ganz das eines frommen Christen, der im Frieden mit seinem Gott, seinem Gewissen und seinen Brüdern selig im Herrn entschläft.

Für Jeanie war es, wenn auch kein unerwarteter, so doch ein recht schwerer Schlag, hatte sie doch seiner Pflege einen großen Teil ihrer Zeit gewidmet und war es ihr doch, als der Greis nicht mehr unter den Lebenden weilte, ganz zu mute, als sei ihre Aufgabe hienieden zu einem nicht unwesentlichen Teile erfüllt. Er hinterließ ein bares Vermögen von 1500 Pfund Sterling, das nicht wenig zur Erhöhung des Wohlstandes der kleinen Pfarrersfamilie beitrug; über die vorteilhafteste Art, dieses Vermögen anzulegen, stellte Reuben die verschiedensten Erwägungen an, fand aber nichts Besseres, als das kleine, knapp zwei Stunden vom Pfarrhause gelegene Gut Craigsture zu kaufen; nur sagte er, daß sein jetziger Eigentümer zweitausend Pfund dafür verlange und schwerlich darein willigen werde, tausend Pfund als Hypothek darauf stehen zu lassen. »Das Geld von anderer Seite zu leihen,« schloß er, »will mir nicht gefallen, denn jedem Gläubiger kann es einfallen, es plötzlich zurückzufordern, oder es könnte Dich, liebe Frau, wenn mich ein schneller Tod ereilen sollte, in ernstliche Verlegenheit setzen.«

»Wir könnten aber, wenn wir mehr Geld hätten,« fragte Jeanie, »das schöne Weideland, auf dem das Gras schon so früh ergrünt, kaufen?« – »Freilich könnten wir das,« erwiderte Reuben, »und Hauptmann Knockdunder, dessen Neffe freilich Verkäufer ist, rät auch dazu; aber ...« – »Nun, Reuben,« antwortete Jeanie, »wie Du einst nach einem Spruch in der Bibel schautest und das Geld, das Dir not tat, fandest, so schlage auch heute wieder jenen Spruch auf.« – Er drückte ihr lächelnd die Hand und sagte: »Ach, Jeanie, Wunder können auch die besten Menschen in dieser Zeit nur einmal verrichten.«

»Nun, so laß uns doch 'mal sehen,« lautete Jeanies schlichte Antwort, worauf sie in das Kämmerlein trat, worin sie den Honig, das Eingemachte, den Zucker und die kleine Hausapotheke aufbewahrte. Dort zog sie hinter einem dreifachen Bollwerk von Töpfen, Krügen und Flaschen einen zerbrochenen irdenen Topf vor, der mit einem Stück Leder zugebunden war und allerhand beschriebenes Papier, achtlos übereinander geschoben, enthielt. Dazwischen lag die alte Bibel ihres Vaters, die er ihr in früheren Jahren, als ihn die zunehmende Augenschwäche zum Kauf einer mit größeren Typen gedruckten nötigte, geschenkt hatte. Die Bibel brachte sie ihrem Manne. Reuben sah sie betroffen an, da er sich nicht erklären konnte, in welchem Zusammenhange das heilige Buch mit der Geldfrage, die sie beschäftigte, stehen sollte. Jeanie aber sagte ihm, er möchte es doch aufschlagen, und als Reuben ihrer Aufforderung folgte, sah er mit Erstaunen, daß aus den Blättern, die er wandte, verschiedene Fünfzigpfund-Noten auf die Erde flatterten.

»Ich hatte mir vorgenommen, lieber Mann,« sagte Jeanie, lächelnd über das verdutzte Gesicht ihres Mannes, »Dich erst auf meinem Sterbelager oder in einem Falle der äußersten Not von der Existenz dieses kleinen Schatzes zu unterrichten; wozu soll er aber hier in solchem Scherben nutzlos modern, wenn er uns zum Erwerb solch nutzbringenden Grundbesitzes dienen kann?«

»Aber, Jeanie, wie kommst Du zu solchem Vermögen?« rief er, die Scheine zählend, »es sind wahrhaftig mehr als zweitausend Pfund!«–»Und wären es zehntausend, Reuben,« antwortete Jeanie, »so laß Dir mit dem Bescheide genügen, daß es redliches Eigentum ist. Frage mich nicht, wie es in meinen Besitz gekommen ist, Reuben; das Geheimnis seiner Herkunft gehört nicht mir allein, sonst wüßtest Du schon lange darum.«–»Aber darauf gib mir Antwort, Jeanie: Ist es wirklich Dein rechtliches und unbestrittenes Eigentum? Eigentum, über das Dir volles Verfügungsrecht zusteht, auf dessen Besitz niemand außer Dir ein Anspruch zusteht?«

»Es war mein Eigentum, gehört aber, nachdem ich meinem Rechte gemäß darüber verfügt habe, von jetzt ab Dir, Reuben; Du bist nun auch ein Bibel-Butler, wie Dein Großvater, den mein Vater, Gott hab ihn selig! nie im Leben hat leiden mögen. Bloß einen Wunsch möchte ich äußern, daß nämlich, nach unserm Heimgange, unsre Femie mehr davon bekäme als die beiden Jungen.«–»So soll es auch gehalten werden, liebe Frau,« versetzte Reuben; »aber nun sage mir bloß, wie kommst Du darauf, Deinen Schatz gerade in der Bibel zu verstecken?«–»Hm, das mag einer von meinen, wie Du sie immer nennst, altmodischen Angewohnheiten sein,« antwortete Jeanie; »aber so ganz unrecht mag ich doch wohl nicht gehabt haben, wenn ich der Meinung war, Donacha Dhu hätte, wenn er 'mal bei uns eingebrochen wäre, wohl zu allerletzt in der Heiligen Schrift nach Geld gesucht!« – Reuben sah sie lächelnd an; sie aber fuhr fort: »Von jetzt ab werde ich aber, falls Dir wieder Geld zufließen sollte, es immer gleich Dir in die Hände geben; bewahre Du es dann auf, wo es Dir am sichersten zu sein scheint.« – »Und ich soll nicht fragen, woher das Geld rührt?« – »Nein, Reuben, das versprich mir! Denn würdest Du mich aufs Gewissen fragen, so würde ich es Dir sagen, Du würdest mich aber zu einer Handlung bestimmen, die ich für ein Unrecht an dem Geber halten müßte.« – »Und das Geld verpflichtet Dich zu nichts?« – »Nein, Reuben, zu nichts; es braucht nicht zurückerstattet zu werden.«

Er überzählte das Geld noch einmal, und als er sich nochmals überzeugt hatte, daß ihn weder Traum noch Täuschung äffe, rief er: »Nun, das muß ich sagen, noch nie hat Gott einem Manne ein Weib beschert wie mir! Denn ihr folgt in allem der himmlische Segen!«

Schnell verbreitete sich in der Gegend die Nachricht, daß Pfarrer Butler das Gut Craigsture gekauft habe. Manche gratulierten ihm dazu; andere beklagten, daß das Gut nicht länger in dem Besitze der Familie bliebe, die es jahrhundertelang bewirtschaftete. Die Pfarrer des Kirchspiels aber benutzten den Umstand, daß Reuben Butler, wegen der Ueberschreibung des Besitztitels, nach Edinburg reisen mußte, ihn zu der alljährlich im Mai stattfindenden Synodal-Versammlung als ihren Vertreter zu entsenden.

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Kurze Zeit nach der für Reuben Butler so großen Ueberraschung durch Jeanies Reichtum sollte die launische Göttin Fortuna sich auch gegen Jeanie selbst hold erweisen. Reuben hatte in der Voraussicht, daß sich seine Geldgeschäfte nicht so schnell erledigen würden, daß er bis Ende Mai wieder zurück sein könnte, schon zu Ende Februar Knocktarlitie verlassen. Als Jeanie nun ein paar Tage darauf im Oberstock ihres Hauses nach dem Rechten sah, hörte sie unten zwischen den Kindern Streit, der bald so laut wurde, daß sie sich hinunter begab, ihn zu schlichten. Femie, die nun bald zehn Jahre alt war, klagte die beiden Brüderchen an, daß sie ihr ein Buch hätten fortnehmen wollen, wogegen David der ältere geltend machte, das Buch passe sich für Femie noch nicht, und Reuben der jüngere altklug beifügte: »es stünde was darin von einem bösen Weibe.«

»Und wo hast Du das Buch her, Femie?« fragte die Mutter; »an Vaters Büchern darfst Du Dich doch nicht vergreifen, wenn er nicht da ist?« –Aber Femie ihrerseits beteuerte, einen Bogen Papier in den Händen zerknüllend, es sei ja gar keins von Vaters Büchern, sondern nur Papier, das May Hettly von dem großen Käse abgenommen habe, der von Inveravy herübergeschickt worden; zwischen Jungfer Dolly Dutton, die inzwischen zu einer Frau Mac Corkindale aufgerückt war, und ihrer einstigen Reisegefährtin Jeanie hatte sich nämlich ein freundschaftliches Verkehrs-Verhältnis herausgebildet, das durch Austausch kleiner Aufmerksamkeiten warm gehalten wurde. Jeanie nahm ihrem Töchterchen den zerknüllten Bogen aus der Hand, um sich über seinen Inhalt zu vergewissern, schreckte aber förmlich zusammen, als sie beim ersten Blicke las: »Die merkwürdige Beichte der Margarethe Max Craw oder Murdockson, die sie am Tage ihrer Hinrichtung Anno 1737 auf dem Harabeeberge bei Carlisle vor allem Volke hielt.« Es war eines von den Zeitungsblättern, die Archibald, wie seinerzeit erwähnt, bei einem Krämer aufgekauft, und die Dolly Dutton aus Sparsamkeit zur Ausfütterung ihres Reisekoffers verwendet, jetzt aber zufälligerweise zum Einpacken des Käselaibes benutzt hatte. Schon dieser Titel reichte hin, Jeanies Aufmerksamkeit zu fesseln; der Inhalt selbst aber erschien ihr so wichtig, daß sie die Kinder sich selbst überließ und die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer eilte, um dort ohne Störung lesen zu können. – In der Druckschrift stand, Margarethe Murdockson sei wegen Raubes und Mordes vor zwei Jahren, begangen in Gemeinschaft mit dem berüchtigten Frank Levit und Thomas Tuck, gewöhnlich Tyburn Thoms genannt, zum Tode durch den Strang verurteilt und hingerichtet worden. Dann folgte eine kurze Beschreibung ihres sündigen Lebenslaufes, auf Grund der von ihr vor Gericht gemachten Aussagen, aus welchen Jeanie vor allem interessierte, daß sie ein Jahr vor ihrem Tode in der Vorstadt von Edinburg gewohnt habe, daß ihr dort ein Mädchen zur Pflege übergeben worden sei, das einem Kinde männlichen Geschlechts das Leben gegeben habe. Dieses Kind sei von ihrer Tochter, die seit dem Verlust ihres eigenen Kindes nicht mehr recht bei Verstande gewesen, gleich nach der Geburt fortgetragen worden, in dem Wahne, es sei ihr Kind, dessen frühen Tod sie sich nie habe einreden lassen wollend – Eine Zeitlang habe sie nun geglaubt, ihre Tochter habe das fremde Kind in einer Anwandlung von Wahnsinn umgebracht; sie, habe diese Vermutung auch dem Vater des Knaben gegenüber geäußert. Später aber habe sie in Erfahrung gebracht, daß eine Zigeunerin ihrer Tochter das Kind abgenommen habe.

Endlich also hielt Jeanie den unbestreitbaren Beweis für ihrer Schwester Unschuld an dem Morde ihres Kindes in der Hand! Hatten auch weder sie noch ihr Mann und ihr Vater Effie solcher Grausamkeit jemals für fähig gehalten, so hatte doch ein dunkler Schleier über dem Falle gelegen; und wer konnte wissen, ob nicht doch in einem Augenblick von geistiger Umnachtung das Schreckliche geschehen sei? – Es bedünkte sie nach einiger Ueberlegung für das richtigste, die Beichte dieses Weibes auf der Stelle ihrer Schwester zuzustellen, damit sich diese mit ihrem Manne über die Schritte, die hiernach zu unternehmen seien, beriete. Ungeduldig sah sie nun einer Antwort auf diese Benachrichtigung entgegen. Es verging aber längere Zeit, ohne daß eine solche eintraf, und sie begann schon zu befürchten, daß dies wichtige Zeugnis für Effies Unschuld in unrechte Hände gefallen sei. Da sah sie sich, als sie sich schon mit dem Gedanken trug, ihrem Manne über den Fall nach Edinburg zu schreiben, durch einen neuen Vorfall hiervon zurückgehalten.

Sie ging am Morgen mit den Kindern am Ufer des Meerbusens spazieren, als der kleine David des Hauptmanns »Kutsche mit Sechsen« in der Ferne erspähte, die, wie er sagte, gerade auf sie zukäme, mit Frauen darin. Bald erkannte auch sie zwei weibliche Gestalten neben dem am Steuer befindlichen Hauptmanne. Um der Höflichkeit zu genügen, begab sie sich nach dem Landungsplatze, wo der Hauptmann inzwischen schon angelegt hatte und sich eben anschickte, den beiden fremden Damen beim Aussteigen zu helfen, von denen sich die größere, ältere auf die Schulter der andern lehnte, die augenscheinlich ihre Kammerfrau war. – »Frau Butler,« begann der Hauptmann wichtigtuerisch, »ich habe die Ehre, Ihnen hier Lady – Lady – ei, ich hab' Ihrer Gnaden Namen vergessen.«

»Es hat nichts auf sich,« sagte die fremde Dame, »Frau Butler wird wohl nicht in Ungewißheit sein? Sie haben Ihr doch den Brief Seiner Herrlichkeit gestern abend übergeben, Herr?« fragte sie, nicht frei von Verdruß, als sie Jeanies Verlegenheit bemerkte. – »Nein, Euer Gnaden, ich bitte um Entschuldigung; aber es war gerade kein Boot zur Hand, und so dachte ich, es würde Zeit haben bis heute, weil ja Frau Butler immer zu Hause ist. Hier ist der Brief von Seiner Herrlichkeit.«

»Geben Sie ihn her,« sagte die fremde Dame, »da Sie es gestern nicht für notwendig hielten, ihn zu besorgen, will ich es selbst tun.«

Aufmerksam und mit ganz eigenartigen Gesinnungen betrachtete Jeanie diese Dame, die so streng und stolz mit einem Manne wie Knockdunder sprach, der dieser sonst so störrische, ja grobe Vertreter herzoglicher Jurisdiktion jetzt förmlich demütig den Brief überreichte.

Sie war von etwas über Mittelgröße, neigte ein wenig zur Fülle, wies aber trotzdem ein schönes Ebenmaß auf; ihr Wesen war frei und vornehm und schien auf edle Abkunft und ständigen Umgang mit den besten Kreisen der Gesellschaft zu deuten. Sie trug ein Reisekleid, einen Biberhut und einen Schleier von Brüsseler Spitzen. Zwei Lakaien in reicher Livree stiegen mit ihr aus der Barke, blieben aber in einigem Abstande hinter ihr, Reisekoffer und Mantelsack in den Händen haltend.

»Da Sie den Brief nicht erhalten haben, der mir als Einführung bei Ihnen dienen sollte, Frau Pfarrerin – Sie sind doch Frau Butler, nicht wahr? – so will ich ihn nun erst abgeben, nachdem ich gesehen, daß Sie mir auch ohne ihn den Willkomm nicht versagen.« – »Ihnen den Willkomm zu verweigern, wird sich Frau Butler, gnädigste Frau, wohl nicht einfallen lassen,« sagte Hauptmann Knockdunder; »Frau Butler,« setzte er hinzu, »dies ist Lady – Lady – diese vermaledeiten südlichen Namen wollen mir nicht in den Kopf; aber die gnädige Frau ist eine geborene Schottin, ich glaube aus dem Hause.«

»Der Herzog von Argyle ist mit meiner Familie gut bekannt, Herr,« fiel ihm die Dame, mit einem Tone, der ihm Schweigen gebot, ins Wort.

Jeanie kam sich vor, als durchlebte sie einen jener seltsamen Träume, die uns durch ihre täuschende Aehnlichkeit mit der Wirklichkeit schlimme Qual bereiten. Im Ton und im Wesen der fremden Dame lag etwas, das sie an ihre Schwester Effie erinnerte; und als dieselbe jetzt den Schleier lüftete, kamen Züge zum Vorschein, an die sich unsägliche Erinnerungen knüpften. Die Dame war wenigstens dreißig Jahre alt, konnte aber in der vornehmen Toilette gut und gern für einundzwanzig gehalten werden. Ihr Auftreten aber war so sicher und fest, und sie hielt sich so voll in der Gewalt, daß Jeanie, so oft sie eine neue Aehnlichkeit mit ihrer unglücklichen Schwester herausfühlte, eben so oft an ihren Mutmaßungen irre wurde. In maßloser Verwirrung, und ohne ein Wort zu sprechen, geleitete sie die Dame zum Pfarrhause, die der schönen Gegend, wie jemand, der mit Natur und Kunst gleich vertraut ist, volle Bewunderung schenkte. Endlich lenkten die Kinder ihre Aufmerksamkeit ab.

»Zwei hübsche Knaben, wohl die Ihrigen, Frau Pfarrerin?« sagte sie. – Jeanie bejahte. Die Fremde seufzte, und seufzte wieder, als ihr die Namen der Knaben genannt wurden. – »Komm doch her, Femie,« sagte Jeanie, jetzt auch die Tochter vorstellend. – »Wie heißt sie eigentlich, Frau Pfarrerin?« – »Euphemia, gnädige Frau.« – »Ich dachte, die gewöhnliche Abkürzung sei Effie?« sagte die Dame in einem Tone, der Jeanie das Herz zerriß; denn in diesem einzigen Worte lag mehr von ihrer Schwester, mehr von alten, längstvergangenen Zeiten als in allen Erinnerungen, die Wesen und Züge der Dame bereits in ihr geweckt hatten.

Im Pfarrhause angekommen, drückte die Dame ihr den Brief in die Hand und bat um etwas Milch. Frau Butler hieß die alte May Milch besorgen und eilte mit dem Briefe auf ihr Zimmer. Es waren zwei Schreiben in dem Umschlage. Das eine war vom Herzog von Argyle, der Frau Butler ersuchte, einer Freundin seines verstorbenen Bruders, Lady Staunton von Willingham, die eine Zeitlang in Roseneath zur Molkenkur verweilen wolle, während ihr Gemahl eine kleine Geschäftsreise in Schottland mache, freundliche Aufnahme zu gewähren. Das andere war von Lady Staunton selbst, die der Schwester schrieb, ihr Mann habe sich infolge ihrer Mitteilung vorgenommen, selbst nach Carlisle zu gehen und dort weitere Erkundigungen über die Murduckson einzuziehen. Seine Bemühungen seien nicht ganz erfolglos gewesen, sie habe ihn aber erst durch viele Bitten und das Gelöbnis strenger Verschwiegenheit zu der Erlaubnis, ein paar Wochen bei ihrer Schwester zuzubringen, bestimmen können. Jeanie eilte, als sie den Brief gelesen, die Treppe hinunter, halb von Furcht befangen, sich zu verraten, halb von dem heißen Verlangen erfüllt, der Schwester um den Hals zu fallen. Effie stand auf, als Jeanie eintrat, und sah sie liebevoll und doch warnend an – nahm auch, um aller Gefahr vorzubeugen, gleich das Wort, auf den Hauptmann zeigend, der sich inzwischen eingefunden hatte. – »Liebe Frau Butler, ich habe dem Herrn Hauptmann Knockdunder eben gesagt, daß ich lieber hier bleiben möchte als in Roseneath; da, wo die Ziegen weiden, sollen ja die Molken am kräftigsten wirken.« – »Ich habe der gnädigen Frau aber gesagt,« bemerkte Duncan, »daß sie drüben besser wohnen werde, und daß die Tiere herübergeholt werden könnten; es sei doch schicklicher, die Ziegen warten der gnädigen Frau auf, als umgekehrt.« – »Meinetwegen bemühen Sie die Ziegen nicht,« sagte Lady Staunton; »zumal ich überzeugt bin, hier bessere Milch zu bekommen.« Sie ersuchte ihn kurz und bündig, ihr Gepäck von Roseneath herüberschaffen zu lassen, und das mußte ihm, wenn es auch ihm nicht zu gefallen schien, daß er wie ein Lakai behandelt wurde, als Zeichen gelten, daß man seine Entfernung wünsche. Ein paar Worte über englische Arroganz brummend und mit dem Bescheide an die Pfarrersfrau, daß er ihr das Wildbret mitschicken werde, das er selbst für die hohen Gäste geschossen habe, empfahl er sich. – Die Schwestern überließen sich nun ganz der Wonne des Wiedersehens; jede bekundete ihre Freude auf die ihrem Wesen eigentümliche Weise: Jeanie, von Erstaunen und Verwunderung überwältigt, still und in sich gekehrt; Effie bald weinend, bald lachend, bald schluchzend, bald schreiend, bald in die Hände schlagend, der ihr angeborenen Munterkeit, die sie sonst in zeremoniellen Schranken halten mußte, freien Lauf lassend. – Jeanie konnte, je länger sie die Schwester betrachtete, desto weniger ihrer Verwunderung Herrin werden über den Unterschied zwischen jenem hilflosen, in Not und Verzweiflung versunkenen Mädchen, das auf dem Strohlager im Kerker einem schimpflichen Tode entgegensah, und dieser schönen vornehmen Dame, die alle gesellschaftlichen Formen beherrschte und über eine so hohe Bildung verfügte. Als sie den Schleier abgelegt hatte, kamen Jeanie die Züge ihres Gesichtes viel vertrauter vor als ihr Wesen, Blick und Benehmen. Sie gab ihrem Staunen darüber, daß Effie als Lady Staunton sich so zu beherrschen, daß sie in allen Situationen ihre Rolle zu behaupten wisse, unverhohlenen Ausdruck.

»Ich begreife, daß Du Dich darüber wunderst, liebe Jeanie,« sagte sie; »bist Du doch, von der Wiege an, die Wahrheit selbst gewesen! Mir gegenüber darfst Du jedoch nicht vergessen, daß ich schon fünfzehn Jahre lang Verstellung und Lüge kultivieren, in meiner Rolle also nachgerade zu Hause sein muß.«

Jeanie wurde, als sich der erste Tumult ihrer Empfindungen einigermaßen gelegt hatte, bald inne, daß das Verhalten ihrer Schwester im vollen Widerspruch zu der Niedergeschlagenheit stand, die aus ihren Briefen sprach. Der Anblick von ihres Vaters Grabe, der schlichte Grabstein, der von seiner Gottesfurcht und Rechtschaffenheit sprach, ergriff sie freilich tief und drängte ihr Tränen in die Augen; aber anderen Eindrücken gab sie sich eben so leicht hin, amüsierte sich köstlich in der Milcherei, die in früherer Zeit so lange ihr Bereich gewesen, und hätte sich um Haaresbreite der alten May gegenüber verraten als sie sich hinreißen ließ, über das wichtige Geheimnis der Bereitung von Dunlop-Käse in ausführlicher Weise zu sprechen. Alles dies gewann ihr aber nur solange Interesse ab, als es neu war, und nur zu bald merkte Jeanie, daß die glänzende Außenseite, hinter der sie ihr Herzeleid verbarg, ihr so wenig wahren Trost gewährte, wie dem Krieger die bunte Uniform, die seine Todeswunde verdeckt. – Nur aus einer Quelle schöpfte Lady Staunton wahre Freude: aus der herrlichen Gottesnatur; wenn sie den Fuß ins Freie setzte, hörte sie auf, die Rolle der feinen Dame zu spielen; und mit ihren beiden Neffen als Führern unternahm sie lange, ermüdende Wanderungen durch das nahe Gebirge, zu den Seen und Wasserfällen, durch Täler und Schluchten, so daß es bald keinen irgend wie hervorragenden Punkt mehr gab, den sie nicht in Augenschein genommen hätte. Auf einer dieser Wanderungen führte David Butler sie zu einem Wasserfalle, höher und gewaltiger als alle, die sie bis jetzt gesehen. Ein beschwerlicher Weg von etwa dreiviertel Stunden Länge, auf dem sich die herrlichsten Durchblicke boten, bald auf den Meerbusen und seine Eilande, bald auf ferne Seen oder drohende Felsen und Abgründe, führte dorthin. In einem einzigen Strahle von mächtiger Höhe an einem schwarzen Bergrücken hernieder, dessen dunkle Farbe wunderbar gegen den weißen Schaum des Gischtes abstach, schoß die Wasserflut; in zwanzig Fuß Tiefe sprang ein zweiter Felsen vor, den Blick des Beschauers hindernd, bis zum Boden des Falles zu dringen; rund um den Vorsprung herum wälzte sich und goß sich das Wasser in weißem Gischt die Kluft hinunter.

Lady Staunton fragte den kleinen David, ob man nicht den Abgrund sehen könnte, in den sich das Wasser ergösse. David sagte, es gäbe wohl einen Fleck, einen Vorsprung am äußersten Ende des unteren Felsens, wo der ganze Wassersturz sichtbar sei, aber der Weg dahin sei steil und gefährlich und man könne leicht ausgleiten. Lady Staunton wollte aber ihre Neugierde durchaus befriedigen, und so führte sie der Knabe über Stock und Stein; bald mußten sie mehr klettern als gehen, und endlich gelangten sie, wie Seevögel sich an die Felsen klammernd, zur anderen Seite hinüber, von wo sie den vollen Anblick des grandiosen Falles hatten, der heulend und donnernd aus einer Hohe von annähernd hundert Fuß in einen schwarzen, dem Schlund eines Vulkans ähnlichen Kessel stürzte. Das Getöse, das Sprühen des Gischtes, das allen Gegenständen rings ein schwankes Ansehen gab, so daß der mächtige Fels, auf dessen Kuppe sie standen, gleichsam zu zittern schien, alles dies zusammengenommen übte auf Lady Stauntons Phantasie eine so gewaltige Wirkung, daß es ihr war, als müsse sie fallen; und hätte David sie nicht gehalten, so wäre sie tatsächlich in die Tiefe gestürzt. David besaß zwar Kraft und Mut, war aber doch erst ein Junge von vierzehn Jahren, dessen Hilfe ihr wenig Vertrauen einflößte, und in richtiger Erkenntnis der großen Gefahr ihrer Lage schrie sie laut auf vor Angst, wenn sie auch kaum Hoffnung hatte, Hilfe dadurch zu gewinnen. Zu ihrem Erstaunen antwortete aber ein scharfer, heller Pfiff aus der Höhe, und aus einer Felsenkluft über ihnen blickte ein dunkles Menschengesicht, mit schwärzlich-grauem struppigen Haar, das über Stirn und Wange hing und sich mit Kinn- und Backenbart von gleicher Farbe mischte, auf sie herab.

»Der Teufel ist's!« rief David, kaum noch im stände, die Dame zu stützen,

»Nein, nein,« sagte sie, vor übernatürlichen Dingen weniger in Furcht als vor natürlichen, »es ist ein Mensch wie wir. Um Gottes willen, Freund, steht, uns bei!«

Das Gesicht starrte sie an, der Mund gab aber keine Antwort. Im andern Augenblick erschien ein anderes Gesicht daneben: das eines jungen Burschen, ebenfalls schwarzbraun und rußig, mit schwarzem, borstigen Haar, das in dichten, wirren Locken um den Kopf wallte, ihm ein wildes, grimmiges Ansehen gebend. Lady Staunton, sich fester an den Felsen klammernd, wiederholte ihre Bitten, die aber von der brausenden Wasserflut dem Anschein nach verschlungen wurden, denn auch sie sah wohl, daß die Lippen des Jünglings sich bewegten, aber kein Laut gelangte bis an ihr Ohr; ihre Gebärden hatten jedoch den Sinn ihrer Worte verdolmetscht; der Bursche verschwand, ließ aber gleich darauf eine Leiter aus Weidengeflecht zu ihnen hinunter, dem Knaben winkend, sie festzuhalten. Verzweiflung macht Mut; die Lady zögerte nicht, das schwanke Werkzeug zur Rettung zu benutzen; der wilde Bursche, der ihr auf so seltsame Weise zu Hilfe gekommen, stand ihr auch weiter bei, so daß sie glücklich den Gipfel wieder erreichte. Doch wagte sie erst wieder zu atmen, als sie auch ihren Neffen oben sah, der ihr gewandt und behend folgte, obgleich jetzt niemand mehr die Leiter unten hielt. Schaudernd betrachtete sie nun den Ort, wo sie sich befanden, und die Menschen, die dort hausten. Sie standen auf einer Art von Felsaltan, der, von allen Seiten mit schroffen Klüften und Schluchten umschlossen, keinen Weg weder hinauf noch hinunter zeigte. Ein mächtiger Felsblock, der zwischen zwei Kuppeln eingeklemmt lag, daß er ein schräges Dach über der hinteren Felsplatte bildete, auf der sie standen, hinderte jeden Blick, von außen hierher, und von hier nach außen. Ein paar Haufen dürren Laubes boten unter diesem rauhen Obdach den Bewohnern dieses Geierhorstes – denn einen anderen Namen verdiente die Stätte nicht – ein karges Lager. Zwei von ihnen sah Lady Staunton jetzt hier. Der eine, eben der, der ihr zu so rechter Zeit zu Hilfe gekommen, ein langer junger Bursche, aussehend wie ein Wilder, stand vor ihr, in einem zerrissenen Schottenmantel, mit kurzem Unterkleid, barfuß, barhäuptig – aber mit einem Haarbusch so dicht, daß er wohl einen künstlichen Helm ersetzen und einen Schwerthieb abhalten konnte, – darunter wölbte sich eine stolze Stirn und blitzte ein kühnes Augenpaar – und die Haltung, in der er dastand, war frei und edel. Er schenkte David Butler kaum einen Blick, stierte aber mit maßloser Verwunderung auf die Dame, die wohl das schönste Wesen sein mochte, das er bis jetzt gesehen. Der Alte, dessen wildes Gesicht zuerst über den Felsen geguckt hatte, lag noch immer auf den Boden der Felsplatte gestreckt, mit träger Gleichgültigkeit, die im schroffen Widerspruch zu dem wilden Ausdruck seines rauhen Gesichtes stand, das er ihnen zukehrte. Es schien ein Mann von ungewöhnlicher Größe zu sein, und sein Anzug, nur wenig besser als der seines jungen Gefährten, bestand aus einem weiten Oberrock, wie er im Unterlande, und Unterkleidern, wie sie im Hochlande getragen wurden.

Die ganze Umgebung zeigte ein Bild seltsamer, unheimlicher Rauheit: unter dem Schirmdach des überhängenden Felsblockes brannte ein Steinkohlenfeuer, auf dem ein Brennkolben dampfte, dessen Glut den Gischt des Wasserfalles rötlich überhauchte; Blasebalg, Hämmer und Zangen, ein beweglicher Amboß und anderes Schmiedewerkzeug lagen oder standen daneben; an der Felsmauer lehnten drei Flinten, ein paar Säcke und Tonnen, auch ein Dolch, zwei Schwerter und eine Streitaxt. Nachdem der junge Wilde die Dame lange genug angestiert hatte, schleppte er einen irdenen Krug und einen großen Hornbecher heraus. Von dem Getränk, das eben erst aus dem Brennkolben gekommen schien, goß er aus dem Kruge in den Becher und bot den letztern erst der Dame, dann dem Knaben. Aber beide dankten, worauf er den Becher selbst in einem Zuge leerte. Dann verschwand er in einen Winkel der Höhle, kam mit einer andern Leiter wieder, die er an den quer überhängenden Felsblock lehnte, und winkte, während er die Leiter hielt, der Dame, hinaufzusteigen. Sie gelangte auf diesem schwanken Werkzeuge zu einer breiten Felskuppe, nahe dem Rande des Schlundes, in den sich der gewaltige Wasserstrom mit Schaumstreifen, die an die Mähnen eines wilden Renners erinnerten, hinunter ergoß. Allein die niedriger liegende Felsenfläche, die sie eben getragen hatte, lag ihren Blicken vollständig verborgen. David wurde der Aufstieg nicht so leicht gemacht der wilde Bursche mit dem wilden Haarbusch schüttelte, sei es aus Schadenfreude oder aus Schabernack, die Leiter, an der Angst sich weidend, die den Knaben und die Dame erfüllten, kräftig hin und her – was erklärlicherweise zur Folge hatte, daß sie einander mit nichts weniger als freundlichen Blicken maßen, als beide endlich oben waren. Der junge Zigeuner, oder was er sein mochte, half der Dame fürsorglich zu einer zweiten gefährlichen Höhe hinauf, wohin auch David folgte, bis sie endlich, den Klüften und Abgründen entronnen, auf dem Gipfel eines nicht übermäßig steilen Berges standen, dessen Hänge dicht mit Heidekraut bedeckt waren. Der Kamin aber, den sie eben überwunden hatten, war so schmal und eng, daß nur am äußersten Bergrande eine Spur davon sichtbar war; auch der Wasserfall war nicht mehr sichtbar, aber sein dumpfes Brausen traf noch immer das Ohr.

Eben den dräuenden Felsen und Bergströmen entronnen, fand Lady Staunton hier neuen Grund zu Angst und Bangen. Die beiden Knaben, die ihr als Führer gedient, standen sich zornsprühend gegenüber. David, wenn auch jünger und kleiner als der wilde Bursche, war kühn und mutig und scheute vor niemand zurück.

»Du bist der Pfarrersjunge von Knocktarlitie,« sagte der Zigeuner; »kommst Du mir hier oben noch einmal ins Gehege, so schmeiße ich Dich in den Schlund wie einen Ball.« – »Oho, Bursche, Du bist tatsächlich so kurz wie Du lang bist,« versetzte David unerschrocken und maß des Gegners Höhe mit zornigen Blicken; »gehörst doch sicher zur Bande des schwarzen Donacha? Kommt ihr uns unten noch einmal ins Gehege, so schießen wir euch nieder wie wilde Böcke.« – »Sag nur Deinem Vater,« sagte der andere wieder, »daß er die Bäume zum letztenmal hat grün werden sehen. Uns verlangt's nach Rache für den Schaden, den er uns angetan hat.« – »Hoffentlich geht noch mancher Sommer drüber ins Land,« sagte David, »daß wir euch noch öfter 'mal was zu Schaden tun können!« ' ,

Um dem Zwist ein Ende zu machen, trat Lady Staunton mit der Börse in der Hand dazwischen, nahm eine Guinee heraus und bot sie dem Zigeunerjungen.

»Das weiße Geld, das weiße Geld,« rief der junge Wilde, der vermutlich mit dem Werte des Goldes unbekannt war, als er das Silbergeld durch das Netz der Börse schimmern sah. – Lady Staunton schüttete ihm alles Silbergeld, das in der Börse war, in die Hand; gierig langte er danach und machte etwas wie eine Verneigung zum Zeichen des Dankes und Abschieds.

»Lassen Sie uns eilen, Lady,« sagte David, »denn seit der Kerl Ihre Börse gesehen, wird uns die Bande, zu der er gehört, nicht lange Ruhe lassen.«

So schnell sie konnten, rannten sie den Abhang hinunter, aber schon nach wenigen Schritten hörten sie lautes Geschrei hinter sich. Ein Blick rückwärts zeigte ihnen die beiden Zigeuner im wilden Rennen hinter ihnen her, den älteren mit einer Flinte auf der Schulter. Zum Glücke zeigte sich im selben Augenblick ein herzoglicher Jäger auf der Berghöhe. Als die Räuber ihn sahen, machten sie Halt, und Lady Staunton winkte ihn heran und bat ihn um sein Geleit nach dem Pfarrhause, das sie aber erst in später Stunde erreichten.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

In Edinburg, wohin uns der Verlauf unserer Erzählung nunmehr zurückführt, wurde die große Synode abgehalten, deren wir bereits erwähnten. Es ist Landesbrauch im alten Königreich Schottland, einen Vertreter des Königs aus dem alten Hochadel des Landes hierzu zu wählen, der bei den Verhandlungen den Vorsitz führt. Alle in der Hauptstadt anwesenden Personen von Rang und Würden pflegen diesen Vertreter des Königs zu den Sitzungen zu begleiten und ihm auch sonst durch ihre Gegenwart zu erhöhtem Glanze zu verhelfen. Der Edelmann, dem diesmal dieses Stellvertreter-Amt zufiel, gehörte zu Georg Stauntons intimeren Bekannten. Zum erstenmale seit der unglücklichen Nacht, wo der Stadthauptmann am Galgen verblutete, nahm Georg Staunton den Weg wieder durch die High-Street von Edinburg, und zwar an der Seite des Vertreters königlich britischer Majestät, in prächtiger Staatstracht, mit Orden und allen äußerlichen Zeichen von Rang und Reichtum. Er war noch immer ein Mann von hervorragender Schönheit, wenn auch Kränklichkeit ihre Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen hatte. Aber wer erkannte wohl in diesem vornehmen Manne den Anführer jenes groben Pöbelhaufens wieder, der in Madge Wildfires Lumpen den Genossen seiner Laster auf so furchtbare Weise rächte? Und selbst wenn einer, der ihn damals kannte, die knappe Spanne Zeit überlebt hätte, die Uebeltätern vom Schicksal zugemessen zu werden pflegt, so hätte er ihn ganz sicher in dem hohen Herrn nicht wiedererkannt, der jetzt ganz Edinburg durch seine Vornehmheit blendete. Ueberdies war die Affaire jetzt so gut wie vergessen, so daß Georg Staunton keine Entdeckung mehr zu fürchten hatte. Und doch – mit welchen Gefühlen betrat er den Schauplatz jener verwegenen Tat, wenngleich es nur ein Fall von höchster Bedeutung war, der ihn bewogen hatte, sich an dieser Stätte so schmerzvoller Erinnerungen wieder zu zeigen. Auf Jeanies an die Schwester gerichteten Brief hin hatte Staunton sich nach Carlisle verfügt, um dort den Geistlichen Archidiakonus Fleming aufzusuchen, der der alten Murdockson vor ihrem gewaltsamen Tode die Beichte abgenommen. Er hatte den würdigen Greis noch am Leben getroffen und demselben offenbart, daß er der Vater des Kindes sei, das einst von der wahnsinnigen Madge geraubt worden. Der Geistliche, sich in die wilde Zeit zurückversetzend, die ihn auch mit anderen Missetätern in so betrübsame Gemeinschaft geführt, rief sich allmählich ins Gedächtnis, daß die Murdockson vor ihrem Tode an Georg Staunton nach Willingham einen Brief gerichtet, den er von dem dortigen Pfarrer Ehrwürden Staunton aber zurückerhalten habe, mit dem Bescheide, dort sei kein solcher Staunton bekannt. – Der Brief, der ihm nun von dem Archidiakonus ausgehändigt wurde, gab von der Zigeunerin Annaple Bailzou, die das Kind an sich genommen, ein genaues Signalement und allerhand weitere Auskunft: unter anderm, daß die alte Sünderin dieses Geständnis weniger aus Reue ablegte, als in der Hoffnung, von Georg Staunton oder seinem Vater Schutz für ihre Tochter Madge zu erlangen, die sie völlig hilflos zurücklassen mußte.

Der Archidiakonus berichtete weiter,»daß die alte Murdockson bis an ihr Ende in Verstocktheit verharrte, ihre Tochter aber während der Mutter Hinrichtung entsprungen, von dem Pöbel ergriffen und zu Tode mißhandelt worden, und am andern Tage im Arbeitshaus gestorben sei, am Vormittag aber noch Besuch von mehreren weiblichen Personen bekommen habe, die dem Anscheine nach mit ihr bekannt gewesen seien, wenn sie auch gesagt hätten, sie nur unterwegs auf einer Reise getroffen zu haben. Was nun auch Staunton fühlen mochte, als er diese traurige Mitteilung, besonders von dem schrecklichen Tode jenes unglücklichen Mädchens, vernahm, das er ins Verderben gestürzt, so blieb ihm doch noch Willensfestigkeit genug, den Blick ausschließlich auf den Zweck seiner Herkunft, die Wiederauffindung seines Sohnes, zu richten. Da es die Klugheit verbot, über seine Geburt und die Schicksale seiner Eltern die Wahrheit zu sagen, stand freilich zu erwarten, daß es mancherlei Schwierigkeit bereiten werde, seine Legitimität durchzusetzen. Aber Lord Staunton hoffte hierzu Mittel und Wege zu finden; und gewöhnt, seinen Willen in allem, was er vornahm, durchzusetzen, verschob er alles Weitere, bis es ihm gelungen, den Sohn wiederzufinden; aber von diesem Vorhaben sollte ihn nichts abbringen, auch nicht die Gefahr, eine neue Kette von Unglück durchleben zu müssen, gleich denen oder größer als die, die ihm den Sohn geraubt hatten. – Allein wo war der Jüngling, dem Gut und Habe dieses alten Geschlechtes anheim fallen sollte? Welche niedrige Hütte war ihm Herberge? Verdiente er sich sein häusliches Brot im Tagelohn, oder trieb er sich vagabondierend im Lande herum? oder führte er etwa gar ein Diebs- oder Räuberleben? Alles Fragen und Forschen Stauntons blieb fruchtlos; es sollte ihm keinerlei Licht über den Verschollenen werden. Von anderer Seite erfuhr er, daß Annaple Bailzou sich mit Betteln und Wahrsagen das Leben gefristet habe, aber seit mehr denn zehn Jahren in der Gegend nicht mehr gesehen worden und wahrscheinlich wohl nach einem fernen Distrikt Schottlands gezogen sei, wohin sie zuständig sei. Staunton nahm sich vor, ihr dorthin zu folgen; da aber sein Aufenthalt in Edinburg mit der Synode zusammenfiel, und der Königsstellvertreter, wie erwähnt, zudem ein intimer Bekannter von ihm war, ließ sich seine Beteiligung an den mit der Synode zusammenhängenden Feierlichkeiten, so gern er dieselbe auch vermieden hätte, nicht umgehen. Bei Tafel lernte nun Lord Staunton einen würdigen Geistlichen kennen, der ihm als Reuben Butler vorgestellt wurde. Seinen Schwager in sein Geheimnis einzuweihen, dazu hätte sich Staunton nie entschlossen, und mit Befriedigung hatte er von seiner Frau gehört, daß ihre Schwester, die Redlichkeit und Zuverlässigkeit selbst, sogar ihrem Manne gegenüber kein Wort habe verlauten lassen. Infolgedessen war es ihm nicht unangenehm, daß sich jetzt eine Gelegenheit bot, einen so nahen Verwandten kennen zu lernen, ohne von ihm gekannt zu sein, zudem ihm, was er sah und hörte, die günstigste Meinung von Butler gab; dem die allgemeine Achtung gehörte, sowohl von seiten der Geistlichkeit als auch der weltlichen Mitglieder der Synode; hatte er sich doch in den bisherigen Sitzungen durch Verstand, Kenntnis und Freimut ausgezeichnet, und war er doch auch als einsichtiger und wohlbeschlagener Kanzelredner geschätzt. So war es wohl erklärlich, daß Georg Staunton, der anfangs nichts davon hatte wissen wollen, daß sich die Schwester seiner Frau mit einem Manne von so geringer Stellung verheiratete, jetzt um vieles besser darüber dachte, ja sogar fand, daß im Falle der Auffindung seines Sohnes es mit der bescheidenen Finanzlage der Familie seiner Frau doch recht verträglich sei, daß Lady Stauntons Schwester die Ehe mit einem Geistlichen eingegangen sei, dessen hohes Ansehen seine verhältnismäßig kleine Pfründe reichlich wett mache. Nach Aufhebung der Tafel ersuchte der Lord den Pfarrer, ihm nach seiner Wohnung am Grasmarkt das Geleit zu geben und den Kaffee bei ihm zu trinken. Butler dankte für die große Ehre und bat nur, im Vorübergehen bei Bekannten, wo er abgestiegen sei, vorsprechen zu dürfen, um dort zu sagen, daß man nicht mit dem Tee auf ihn warten solle. Sie gingen durch die High-Street, traten unter die Buden am Rathause und kamen zu dem Gefängnis, wo die Almosenbüchse für die im Kerker schmachtenden Gefangenen aufgestellt war. Staunton trat hinzu, und am andern Tage wurde in der Büchse eine Banknote von zwanzig Pfund gefunden.

Butler stand unterdes in tiefen Gedanken, die Augen auf die Kerkerpforte gerichtet. »Es scheint ein recht festes Tor zu sein,« bemerkte Staunton, als er wieder zu dem Pfarrer trat, bloß um etwas zu sagen. – »Freilich,« erwiderte Butler, sich zum Weitergehen anschickend, »vor Jahren war es einmal zu meinem Unglücke, daß sie nicht fest genug war.« – Sein Blick streifte zufällig seinen Begleiter, der ihm auffallend bleich aussah, aber auf die Frage, ob ihm etwas zugestoßen sei, antwortete, er habe sich verleiten lassen, etwas Eis zu nehmen, trotzdem er wisse, daß er es nicht vertragen könne. Diensteifrig führte Butler den Lord in das Haus seines Bekannten, bei dem er abgestiegen, der aber kein anderer war, als Herr Bartel Saddletree; ehe Staunton sich noch recht klar wurde, wohin ihn Butler führe, befand er sich in jenem Hause, wo seine Gemahlin einst als Ladenmamssell gedient hatte. Da wich die Blässe, die aus Furcht vor Entdeckung sein Antlitz entfärbte, jäher Schamröte. Die brave Frau Saddletree eilte geschäftig herbei, den reichen, mit Herrn Butler bekannten Baronet in ihrem bescheidenen Hause willkommen zu heißen, nachdem sie eine ältliche Dame, die tiefschwarz ging, gebeten hatte, sich nicht stören zu lassen. Diese hatte aufstehen wollen, um den vornehmeren Gästen den Platz nicht zu rauben. Als aber Frau Saddletree vom Pfarrer hörte, dem Lord sei nicht recht wohl, eilte sie, ohne sich um die Dame in Schwarz weiter zu kümmern, nach der Küche, eine kleine Erfrischung zu holen; und ihre Abwesenheit hatte die Dame benutzen wollen, sich zu entfernen, war aber im Eifer über die Schwelle gestolpert; der Lord, der gerade in der Nähe stand, hatte sich beeilt, ihr aufzuhelfen, und geleitete sie jetzt bis zur Haustür.

»Die alte Frau Porteous,« sagte Frau Saddletree, als sie mit einem Fläschchen in der Hand zurückkam, »ist schon gar nicht mehr recht bei sich; dabei ist sie doch noch gar nicht so alt; aber das gräßliche Schicksal ihres Mannes ist ihr gar tief zu Herzen gegangen. – Ja, Herr Butler, Ihnen hat die Affäre ja auch gerade genug Kummer bereitet. Aber, Mylord, Sie sollten, doch noch ein Paar Tropfen nehmen,« – sie reichte Staunton nochmals von der stärkenden Arznei, »ist's mir doch fast, als hätte sich Ihr Aussehen gegen vorhin noch verschlimmert.« – Der Gedanke, daß ihn der Zufall dazu geführt, die Frau zu stützen, die durch seine Schuld zur Witwe geworden, hatte ihm tatsächlich alle Farbe aus dem Gesicht getrieben.

»Die Porteous-Affäre,« nahm da der alte Saddletree das Wort, den jetzt Gicht an seinen Lehnstuhl fesselte, »ist ja verjährt und verschollen.« – »Ich dächte doch noch nicht, Nachbar,« meinte Plumdamas, »Mord verjährt nach unserem Recht, meines Wissens, in zwanzig Jahren; wir stehen jetzt Anno einundfünfzig, und Porteous wurde Anno siebenunddreißig durch den Pöbel vom Leben zum Tode gebracht.« – »Sie werden doch mir nicht Recht und Gesetz eintrichtern wollen, Nachbar? Ich sage Ihnen, und wenn jetzt die ganze Porteous-Rotte dastünde, wo jetzt der fremde Herr steht, so könnte ihr kein königlicher Anwalt mehr an den Kragen.« – »Aber so laß doch bloß einmal Deine Rechthaberei,« fiel ihm seine Frau ins Wort, »Mylord kann nicht einmal in Ruhe seine Tasse Tee trinken.« – Staunton aber hatte genug von der Unterhaltung; er winkte Butler, daß er gehen wolle, und Butler sagte Frau Saddletree ein paar entschuldigende Worte, um sich mit dem Lord nach dessen Wohnung zu verfügen. Hier fanden sie einen neuen Gast, der auf die Rückkehr des Lords wartete. Es war kein anderer als Ratcliffe, der es mittlerweile bis zum Posten eines Oberaufsehers gebracht, und den man Staunton als einen Mann genannt hatte, von dem er vielleicht die beste Auskunft über die Zigeunerin Bailzou bekommen könnte. Das war für Staunton eine neue, nur noch bösere Unterhaltung! Stand er doch jetzt seinem alten Bekannten, James Ratcliffe, gegenüber, dessen Züge ihm sogleich in die Erinnerung traten. Der gewaltige Abstand aber, der zwischen Georg Robertson und Sir Georg Staunton lag, täuschte auch Ratcliffes Scharfblick, so daß er sich tief vor dem Lord und dem Pfarrer verneigte, welch letzteren er demütig um Entschuldigung bat, daß er sich ihm als Bekannter aus früherer Zeit vorzustellen erlaubte. »Ich weiß, Sie haben einst meiner Frau einen nicht geringen Dienst geleistet,« sagte Butler, »und meine Frau sandte Ihnen eine kleine Erkenntlichkeit. Hoffentlich ist's Ihnen richtig zugegangen und auch zurecht gekommen.« – »Ei, das wollt ich meinen, Hochwürden,« versetzte Ratcliffe, indem er pfiffig dabei nickte; »aber Sie haben sich recht zu Ihrem Vorteil verändert, Hochwürden, in den vielen Jahren, seit ich Sie nicht mehr gesehen habe.« – »Ja, ja, so sehr, muß ich sagen, daß ich mich wundere, von Ihnen noch erkannt zu werden.« – »Oho, Hochwürden. Ich vergesse kein Gesicht, das ich einmal im Leben gesehen habe.« – Lord Staunton stand wie auf der Folter, alle Gedächtnisschärfe aus tiefstem Herzen verwünschend. »Und doch,« fuhr Ratcliffe fort, »irrt sich auch das schärfste Gedächtnis dann und wann; und wenn ich's mir herausnehmen darf, von der Leber weg zu sprechen, so sehe ich hier in der Stube noch ein anderes Gesicht, das mir vorkommt, als hätt ich's schon einmal im Leben gesehen – bei einem guten, recht guten, aber längst verschollenen Bekannten; und wüßte ich nicht, wen ich in dem hohen Herrn vor mir habe, so könnt ich mich fast versucht fühlen.« – »Es würde für mich nicht eben schmeichelhaft sein,« versetzte der Baronet, erregt durch die Gefahr, in der er sich sah, mit strenger Stimme, »wenn sich Ihre seltsamen Komplimente auf mich beziehen sollten.« – »Durchaus nicht, Mylord,« versetzte Ratcliffe, sich tief verbeugend, »ich komme lediglich, um Euer Gnaden Befehle zu vernehmen, nicht aber um Euer Gnaden Ohr durch ein paar demütige Bemerkungen zu verletzen.« – »Man hat mir gesagt, Sie seien in Polizeisachen nicht unbewandert. Ich bin auch ein wenig darin zu Hause – und um Ihnen klingenden Beweis dafür zu geben, so zahle ich Ihnen zehn Guineen als Aufgeld, die ich aber um das fünffache erhöhe, wenn ich durch Sie über ein gewisses Frauenzimmer Aufschluß erhalte, dessen Signalement Sie hier in diesem Papier finden. Schriftliche Antwort lassen Sie mir durch meinen Edinburger Geschäftsträger zugehen. Hier sein Name und seine Wohnung!«

Damit wandte er Ratcliffe den Rücken, der sich abermals tief verbeugte und dann ging. – »Es hat den hochnäsigen Wicht verdrossen,« meinte Ratcliffe bei sich, »daß ich die Aehnlichkeit herausgefunden habe. Aber wenn Georg Robertsons Vater nicht weit von seiner Mutter gelebt hätte – der Teufel sollte mich holen, wenn ich dann wüßte, was ich denken sollte, und möchte er sich noch sehr aufs hohe Roß mir gegenüber setzen!«

Lord Staunton, jetzt mit Butler allein, ließ Tee und Kaffee bringen und erkundigte sich nach einigem Zögern, ob er kürzlich Nachricht von den Seinigen bekommen habe. Butler, über die Frage einigermaßen erstaunt, sagte, »es sei einige Zeit her, seit er Nachricht bekommen, seine Frau schreibe nicht gern.« – »So bin ich denn leider derjenige, aus dessen Munde Sie zuerst hören, daß die Ruhe Ihres Hauses während Ihres Fernseins getrübt worden ist. Meine Frau, die der Herzog von Argyle eingeladen hat, in Roseneath die Molkenkur durchzumachen, hat es vorgezogen, sich in Ihrem Hause einzuquartieren; sie schreibt zwar, um gleich bei den Ziegen zu sein, ich vermute aber, weil ihr die Gesellschaft Ihrer Frau lieber sein wird als die des alten Knasterbarts Knockdunder,« – Butler sagte, daß ihn dies doch nur freuen könne. Der Lord dankte ihm für diese Gastfreiheit und fragte, wann er nach Hause zu reisen gedenke. – »In ein paar Tagen,« sagte Butler; denn nachdem er seine Geschäfte sämtlich erledigt habe, treibe es ihn wieder nach seinen Penaten; da er aber eine beträchtliche Geldsumme mitnehme, wolle er, um nicht allein zu reisen, mit ein paar Amtsbrüdern zusammen reisen. – »Mein Geleit dürfte Ihnen bessere Sicherheit sein,« antwortete Staunton; »ich denke morgen abzureisen, und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich mir anschlössen; auf alle Fälle übernehme ich es, Sie ungefährdet in Ihre Heimat zu geleiten.« – Butler nahm das Anerbieten dankbar an; Staunton schickte einen Bedienten nach dem Pfarrhause voraus, ihre Ankunft dort zu melden, und bald verbreitete sich die Nachricht durch das ganze Kirchspiel, der Herr Pfarrer komme mit einem vornehmen Herrn aus England und bringe auch den Kaufschilling für Craigsture mit. Lord Staunton hatte sich zu diesem schnellen Entschluß, so schnell nach Knocktarlitie zu reisen, durch die letzten Begebenheiten bestimmen lassen; er sah jetzt ein, wie verwegen es von ihm gewesen, sich auf den Schauplatz seines früheren Sündenlebens zu begeben, und Ratcliffes Klugheit war ihm viel zu sehr bekannt, als daß er sich zum zweitenmale in seine Nähe hätte wagen mögen. Unter dem Vorwand einer Unpäßlichkeit hielt er sich am zweiten Synodaltage zu Hause und verabschiedete sich am dritten schriftlich von seinem Freunde, dem königlichen Abgeordneten. Seinem Agenten gab er Auftrag, alle über die Annaple Bailzou einlaufenden Nachrichten durch einen Eilboten nach Knocktarlitie nachzuschicken. . Die Reise dorthin gestaltete sich für Lord Staunton über Erwarten angenehm. Als ihm Edinburg aus dem Gesicht kam, wurde es ihm leichter ums Herz; und Butlers ruhige und schlichte Unterhaltung war so recht dazu angetan, ihm die trüben Betrachtungen aus dem Sinne zu bringen. Ja sie führte ihn, um ihn immer um sich zu haben, auf den Gedanken, ihm die reiche Pfründe von Willingham zuzuwenden; durfte er doch auch rechnen, daß sich seine Frau dann mehr als bisher mit dem Leben auf dem Lande befreunden werde.

Er fragte Butler, ob ihm eine Pfarre mit zwölfhundert Pfund jährlicher Einkünfte genehm läge, wenn die Bedingung daran geknüpft würde, zur englischen Kirche überzutreten. Butler erwiderte, »in den Lehren der Kirche, von deren Wahrheit er überzeugt, und in denen er erzogen sei, zu seinem Gott eingehen zu wollen.« Staunton fragte ihn nun, was ihm seine gegenwärtige Pfarre einbringe? – »Im Durchschnitte hundert Pfund jährlich, den Ertrag von den Aeckern und Wiesen nicht gerechnet.« – »Und dagegen schlagen Sie eine Pfründe aus, die Ihnen das zwölffache sichert?« – »Meine kleine Pfarre hat mir bislang das Leben gedeckt – durch die mir vom Schwiegervater zugefallene Erbschaft und einige Ersparnisse meiner Frau mehren sich die Einkünfte um reichlich das doppelte, und ich weiß wirklich noch nicht, wie wir das Hinzugekommene verwerten sollen. Nun sollte ich, da ich weder den Wunsch noch Anlaß habe, dreihundert Pfund jährlich mehr aufzuwenden, den Besitz einer vierfachen Summe erstreben, wenn ich höhere Rücksichten dagegen opfern soll?« – »Das ist echte Lebensweisheit,« erwiderte Staunton. »Ich habe wohl gehört, daß sie bei Menschen noch zu finden sei, bislang aber umsonst danach gesucht.« – Staunton fühlte sich von der Reise angegriffen und entschloß sich deshalb zu einem Rasttag in einer kleinen Ortschaft zwischen Edinburg und Glasgow. In Dumbarton wurde ein Boot gemietet, das sie den Loch Care hinauf nach dem Pfarrhause bringen sollte. Zwei Lakaien sollten die Wasserfahrt mitmachen, die übrigen bei dem Wagen bleiben. Kurz vor der Abfahrt trat der Eilbote aus Edinburg von Lord Stauntons Geschäftsführer ein, mit verschiedenen Schriftstücken, deren Inhalt Lord Staunton lebhaft zu erregen schien. Staunton schrieb sogleich nach Edinburg zurück und gab dem Boten ein reichliches Trinkgeld, legte ihm aber die Verpflichtung auf, die Rückreise ohne allen Aufenthalt zu bewirken.

Da die Fahrt stromabwärts ging, hatten die Ruderer schwere Arbeit. Unterwegs erkundigte sich Lord Staunton mit auffälligem Eifer nach den im Hochlande noch aufhältlichen Räubern; Butler gab ihm, soweit er konnte, Auskunft, und ließ dabei den Namen Donacha fallen. Sogleich erkundigte sich Staunton nach diesem Banditen wie den zu ihm haltenden Kameraden. Butler wußte auch nur, daß Donacha selten mehr als drei bis vier Leute um sich habe und nicht die Ambition besitze, als Haupt einer eigentlichen Räuberbande zu gelten; er persönlich spüre kein Verlangen, die flüchtige Bekanntschaft, die er mit ihm gemacht, irgendwie zu erneuern...«

»Und doch möchte ich den Mann einmal sehen,« erklärte Staunton. – »Solche Begegnung, Sir Georg, ist eine sehr gefährliche Sache; Sie müßten ihn denn gerade dann sehen, wenn ihn die Strafe trifft; das sind aber traurige Augenblicke, nach denen es einen besser nicht verlangt.« – »Wen träfe, wenn jedem nach Verdienst gemessen würde, keine Strafe, Herr Pfarrer? Nun ich spreche in Rätseln – will mich aber deutlicher erklären, sobald ich mit meiner Frau über den Fall gesprochen... Setzt die Ruder ein, Bursche,« rief er, »am Himmel droht Sturm.«

Schwere Wolkenmassen hingen am westlichen Himmel, von der untergehenden Sonne mit tiefem Rot gefärbt, die Luft war schwer wie Blei, und bange Stille herrschte in der ganzen Natur, den Ausbruch eines Ungewitters verkündend. Bald fielen große, schwere Tropfen, aber es kam zu keinem richtigen Regen, trotzdem eine drückende Hitze, in Schottland ganz ungewöhnlich um Ende Mai herum, herrschte. Die Fahrt wurde immer beschwerlicher. Wilde Böen jagten über die Wasserfläche und machten alle Arbeit der Ruder vergeblich. Noch ein schmales Vorgebirge galt es zu umschiffen, um zu einem Landungsplatz, der Mündung eines kleinen Flusses, zu gelangen. Aber der schwere Sturm machte es ihnen außerordentlich schwer, vorwärts zu kommen.

»Könnten wir nicht diesseits vom Gebirge landen und Schutz finden?« fragte Staunton. – Butler kannte keinen Landungsplatz in der Nähe, von wo aus man an den steilen Felsen, die das Ufer umgaben, empor gelangen konnte. – »Wir müssen eine Zuflucht finden,« rief Staunton, »der Sturm wird immer stärker.« – »Je nun,« sagte einer von den Bootsleuten, »so bleibt uns bloß die Zigeunerbucht; aber dem Herrn Pfarrer darf man nichts davon sagen wegen des Schmuggels; auch weiß ich nicht, ob ich das Boot dorthin steuern kann; die Bucht wimmelt von Untiefen und versunkenen Felsblöcken.«

»Versuch's,« befahl Staunton, »eine halbe Guinee, wenn wir die Bucht gewinnen.« Der alte Fährmann griff nach dem Steuer; »sind wir erst mal drin,« sagte er, »werden wir bald den steilen Pfad finden zu den Bergen hinauf – und das Pfarrhaus erreicht haben.« – »Vor fünfzehn Jahren, als Andrew Wilson mit seinem Kutter die Buchten befuhr,« sagte der Mann, »wußte ich freilich hier bessern Bescheid. Er hatte damals einen jungen Engländer bei sich, einen gar wilden Patron mit Namen.« – »Wenn Du soviel plapperst,« fiel ihm Lord Staunton ärgerlich ins Wort, »rennt der Kutter auf den Wetzstein! Halt das Segel scharf auf die weiße Kuppe dort!«

»Mord und Brand,« rief der Alte und starrte ihn an wie den leibhaftigen Gottseibeiuns. »Euer Gnaden wissen in der Bucht so gut Bescheid wie ich. Euer Gnaden müssen die Nase schon früher am Wetzstein gehabt haben.« ,

Sie kamen der kleinen, durch Klippen geschützten, hinter Felsen verborgenen Bucht langsam näher, die nur von Leuten benutzt werden konnte, die genau mit der Schiffahrt in diesen Gewässern vertraut waren. Ein altes gebrechliches Boot lag dort, hinter Gebüsch und vorspringenden Felsen versteckt. Butler sagte, als er dasselbe erblickte, zu dem Lord, wie schwer es ihm würde, die Leute in der Gegend von der Gesetzwidrigkeit des Schleichhandels zu überzeugen, obgleich sie seine schädlichen Folgen täglich vor Augen hätten. Staunton meinte, der Schmuggel übe auf jugendliche Gemüter eine gewisse Romantik, und im reiferen Alter käme wohl auch hier die Besserung? .

»Dies trifft nicht immer zu,« versetzte Butler, »besonders bei denen nicht, die sich zu Blutvergießen haben hinreißen lassen; freilich kommt jeder dabei früher oder später zu einem schlimmen Ende. Lehrt uns doch schon die heilige Schrift, daß die Hand der Vergeltung den Gewalttätigen ereilt, und daß wer nach Blut dürstet, nicht die Hälfte seiner Tage erlebt. Aber wollen Sie sich nicht meines Armes bedienen, auf das Ufer zu steigen?«

Lord Staunton tat wirklich Beistand not, denn die Worte des schlichten Pfarrers, die seine früheren Gesinnungen so herbe straften, gingen ihm so nahe, daß er sich einem Schwindel nahe fühlte.

Nur dumpfer Donner dröhnte noch, als sie den Fuß ans Land setzten. – »Das ist ein böses Omen, Herr Butler,« sagte Staunton. – »Intonuit laevum [Es donnert links]. Und das bedeutet Gutes,« versetzte Butler lächelnd. – Den Bootsleuten wurde befohlen, das Boot mit dem Gepäck um das Vorgebirge herum nach dem gewöhnlichen Landungsplatze zu steuern; die beiden Herren hingegen von einem Lakaien begleitet, suchten sich auf wild verworrenem Pfade durch dichtes Gebüsch den Weg zum Pfarrhaus zu bahnen, wo man in banger Sorge auf sie seit dem verflossenen Tage wartete. Auch der Abend des dritten Tages nahte, und noch immer kamen sie nicht, die beiden Gatten! Lady Staunton fürchtete, Unmut halte den ihrigen fern, da er sich vor der Begegnung mit ihrer Schwester, der seine unglückliche und schmachvolle Lebensgeschichte bekannt war, scheue; wußte sie doch nur zu gut, welchen Zwang er sich in Gegenwart anderer auferlegen mußte, um seine Ruhe zu wahren! Sie bat Jeanie wiederholt, sich zu stellen, als ob sie ihn nicht wiedererkenne, ihn ganz wie einen Fremden zu behandeln; und Jeanie versprach es ihr neuerdings, sich ganz nach ihrem Willen zu richten. Auch Jeanie wurde unruhig, wenn sie sich die Verlegenheit ausmalte, in die eine solche Zusammenkunft beide Teile setzen mußte; aber ihr Gewissen war rein, und so sah sie trotz allem der Heimkunft ihres geliebten Mannes nach so langer Abwesenheit mit inniger Sehnsucht entgegen.

In dieser Stimmung traf Hauptmann Knockdunder an der Spitze seines halben Dutzends rüstiger Bursche in Hochlandstracht die beiden Damen. – Er verneigte sich vor ihnen und bat Jeanie um Branntwein und andern Proviant, da er schon seit frühem Morgen über Heide und Moor getrabt sei, doch ohne jemand zu treffen. Er bekräftigte seine Worte mit einem derben Fluch, um dann mit ritterlicher Miene, zu Lady Staunton gewendet, fortzufahren: »Es ist mir wenigstens ein Trost, nachdem ich die schwere Arbeit hinter mir habe, daß sie geschehen ist, einer schönen Frau, oder dem Manne einer schönen Frau, zu dienen, was ja auf eins herauskommt; denn wer dem Manne dient, dienet seinem Weibe, wie Frau Butler gar wohl weiß.« – »Ich weiß nicht, Hauptmann,« sagte Lady Staunton, »da diese Schmeichelei mir zu gelten scheint, was Sir Georg oder ich mit Ihren heutigen Wanderungen zu schaffen haben.« – »Gott verdamm mich! das ist hart, meine Gnädige! Als ob es nicht auf besonderen Auftrag des Herrn Agenten Seiner Gnaden zu Edinburg und beigefügten gerichtlichen Verhaftsbefehl geschehen wäre, daß ich Donacha aufsuche, um ihn vor mich und Sir Georg zu stellen, damit er seine gerechte Strafe erleide; den Tod am Galgen nämlich, sowohl weil er Ihre Gnaden so in Angst gejagt hat, als auch wegen anderer Dinge von geringerer Wichtigkeit.« – »Weil er mich in Angst gejagt? Ich habe doch meinem Gemahl keine Silbe von dem Zusammentreffen mit Donacha am Wasserfall geschrieben.« – »Dann muß er es auf andere Weise erfahren haben, denn wie käme er sonst dazu, diesen Schuft sehen zu wollen? mich über Stock und Bein zu hetzen, als könnte mir ein besonderer Gewinn draus erwachsen, wenn ich ihn treffe? Wenn nur mich nicht vorher ein Schuß durchs Gehirn trifft!« – »Verfolgen Sie den Räuber wirklich auf Wunsch meines Gemahls?« fragte die Lady. – »Nun, Gottes Donner! mir war's allein mein Leben nicht eingefallen, ihm das bißchen Ruhe, das ihm von den Englischen noch gelassen wird, zu rauben, so lange er herzogliches Eigentum in gebührlicher Achtung hält. Beliebt's aber, einem Freunde des Herzogs, ihn unter Schloß und Riegel zu wissen, dann muß ich ihn eben hinter Schloß und Riegel bringen. Darum bin ich nun seit Tagesanbruch auf den Beinen mit dem halben Dutzend junger, kräftiger Burschen in Hochlandstracht.« – »Es wundert mich, Herr Hauptmann,« bemerkte Jeanie, »daß Sie den Parlamentsbefehl gegen Hochlandstracht außer acht lassen.– »Gottes Donner!« rief der Hauptmann »wir haben das Gesetz erst ein paar Jahre, und bis es uns in Fleisch und Blut gedrungen, vergeht wenigstens die zehnfache Zahl. Wie sollen denn meine Bursche mit den vermaledeiten Hosen über den Beinen die Berge hinaufkommen? Na, ich weiß doch, wo Donacha seinen Schlupfwinkel hat, bin auch dagewesen, wo er noch gestern gehaust hat, hab das dürre Laub gesehen, auf dem er mit seinen Kameraden gelegen, hab die Asche gerochen, die von ihrem Feuer übrig ist. Aber er muß Unrat wittern, der Donacha, denn ob ich auch alle Schluchten und Höhlen im Gebirg visiert habe, so ist mir doch kein Zipfel seines Rockes zu Gesicht gekommen.« – »Er wird den Loch hinunter bis Cowal gefahren sein,« sagten David und Reuben, die früh am Morgen nach Nüssen im Walde gewesen waren und ein Boot nach der Zigeunerbucht hin hatten steuern sehen, einem ihnen wohbekannten Orte, wenn auch ihrem Vater, der von Abenteuern nichts wissen mochte, nichts davon bekannt war. – »Nun wahrhaftig,« rief Duncan, »dann will ich schnell austrinken und wieder weiter. Vielleicht sind sie gar im Gehölz? Euer Gnaden wollen meinen schnellen Abschied entschuldigen! ich bin gleich wieder zurück, entweder mit dem lebendigen Donacha oder mit seinem Kopfe, was ebensogut ist.«

Unter vielen Verbeugungen verließ Duncan das Pfarrhaus, um mit seinen Mannen das Gehölz zwischen dem kleinen Gebirgstal und der Zigeunerbucht abzusuchen. David, den der Hauptmann wegen seines Mutes gut leiden mochte, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihn auf diesem Zuge zu begleiten.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Duncan war mit seinen Gefährten noch nicht weit in die Zigeuner-Bucht vorgedrungen, als sie schnell hintereinander Schüsse fallen hörten. »Da hör einer, wie die Schufte wieder unter den Rehen aufräumen!« rief er, »nun, Bursche, drauf und dran!« Schwertergeklirr drang zu ihren Ohren und beflügelte ihre Schritte, und nicht lange mehr, so hatten sie die Stelle erreicht, wo Reuben Butler und Stauntons Diener im Handgemenge mit vier Räubern waren. Am Boden hingestreckt, das Schwert noch in der Rechten, lag Georg Staunton da. Kühn wie ein Löwe, riß Duncan das Pistol aus dem Gürtel und feuerte es auf den Anführer der Räuberschar ab. Dann schwang er das Schwert, und mit dem Ruf an seine Mannen: »Claymore! Claymore!« rannte er es dem schon verwundeten Anführer, der kein anderer als Donacha Dunean selbst war, durch den Leib. Schnell waren nun auch die anderen Räuber überwältigt, einen jungen Burschen ausgenommen, der für seine Jahre einen unerhörten Widerstand leistete, aber endlich mit Aufwand großer Mühe bezwungen wurde. Sobald Butler freie Hand hatte, eilte er zu dem am Boden liegenden Sir Staunton, aus dessen Körper jedoch schon alles Leben gewichen war.

»Ein schweres Unglück,« sagte Duncan Knockdunder; »es wird wohl am klügsten sein, wenn ich mich auf den Weg mache und es der edlen Dame selbst melde.« David, es war heute das erste Pulver, das Du gerochen; aber, Junge, Prachtjunge!« rief er, »Du hast Dich trefflich gehalten. Da, nimm mein Schwert und schlage zum Lohne dafür dem Donacha den Kopf vom Rumpfe! Der gnädigen Dame wird es auch wohl lieber sein, wenn sie die Leiche unversehrt sieht. Hoffentlich verweigert sie mir die Anerkennung nicht, daß ich edelmännisches Blut schnell, und wie es sich gehört, zu rächen weiß.«

So sprach ein Mann, der in den Sitten und Bräuchen des Hochlandes ergraut und nicht gewöhnt war, in dem Ausgange solches Scharmützels eine Merkwürdigkeit oder einen erschütternden Vorgang zu erblicken. Die wesentlich andere Wirkung zu schildern, die das gräßliche Unglück auf Lady Staunton hervorbrachte, als sie den Gemahl, den sie frisch und gesund wiederzusehen gehofft, als blutüberströmte Leiche in das Pfarrhaus tragen sah, wollen wir nicht versuchen. Sie vergaß alles Herzeleid, das er ihr zugefügt, und sah in ihm nur den Geliebten der Jugend; möchte er sich an der Welt auch noch so schwer versündigt haben, in ihren Augen besaß er nur die kleinen Fehler und Gebrechen, die reizbaren, übernervösen Gemütern leicht zu eigen werden, wenn Erziehung versäumt, sie rechtzeitig zu ernsten Grundsätzen zu führen. In ihrem maßlosen Schmerze überließ sie sich ganz der wilden Heftigkeit ihres Temperaments, und Jeanie mußte ihre ganze Liebe aufbieten, um ihr den Mund zu verschließen, denn wenig fehlte, so hätte sie das Geheimnis verraten, auf dessen Geheimhaltung jetzt doch soviel ankam. Erst als sich ihr Schmerz einigermaßen ausgetobt hatte, ließ Jeanie die Schwester allein und begab sich zu ihrem Manne, um mit ihm über das weitere Verhalten zu beraten; sie meinte, die Verhältnisse erheischten es, daß Reuben der Amtswaltung des Hauptmanns zuvorkomme und im Namen der Lady Staunton auf alle Schriftstücke und Papiere ihres verstorbenen Gemahls Beschlag lege. Reuben Butler war wie vom Donner gerührt, als er jetzt aus Jeanies Munde den eigentlichen Zusammenhang erfuhr, daß Lady Staunton Effie, daß Effies verstorbener Gemahl identisch sei mit Georg Robertson. Aber in dieser Krisis trat Jeanies Seelenstärke, ihr klarer Blick, und ihre unermüdliche Tätigkeit in das glänzendste Licht; während Knockdunder sich nicht eine Sekunde an der zur Erfrischung notwendigen Zeit kürzen mochte, dann eine umständliche Zeugenvernehmung vornahm und zwar in der gälischen sowohl als in der englischen Sprache, sorgte sie dafür, daß der Leichnam ihres verewigten Schwagers gewaschen, umgekleidet und aufgebahrt wurde. Das Kruzifix und der Rosenkranz, die sich über dem härenen Büßerhemde an seinem Leibe befanden, lieferten Zeugnis dafür, daß er sich, im drückenden Bewußtsein der auf ihm lastenden Schuld, zu jener Religion bekannt hatte, welche lehrt, daß durch leibliche Kasteiung die Sünden des Geistes zu sühnen seien.

In dem Bündel von Briefen und Schriftstücken, das ein Eilbote für Sir Staunton gebracht hatte, fand Reuben Butler weitere höchst befremdliche Nachrichten, so daß er Gott innig dankte, ihn von dem Schritte, zu dem ihm seine Frau geraten, nicht abgehalten zu haben.

Ratcliffe nämlich, der Fühlung mit allen Verbrechern im Lande besaß, hatte, angespornt durch die ihm verheißene Belohnung, schnell eine Spur von dem abhanden gekommenen Kinde des unglücklichen Elternpaares gefunden: jenes Weib, dem die am Galgen gestorbene Megg Murdockson das Kind überantwortet hatte, hatte es bis zu seinem achten Lebensjahre mit sich im Lande herumgeschleppt und, wenn nicht zu Schlimmerem, sicher zum Betteln angehalten. Als sie darauf wieder in das Edinburger Zuchthaus wandern mußte, hatte sie das Kind an Donacha Dhuna Dunaigh verkauft, der damals noch als Kesselflicker im Lande umherzog. Ein hartgesottener Bösewicht wie er, stand natürlich jenem schrecklichen Handel nicht fremd, der damals zwischen England und Amerika getrieben wurde. Um Leute zur Arbeit auf den Pflanzungen zu bekommen, schreckte man damals nicht zurück, auch Weiße, und zwar vornehmlich Kinder beiderlei Geschlechts, dorthin zu verschachern. Bis hierher führte Ratcliffes Spur; er war nicht im Zweifel, daß Sir Staunton weitere Nachricht durch Donacha-Dhuna erlangen könne. Aus diesem Grunde hatte der schon öfter im Verlaufe dieser Erzählung genannte Rechtsanwalt ein Schreiben an Sir Staunton und gleichzeitig an den Hauptmann Knockdunder einen Haftbefehl gegen Donacha-Dunca durch Eilboten gesandt.

Was nun Reuben Butler weiter erfuhr, als er sich zu Knockdunder begab, um an der noch im Gange befindlichen Zeugenvernehmung teil, wie von dem bereits aufgenommenen Protokoll Kenntnis zu nehmen, war folgendes: Donacha hatte tatsächlich den unglücklichen Knaben, dem Effie bei der Megg Murdockson das Leben geschenkt, gekauft, in der Absicht, ihn mit erklecklichem Profit an eines jener amerikanischen Scheusale von Menschenhändlern zu verkaufen. Es hatte sich aber nicht sogleich eine hierzu günstige Gelegenheit geboten, und da er inzwischen an dem Knaben gewisse Charakterzüge merkte, die nach seinem Sinne waren, kam er auf den Einfall, ihn bei sich zu behalten. Er wurde, wie Donacha mit besonderer Freude feststellte, das richtige Satanskind: prügelte er ihn, so jammerte er nicht wie andere Kinder und bettelte auch nicht wie andere Kinder, sondern fluchte und drohte, sich dafür bitter zu rächen; in allen Schlichen und Ränken war er früh zu Hause, und die nichtsnutzigsten Lieder und Zoten waren ihm geläufig. Vom elften Jahre gehörte er der Bande Donachas unter dem Spitznamen »Pfeiferhans« als regelrechtes Mitglied an und nahm regen Teil an ihren Beutezügen. Den letzten derselben hatten die von seinem wirklichen Vater angestellten Nachforschungen nach seinem Verbleib veranlaßt.

Donacha war schon eine Zeitlang durch die strengen Maßregeln, die gegen alles rechtlose Gesindel in den Grenzdistrikten verhängt worden, zu äußerster Vorsicht gemahnt worden, und hatte sich, da sich die Verhältnisse nach dieser Richtung immer mehr verschärften, vorgenommen, überhaupt aus dem Lande zu flüchten und die alten Freunde und Bekannten unter den Schleich- und Sklavenhändlern Amerikas aufzusuchen. Aber einen letzten Streich wollte er zuvor noch ausführen. Er hatte Kenntnis davon bekommen, daß im Pfarrhause zu Knocktarlitie ein reicher Engländer eintreffen sollte; was ihm sein Zögling von dem Golde erzählt, das er in der Börse der Lady gesehen, war ihm auch nicht aus dem Sinne gekommen, und was der Pfarrer auf dem Kerbholze bei ihm hatte, auch nicht; obendrein ging die Rede, daß derselbe aus Edinburg viel Geld mitbringe, und aus all diesen Gründen war Donacha bestimmt worden, in dem Walde bei der Zigeunerbucht, wo man ihn, der Nähe halber, am wenigsten vermuten dürfte, die Nacht abzuwarten und von dort in die Pfarrei einzubrechen, nach verübter Untat sogleich in See zu stechen und die Beute mit nach Amerika hinüberzunehmen.

Dieser verwegene Plan wäre ihm wahrscheinlich gelungen, wäre sein Versteck nicht zufällig durch Sir Georg und Reuben Butler auf ihrem Wege nach dem Pfarrhause entdeckt worden. Donacha, der die Reisenden als sichere Opfer betrachtete, war ohne Bedenken über sie hergefallen, aber in dem Kampfe infolge des tapfern Widerstandes, den Sir Georg leistete, schnell unterlegen; leider aber war Sir Georg, und allem Vermuten nach durch die Hand des eignen Sohnes, den er so lange gesucht, und den er auf solch unglückselige Weise wiederfinden sollte, dabei um sein noch verhältnismäßig junges Leben gekommen. Während Butler, von dem schrecklichen Ereignisse wie zu Eis erstarrt, dastand, wetterte Knockdunder, sein Entsetzen noch verstärkend, wie ein Rasender gegen die gefangenen Räuber.

»Die Glockenstränge laß ich aus dem Turme holen,« schrie er, »und knüpfe das Diebespack an Ort und Stelle auf, damit im Lande wieder Respekt vor Recht und Gesetz einzieht.« – Butler hielt ihm vor, daß die Gefangenen, da in Schottland alle erbliche Jurisdiktion abgeschafft sei, nach Glasgow oder Inverary transportiert werden müßten, da sie nur dort gerichtet werden könnten. Aber Duncan wollte hiervon nichts hören; Rebellen gegenüber seien Ausnahmegesetze am Platze und im Brauche, und vor allem in Argyle gelte nach wie vor herzogliches Recht; er lasse sich unter keinen Umstanden davon abbringen, die drei Kerle vor dem Fenster von Lady Stauntons Schlafzimmer aufzuknüpfen, damit die hohe Dame sähe, daß er, Duncan von Knockdunder, noch nicht verlernt habe, wie in Schottland Blutrache geübt werde. Endlich aber gelang es Reuben Butler doch, ihm solchen Verstoß gegen das jetzt im Lande herrschende Gesetz soweit auszureden, daß er sich einverstanden erklärte, die beiden Männer nach Glasgow bringen zu lassen; den Pfeiferhans aber wollte er »am Galgen pfeifen lassen«, damit es im Lande nicht heiße, ein Freund des Herzogs sei im Distrikte des Herzogs ungerächt ermordet worden.

Die Nacht hatte sich niedergesenkt, und alles im Hause war still und ruhig, als Jeanie, um das ihrem Neffen drohende Schicksal, wenn sie ihn der Besserung fähig erkennen sollte, abzuwenden oder wenigstens zu verzögern, die Kammer, in die ihn Knockdunder gesperrt hatte, mit einem Hauptschlüssel öffnete und vor den auf dem Estrich liegenden Zigeunerburschen trat. In seinem sonnverbrannten, durch Schmutz und Ruß verunstalteten, von rauhem schwarzen Haar halb verdeckten Gesicht suchte sie vergeblich nach einer Spur von Aehnlichkeit mit seinen durch Schönheit ausgezeichneten Eltern. Und doch, wie konnte sie einem so jungen, elenden Wesen ihr Mitleid versagen: war sein Elend ja viel größer, als er selbst es ahnte oder ahnen konnte, da der Mord, den er, wenn nicht aller Wahrscheinlichkeit selbst begangen, doch mit verschuldet hatte, ein Vatermord war! Sie setzte Speise und Trank neben ihn, richtete ihn auf, lockerte die Bande, die ihm die Hände fesselten, damit er essen könne. Er streckte die Hände nach der Speise aus, – Hände, an denen Vaterblut noch klebte, – und verschlang gierig und schweigend Speise und Trank.

»Wie lautete Dein erster Name?« fragte sie, um das Gespräch mit ihm zu beginnen. – »Pfeiferhans!« – »Und Dein Taufname?« – »Ich habe, so viel ich weiß, kein Taufbecken gesehen. Ich heiße Pfeiferhans und nicht anders.« – »Armer unglücklicher Mensch,« rief Jeanie; »was tätest Du, wenn Du von hier flüchten, wenn Du dem Tode, der Dir morgen droht, entrinnen könntest?« – »Zu Rob Roy oder More Cameron schlüge ich mich durch, und rächte Donachas Tod an all und jedem!« – »Unglückseliger,« rief Jeanie, »weißt Du auch, was aus Dir wird, wenn Du stirbst?« – »Dann friert's mich nicht mehr!« versetzte der Jüngling verstockt.

»Ihn in solcher Beschaffenheit hinrichten zu lassen,« sprach Jeanie bei sich, »bedeutet Leib und Seele zugleich vernichten – aber entfliehen lassen darf ich ihn auch nicht. Gott! was soll ich beginnen? und doch ist er meiner Schwester Sohn, mein Neffe, von unserm Fleisch und Blut! und Hände und Füße sind ihm so fest geschnürt, daß sie ihm schier ins Fleisch schneiden.«

»Pfeifer, schmerzen Dich die Stricke?« fragte sie. – »Sehr,« klagte er. – »Wenn ich sie Dir löse, tätest Du mir was zuleide?« – »Nein, hast Du doch mir und den Meinen auch nichts zuleide getan.« – »Vielleicht ist doch noch ein Funke von Gutem in seinem Gemüte,« dachte Jeanie, »ich will versuchen, was Milde über ihn vermag.«

Sie löste seine Bande, und er sprang auf, blickte mit wilder Miene um sich und klatschte in die Hände, wie außer sich vor Freude, daß er frei war. Er sah so wild aus, daß Jeanie vor dem, was sie getan, zitterte. – »Laß mich hinaus,« rief der junge Wilde. – »Nicht eher, als bis Du mir versprichst.« – »So sollst Du schnell froh sein, wenn wir beide draußen sind!« rief er, nahm das brennende Licht und warf es in den Flachs, daß im Nu die Flammen hoch schlugen. Jeanie schrie und rannte aus der Kammer. Der Zigeunerbursch sprang an ihr vorbei, riß ein Fenster auf, war mit einem Satze unten, im Garten, mit einem zweiten über den Zaun hinüber, durch den Wald und hatte im Nu das Seeufer erreicht.

Es gelang, den Brand zu löschen; aber da Jeanie über ihr Geheimnis nichts verlauten ließ, ahnte auch niemand, daß sie es gewesen, die dem Zigeuner zur Flucht verholfen hatte. Was aus ihm geworden, erfuhren sie erst Wochen nachher; sein Leben verlief so wild, wie er es begonnen hatte. Das Schiff, auf dem sich Donacha einschiffen wollte, nahm den Pfeiferhans mit; sein habsüchtiger Kapitän aber, ergrimmt über den Verlust der reichen Beute, die Donacha an Bord zu bringen versprochen hatte, hielt sich am Pfeiferhans schadlos, indem er ihn an einen virginischen Pflanzer als Sklaven verkaufte. Reuben Butler schickte, als ihn diese Kunde erreichte, eine Geldsumme nach Westindien, die ihn loskaufen sollte; allein die Hilfe kam zu spät; Pfeiferhans war ausgebrochen und, nachdem er seinen grausamen Herrn ums Leben gebracht, zu einem Indianerstamm geflohen. Dort ist er umgekommen, wahrscheinlich gewaltsam – gehört hat niemand mehr etwas von ihm. Reuben und Jeanie hielten es nicht für geraten, Effie von dem schrecklichen Schicksal ihres Sohnes Kenntnis zu geben. Ueber ein Jahr nach dem Tode ihres Mannes war sie im Pfarrhause geblieben. Zuerst hatte sie wahren Kummer gefühlt; in den letzten Monaten hatte sich mehr Verdruß und üble Laune über die Einförmigkeit ihres friedlichen Landlebens ihrer bemächtigt. Effie neigte nun einmal von frühester Jugend, im Unterschied von ihrer Schwester, zu Unterhaltung und Zerstreuung. Als sie Knocktarlitie den Rücken wandte, fand sie sich auf das freigebige bei ihrer Schwester für alles, was sie an ihr getan, ab; aber als der erste Trennungsschmerz vorüber war, erschien Effies Abreise nicht bloß ihr, sondern auch Jeanie und deren Manne als eine Wohltat. In die stille Glückseligkeit von Knocktarlitie drang mit der Zeit die Nachricht, daß die reiche, schöne Lady Staunton ihren Rang in der vornehmen Welt wieder eingenommen habe; aber sie vergaß der treuen Schwester nicht, denn durch sie erhielt David eine Offiziersstelle im britischen Heere, und da der soldatische Geist Bibel-Butlers in ihm wieder aufgelebt zu sein schien, machte er rasch Karriere. Sein Bruder Reuben widmete sich der Rechtswissenschaft, ebenfalls mit großem Erfolge. Euphemia Butler, ihrer Tante an Schönheit gleich und durch dieselbe aufs reichste ausgestattet, vermählte sich mit einem hochländischen Laird und wurde mit Hochzeitsgeschenken so reich bedacht, daß man sie weit und breit in Dumbarton und Argyleshire um ihr Glück neidete.

Noch etwa zehn Jahre glänzte Lady Staunton in der vornehmen Welt als ein bewunderter Stern; aber wie so viele dort unter einer glänzenden Außenseite ein blutendes Herz verbergen, so fand auch Effie nie das wahre Glück. Höchst ehrenvolle Heiratsanträge schlug sie aus und zog sich endlich, nicht mehr im stande, ihre Herzenswunde zu verbergen, auf den Kontinent und in das Kloster zurück, in welchem sie ihre Bildung erhalten. Den Schleier nahm sie nicht, lebte aber hinfort abgeschieden von der Welt und in strenger Ausübung des katholischen Glaubens, zu welchem sie, zu Jeanies und Reubens tiefem Leidwesen, übergetreten war.

Glücklich in ihrer Liebe, geehrt von allen, die sie kannten, am glücklichsten aber über das Glück ihrer Kinder, lebten die ehrsamen Pfarrersleute von Knocktarlitie viele Jahre noch nach Effies Heimgange, und als auch sie dem Leben ihren Tribut zahlten, blieb ihnen die Liebe aller, die sie kannten, auch über das Grab hinaus treu.

Ende

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