An einem langen, grünen Tische saßen die Ratsherren versammelt. Am untern Ende desselben stand ein Mann, den sie verhörten. Als Butler vom Frone herbeigeführt wurde, fragte einer der Räte, ob das der Geistliche aus Libberton sei. Als der Fron mit Ja antwortete, sagte der Ratsherr, es werde nicht mehr lange dauern, das Verhör vielmehr bald zu Ende sein, Butler solle sich setzen. Einer der Beisitzer fragte, ob Butler nicht besser so lange wieder abgeführt werde? Der Ratsherr verneinte. Butler mußte sich, während ein Soldat von der Wache neben ihm Posten faßte, am entgegengesetzten Ende des Zimmers auf eine Bank setzen.

Es war ein sehr großer Raum, aber eigentümlich beleuchtet. Alles Licht von dem einzigen Fenster, das er hatte, fiel, ob nun zufällig oder vom Baumeister so eingerichtet, auf den untern Teil der Tafel, wo sich die angeklagten Personen aufstellen mußten, während der obere Teil, wo die Richter ihre Plätze hatten, in tiefem Schatten lag.

In der Erwartung, in dem Gefangenen, mit dessen Verhöre sich die Ratsherren befaßten, einen der Aufrührer der gestrigen Nacht zu erkennen, richtete Butler die Blicke auf ihn. Aber so auffallend auch das Gesicht des Mannes war, so konnte Butler sich doch nicht entsinnen, ihn je vorher im Leben gesehen zu haben. Er war von dunkler Farbe und schon im vorgerückten Alter. Das tiefschwarze, doch schon grau gesprenkelte Haar trug er kurz geschoren und glatt über die Stirn gekämmt. Sein Gesichtsausdruck war eher verschmitzt als gewalttätig, und die grellen schwarzen Augen, die scharfen Züge, das hämische, gemeine Lächeln mit dem frechen Zug um seine Lippen gaben ihm ganz das Aussehen eines verschlagenen Halunken, den man, wenn man ihm auf einem Jahrmarkte begegnet wäre, aus den ersten Blick für einen Pferdehändler gehalten hätte. Auch die Kleidung, die er trug, die lange bis an den Hals zugeknöpfte Reitjacke, die spitzen Metallknöpfe daran, die groben blauen Drillichhosen mit den daran festgemachten Wadenstrümpfen und der heruntergeklappte Hut, ließ auf diesen Stand schließen. Nur eins fehlte, den Eindruck vollständig zu machen: die Peitsche unterm Arme und die Sporen am Fuße. »Euer Name ist Ratcliffe, James Ratcliffe?« fragte der Ratsherr.

»Mit Verlaub, Euer Gnaden, ja.«

»Das heißt: falls mir der Name nicht genehm wäre, würdet Ihr Ja auch zu einem andern Namen sagen?«

»Mit Verlaub, Euer Gnaden, bei etwa zwei Dutzend Namen könnte das zutreffen, Euer Gnaden,« erwiderte der Mann.

»Aber Euer gegenwärtiger Name ist Ratcliffe?« Der Mann nickte. »Und welches Gewerbe betreibt Ihr?« fragte der Ratsherr weiter.

»Gewerbe wäre wohl kaum der richtige Name für das, was ich treibe, Euer Gnaden,« sagte der Mann.

»Nun, dann wollen wir die Frage so stellen: wovon lebt Ihr?« fragte der Ratsherr.

»Je nun, Euer Gnaden, ich meine, das wissen Eure Gnaden doch gerade so gut wie ich.«

»Mag sein. Aber Ihr müßt Euch darüber hier deutlich aussprechen.«

»Ich, Euer Gnaden? Hier, Euer Gnaden? Solches sei ferne von James Ratcliffe!«

»Keine solchen Ausflüchte, Mann! Ihr habt hier klare und bestimmte Antwort auf jede Frage zu geben.«

»Richtig, Euer Gnaden,« antwortete der Mann, wem's drum zu tun ist, pardonniert zu werden, der soll von der Leber weg reden. Euer Gnaden verlangen, daß ich aussage, was ich treibe? wovon ich lebe? Ein nicht sonderlich günstiger Ort, auf solche Fragen klippklar zu antworten, Euer Gnaden, wenigstens für mich nicht. Aber, Euer Gnaden, wie heißt das siebente Gebot?«

»Du sollst nicht stehlen,« antwortete der Richter.

»Wirklich? heißt's so?« fragte der Mann; »dann steht meine Arbeit freilich im krassen Widerspruche zu dem Gebot, denn ich hab den Text immer gelesen: Du sollst stehlen! Wenn's auch bloß ein kleines Wörtchen ist, das fehlt, so macht's doch einen argen Unterschied aus.«

»Kurz also, Ratcliffe, Ihr seid ein berüchtigter Dieb?« fragte der Ratsherr.

»Hoch- und Unterland können's bezeugen, und England und Holland dazu, Euer Gnaden,« versetzte der Angeklagte mit maßloser Frechheit.

»Auf welches Ende habt Ihr mithin zu rechnen?« fragte der Ratsherr. »Gestern hätte ich's aufs Haar prophezeit, aber heute bin ich meiner Sachen nicht mehr sicher.«

»Und welches Ende hättet Ihr Euch gestern prophezeit, Ratcliffe?«

»Den Galgen, Euer Gnaden,« erwiderte Ratcliffe mit Seelenruhe.

»Ihr seid ein gar frecher Kujon, Ratcliffe! Und wie kommt Ihr dazu, für Euch etwas Besseres zu erhoffen?«

»Ich meine, Euer Gnaden, es sei doch ein himmelweiter Unterschied, ob einer im Loche sitzt, weil er muß, oder weil er gutwillig drin bleibt. Was hätte mich gestern, als die Menge mit Kapitän Porteous abzog, am Verduften gehindert? Und daß ich expreß geblieben sei, um Hanf zu riechen, das werden doch Euer Gnaden nicht glauben?«

»Weshalb Ihr da geblieben seid, weiß ich nicht; weshalb Euch das Gericht aber eingesteckt hat, weiß ich, Ratcliffe! um Euch nächsten Mittwoch über acht Tage hängen zu lassen!«

»Nicht doch, Euer Gnaden,« erwiderte Ratcliffe zuversichtlich, »mit Verlaub, Euer Gnaden; aber das glaube ich erst, wenn ich unterm Galgen stehe. Mit den Gerichten bin ich doch jahrelang auf Verkehrsfuß, habe auch schon manchen Tanz mit ihnen gedreht; aber so schlimm wie ihr Ruf, sind sie nicht, bei weitem nicht. Ich hab im Gegenteil immer gefunden, daß sie mehr bellen als beißen.«

»Ratcliffe, meines Wissens seid Ihr schon zum vierten Male zum Galgen verurteilt,« sagte der Ratsherr, »wenn Ihr nun nicht darauf rechnet, gehängt zu werden, als Ihr vorzogt dazubleiben, statt wie die andern auszubrechen, worauf habt Ihr dann gerechnet?«

»Auf ein Pöstchen in dem alten Kasten, an dem ich nun mal Geschmack gefunden habe,« sagte Ratcliffe.

»Auf ein Pöstchen am Pranger, meint Ihr?« rief der Richter.

»Nicht doch, Euer Gnaden, an den Pranger hab ich nicht gedacht, denn wer viermal zum Galgen verurteilt worden, der ist über Pranger und Stockhiebe doch längst hinaus.«

»Dann sagt mir aber, auf was für einen Posten könnt Ihr zu rechnen meinen?«

»Auf den eines Beifrons, Euer Gnaden,« erwiderte Ratcliffe mit maßloser Ruhe; »ich habe gehört, es sei einer vakant. Um den des Scharfrichters will ich mich nicht bewerben, denn der paßte nicht so gut für mich wie für andere, ich wenigstens hab in meinem ganzen Leben kein Tier umbringen können, geschweige einen Menschen.«

»Das spricht wenigstens nicht zu Euren Ungunsten,« sagte der Richter, den Ratcliffe, so schlau er seine Absicht zu bemänteln wußte, wirklich zur Milde gegen sich stimmte. »Aber,« fragte der Richter, »wie könnt Ihr Euch auf einen Posten als Beifron spitzen, nachdem Ihr doch aus nahezu allen Gefängnissen Schottlands ausgebrochen seid?«

»Mit Verlaub, Euer Gnaden,« versetzte Ratcliffe, »wenn ich es gut verstanden habe, zu entwischen, so werde ich es wohl besser noch verstehen, Leute am Entwischen zu verhindern. Wer mich halten will, wenn ich fort will, muß früh aufstehen, Euer Gnaden; aber noch früher müßte der aufstehen, der fort will, wenn ich mir vorsetze, ihn zu halten.« – Dem Richter schien das einzuleuchten; er gab Ratcliffe keinen Bescheid, sondern ließ ihn abführen, beugte sich aber, sobald der verwegene Wicht verschwunden war, zu dem Stadtschreiber und fragte ihn, was er zu solcher Frechheit sage.

»Es steht mir nicht zu, ein Urteil zu fällen,« antwortete dieser, »soviel aber meine ich, sagen zu dürfen, daß es, falls es Ratcliffe wirklich darum geht, gut zu tun, keinen zweiten in der Stadt gibt, der ihr im Diebesfache soviel nützen könnte wie er.«

Nun wurde Butler zum untern Ende der Tafel geführt. Der Ratsherr begann das Verhör, höflich, aber doch in einem Tone, der nicht verkennen ließ, daß er starken Verdacht gegen Butler habe. Dieser räumte mit der seinem Stand und Charakter angemessenen Ehrlichkeit seine ihm aufgezwungene Gegenwart bei der Ermordung des Hauptmanns Porteous ein, legte auch, auf Verlangen des Ratsherrn, einen ausführlichen Bericht der schrecklichen Begebenheit ab, der vom Schreiber zu Protokoll genommen wurde. Sobald er geendigt hatte, nahm ihn der Richter ins Kreuzverhör, dem auch der Unschuldigste leicht erliegt, auch wenn sich ein Fall nicht so schwierig gestaltet wie gerade der Butlers nach einer mit so ergreifenden Umständen verknüpften Schilderung, die unmöglich so klar vorgetragen werden konnte, daß nicht Zweifel und Widersprüche hätten wachgerufen werden sollen.

Der Ratsherr begann mit der Bemerkung, Butler habe sich nach Libberton begeben wollen und wolle doch am Westtor vom Pöbel gestellt worden sein. »Ist das Ihr gewöhnlicher Weg nach Libberton?« fragte er, nicht ohne Ironie; »durch das Westtor?«

Von Eifer erfüllt, seine Unschuld darzutun, versetzte Butler schnell: »Nein, freilich nicht, aber ich befand mich zufällig dem Westtore am nächsten, und der Torschluß stand unmittelbar bevor.«

»Allerdings ein recht unglücklicher Zufall!« bemerkte der Ratsherr trocken; »aber als Diener der Kirche, zumal Sie zur Teilnahme an dem gesetzlosen Tun gezwungen wurden, haben Sie doch Widerstand und Flucht versucht?«

Die große Zahl der Meuterer, erwiderte Butler, habe seine Widerstands- und Fluchtversuche unmöglich gemacht,

»Abermals ein recht verdrießlicher Zufall!« sagte ebenso trocken wie vorhin der Ratsherr, worauf er noch eine Reihe von Fragen über das Verhalten des Pöbels und die Kleidung, die die Rädelsführer getragen hätten, stellte und dann unvermittelt zu andern Punkten des von Butler gegebenen Berichts übersprang, immer bemüht, durch hinterlistige Fragen ihm Fallen zu legen. Indessen ertappte er Butler auf keinem Widerspruche, der auch nur einigen Halt gegeben hätte, den gegen ihn bestehenden Argwohn tiefer zu begründen. Endlich fiel in dem Verhöre der Name Madge Wildfire, und hierbei wechselten Ratsherr und Stadtschreiber einen vielsagenden Blick. Es folgte nun eine peinliche Befragung Butlers über Gesicht und Kleidung dieser Person, aber über das erstere viel zu sagen, war Butlern insofern nicht möglich, als es durch Schminke und Ruß völlig unkenntlich gemacht und obendrein durch eine über die Stirn gezogene Weiberhaube verdunkelt worden war. Auf Befragung erklärte er sich außer stande, besagte Madge Wildfire, wenn sie ihm in andrer Kleidung vorgeführt würde, anders als an ihrer Stimme wiederzuerkennen.

Der Ratsherr stellte ihm nun die Frage, zu welchem Tore er am Morgen nach der Begebenheit zur Stadt hinausgegangen sei.

Butler nannte das Cowgate-Tor.

»Und war dieses der nächste Weg nach Libberton?« fragte der Richter.

Butler erwiderte, abermals nicht ohne Verlegenheit: »Das freilich nicht; aber es wäre mir keiner näher gewesen, mich aus der Nähe des Pöbels zu entfernen.«

Ratsherr und Stadtschreiber sahen einander wieder an.

»Ist es vom Grasmarkt nach Libberton näher als durch das Cowgater oder Bristoler Tor?« fragte der Ratsherr.

»Das nicht,« entgegnete Butler; »aber ich wollte zu einem Freunde mit herangehen.« »So?« fragte der Ratsherr, »es war Ihnen also wohl darum zu tun, die Kunde von dem Vorfalle unter die Leute zu bringen?«

»Nein, gewiß, nicht. Ich habe mit keiner Silbe von den Ereignissen der Nacht gesprochen, so lange ich in Sankt-Leonard war.«

»Auf welchem Wege begaben Sie sich nach Sankt-Leonard?« »Ueber die Salisbury-Felsen,« erwiderte Butler.

»So? über die Salisbury-Felsen? Nun, nehmen Sie mir das nicht übel, aber Sie scheinen ein recht großer Freund von Umwegen zu sein, und wen haben Sie gesehen, seit Sie der Stadt den Rücken wandten?«

Butler schilderte all die verschiedenen Gruppen und Haufen, an denen er im Laufe des Morgens vorbeigekommen war, ihre Anzahl, ihr Aussehen, ihr Verhalten. Endlich tat er des geheimnisvollen Fremden Erwähnung, den er zwischen den Felsen getroffen hatte, und über den er gern rasch hinweggegangen wäre. Aber kaum hatte er ein Wort über ihn geäußert, als ihm vom Ratsherrn die eingehendsten Fragen gestellt wurden, mit der Ermahnung, sich aufs strengste an die Wahrheit zu halten und nichts unerwähnt zu lassen, so geringfügig es ihm auch erscheine.

»Sie stehen ja in gutem Rufe,« fügte der Ratsherr, »wie ich durchaus nicht verhehlen will; aber es ist uns recht gut bekannt, daß sich Männer aus Ihrem Stande, sonst von untadelhaftem Charakter, von Unternehmungen nicht fern gehalten haben, die sich wider Ruhe und Wohlfahrt des Staats richteten. Ich will ganz offen gegen Sie sein. Daß Sie hier sagen, Sie hätten sich auf zwei verschiedenen und recht großen Umwegen nach Ihrem Heimatsdorfe begeben wollen, gefällt mir ganz und gar nicht, zumal kein bis jetzt von uns vernommener Zeuge ausgesagt hat, es sei ihm so vorgekommen, als hätten Sie sich irgendwie gezwungen bei der Affäre gefühlt. Die Wächter am Cowgate-Tor wollen im Gegenteil bemerkt haben, Ihr Benehmen hätte einen ängstlichen Eindruck gemacht, wie wenn Sie sich von Schuld bedrückt gefühlt hätten, ja einer von ihnen hat ausgesagt, Sie hätten ganz so befohlen das Tor zu öffnen, als hätten Sie gemeint, noch an der Spitze der Aufrührer zu stehen.«

»Gott verzeih es den Leuten!« erwiderte Butler, »ich habe nichts weiter begehrt, als frei durch das Tor zu passieren. Wollen mir die Leute nicht wissentlich zu Schaden sein, so müssen sie zugeben, sich in solcher Meinung geirrt zu haben.«

»Ich will gern das Beste annehmen, Herr Butler,« versetzte der Ratsherr, »aber wenn Sie Ihre Situation nicht verschlimmern wollen, dann müssen Sie offen gegen mich sein. Sie haben bekannt, mit einem fremden Manne zwischen den Sankt-Leonard-Felsen zusammengekommen zu sein; ich muß darauf bestehen, daß Sie mir über die Unterredung, die Sie mit dem Fremden geführt haben, genauen Aufschluß geben.«

Butler hatte die Unterredung nur verschweigen wollen, weil er befürchtete, Jeanie Deans durch sie bloßzustellen; zufolge der eindringlichen Aufforderung des Richters hielt er es aber für besser, nichts darüber zu verschweigen.

»Sie glauben also,« fragte der Ratsherr, als Butler zu Ende war, »daß die Person sich zu dem Orte begeben werde, so geheimnisvoll die Aufforderung dazu ist?«

»Ich fürchte, daß das Mädchen es tun werde,« antwortete Butler.

»Warum fürchten Sie es?«

»Weil mir um ihre Sicherheit bangt, wenn sie zu solcher Zeit und an solchem Orte, auf solche Botschaft hin, sich mit einem Menschen trifft, der mir den Eindruck zu machen schien, als sei er mehr als desperat.«

»Für die Sicherheit ihrer Person soll Sorge getragen werden,« erklärte der Ratsherr; »und was Sie selbst betrifft, Herr Butler,« setzte er hinzu, »so muß ich Ihnen leider sagen, daß es nicht angeht, Sie schon jetzt in Freiheit zu setzen. Ich denke aber, es wird nicht notwendig sein, Sie lange in Ihrer Freiheit zu beschränken. Fron, führen Sie den Gefangenen wieder in seine Zelle, tragen Sie aber Sorge, daß es ihm an nichts fehlt, und daß er über nichts zu Beschwerde oder Klage Veranlassung findet.«

Butler wurde wieder ins Gefängnis abgeführt. Die vom Ratsherrn gegebenen Weisungen betreffs seiner Haltung wurden streng beobachtet.

Zwölftes Kapitel

Wir lassen jetzt Butler allein in seiner Zelle, allein mit seinen trüben Gedanken, die bei der mißlichen Lage, in die er geraten ist, nicht ausbleiben können, und die vor allem auf den Schmerz fußen, daß ihm alle Möglichkeit genommen worden, der unglücklichen Familie in Sankt-Leonard in ihrer schwersten Not beizustehen. Wir kehren zurück zu der armen Jeanie Deans, die den Freund scheiden sah, ohne daß ihr Gelegenheit zu weiterer Befragung blieb, und nun auf all die zarten Wünsche und Hoffnungen Verzicht leisten sollte, die sie so lange in ihrem Busen gehegt. Sich von zarten, zwischen Lust und Schmerz die Wage haltenden Empfindungen zu trennen, fällt starken Herzen – und Jeanie trug das Herz einer Heldin unter ihrem dörflichen Mieder – wohl am schwersten! Eine Weile lang konnte sie auch den Tränen nicht Einhalt tun, die ihr in die Augen drangen; aber bald verdrängte die Erinnerung an den tiefen Gram des Vaters, an den namenlosen Schmerz der Schwester alles persönliche Herzeleid, sie besann sich auf den Brief, der ihr heut in aller Frühe zum Fenster hineingeworfen worden, nahm ihn aus der Tasche und las ihn. Er war von seltsamer Fassung, heftig, ergreifend, fast auf Wahnsinn deutend: »Wenn Jeanie ein menschliches Geschöpf von der allerschwersten Schuld und ihren gräßlichen Folgen erretten, wenn Jeanie Leben und Ehre der Schwester aus den Fängen des ungerechtesten Gesetzes, das je erlassen worden, befreien, wenn Jeanie nicht ihr eigenes zeitliches und ewiges Glück gefährden wolle,« – so lautete die wilde Beschwörung, – »so solle sie sich bereit finden lassen, dem Schreiber dieser Zeilen eine sichre, geheime Zusammenkunft zu bewilligen; denn sie allein könne ihn, und er allein die Schwester retten.« Auf dem Zettel stand weiter, die Lage des Schreibers dieser Zeilen legte ihm die Bedingung auf, ihr dringend ans Herz zu legen, daß sie sich unter keinen Umständen beikommen lasse, einen Zeugen zu der Zusammenkunft mitzubringen, weder ihren Vater noch sonst jemand, auch niemand, sei es, wer es sei, diesen Zettel zu zeigen oder von diesem Anliegen irgend welche Andeutung zu geben, denn sie würde dann nicht bloß die Unterredung in Frage stellen, sondern Unglück über ihn und die Schwester bringen; der Zettel schloß mit eindringlichen Beteuerungen, daß sie für ihre Person nichts zu fürchten habe.

Was ihr von Butler mitgeteilt worden war, stimmte mit dem Inhalt des Zettels überein bis auf den Ort und die Zeit, die sich verändert hatten. Dem Anschein nach war der Fremde durch irgendwelche Notwendigkeit zu dem Entschlusse gedrängt worden, sich Butlern gegenüber einigermaßen zu offenbaren; und deshalb war auch Jeanie wiederholt willens gewesen, dem Freunde den Zettel zu zeigen, wenn auch nur, um den von ihm wider sie gefaßten Verdacht zu beseitigen; aber gekränkter Unschuld wird es gar oft schwer, sich zu rechtfertigen; zudem ängstigte sie die Warnung vor den schweren Folgen irgendwelcher Andeutung, daß sie solchen Zettel bekommen habe, und doch hätte sie sich, wäre sie länger mit Butler zusammen gewesen, dazu entschlossen, ihn ins Vertrauen zu Ziehen; nun aber die Gelegenheit dazu verloren war, schmerzte es sie bitter, denn ihr Herz sagte ihr, daß sie gegen einen Freund, dessen Rat ihr von so großem Nutzen hätte sein können, und dessen treue Anhänglichkeit ihr unbedingtes Vertrauen verdiene, höchst ungerecht gehandelt habe.

Dem Vater von der befremdlichen Zumutung etwas zu sagen, erschien ihr bedenklich, denn in welchem Lichte er den Fall betrachten würde, ließ sich gar nicht beurteilen, traten doch bei so außerordentlichen Vorfällen seine starren Grundsätze immer in einen sehr bedenklichen Vordergrund. Am schicklichsten wäre es freilich gewesen, eine Freundin um Begleitung zu bitten; aber sie hatte unter den Nachbarsleuten nur oberflächliche Bekanntschaft, was bei der zurückgezogenen Lebensweise, die sie führte, und ihrer Gemütstiefe nur zu erklärlich sein dürfte.

Alles irdischen Rates ermangelnd, nahm ihre Seele nun den Weg zu jenem Führer, dessen Ohr sich dem Rufe des Bedrängten nimmer verschlossen hält. Niederknieend, flehte sie inbrünstig zu Gott, ihr den rechten Weg in dieser schweren Lage zu zeigen, und Gott zeigte ihr den Weg, den sie zu gehen habe. »Ich will den Unglücklichen sprechen,« sagte sie zu sich, als sie sich mit gestärkten Herzen erhob, »denn unglücklich muß er ja sein, wenn er, wie ich nicht zweifle, der Urheber all des Unglücks ist, das meine arme Effie trifft. Mag werden daraus, was wolle, sprechen muß ich ihn, denn ich will mir später nicht den Vorwurf machen, ich hätte aus Rücksicht auf das eigne Wohl oder aus persönlicher Furcht irgend etwas nicht getan, was ihr doch vielleicht noch hätte Rechnung bringen können.«

Als sich der Tag neigte, traf sie die Vorbereitungen zu ihrem nächtlichen Gange. Von dem Vater, nachdem sie das Abendgebet mit ihm verrichtet hatte, vermißt zu werden, durfte sie nicht fürchten. Er schlief in einem andern Teile des kleinen Hauses, und bei seiner Regelmäßigkeit in allen Lebensdingen kam es nie vor, daß er die Schlafkammer wieder verließ, wenn er sie erst einmal aufgesucht hatte. Es war mithin leicht für Jeanie, zu der bezeichneten Zeit sich ans dem Hause zu schleichen, und doch fiel es ihr zentnerschwer, als der Augenblick da war. Ihr Leben war in der stillen Einförmigkeit friedlichen Familienlebens verstrichen; sie hatte ihrem Vater nie etwas zu verbergen brauchen und nie etwas verborgen: sie hatte niemals Zeit für sich zu irgend welcher Zerstreuung, Zu einem Gang ins Freie oder einem abendlichen Vergnügen beansprucht, außer in Begleitung des strengen Vaters; und nun allein so weit, obendrein bei Nacht gehen zu wollen, kam ihr so abenteuerlich, so gewagt vor, daß sie mehr denn einmal in dem gefaßten Entschlusse wankend wurde.

Als sie ihr schönes Haar unter das Band schlang, das den einzigen Kopfschmuck der Mädchen im Hochlande bildet, zitterten ihr die Hände; als sie das karierte schottische Tuch umnahm, das bei den schottischen Frauen Mantel und Schleier vertritt, wäre sie fast umgesunken; so bange war ihr vor der Gefahr, die mit dem, was sie vorhatte, schließlich doch verbunden sein konnte, und vor der Unschicklichkeit solches Schrittes. Als sie die Tür des väterlichen Hauses aufklinkte, um den Fuß zur Nachtzeit über seine Schwelle zu setzen, überkam sie neue Besorgnis, und als sie sich auf freiem Felde sah, fehlte wenig, so wäre sie umgekehrt. Auf dem Wege mehrten sich die Schrecknisse. Manch schauerliche Sage knüpfte sich an die dunklen Klüfte und an die grünen, von Felsblöcken bedeckten Schluchten, die oft der Schlupfwinkel von Räubern und Missetätern gewesen waren, wo auch Hexen und böse Geister gehaust hatten. Mit jedem Schritt weiter auf dem öden, stellenweis wild überwucherten Pfade wuchs das Grauen und wich die Aussicht auf menschlichen Beistand; schreckensvolle Bilder von allerhand Greueln, die ihr von dieser Einöde zu Ohren gekommen, stiegen vor ihren Augen auf, als sie den Fuß zwischen die kahlen Felsen setzte; der Mond warf sein zitterndes Licht über die Gegend, und eine unbeschreibliche Angst ergriff das einsame Mädchen, das mit bebendem Fuße über Dorn und Stein bald im Schatten, bald im Mondlicht, entlang schritt, aber der Gedanke an die Schwester hielt sie aufrecht, und wieder empfahl sie sich dem Schutze dessen, der sie schon so oft gestützt und getröstet, der ihr den Weg bis hierher gezeigt hatte.

Dreizehntes Kapitel

In der Tiefe des für die geheimnisvolle Zusammenkunft bestimmten Tales, dem sich Jeanie endlich nahte, hinter den Felsen von Salisbury mit dem als »Arturs Sitz« bekannten Berge im Vordergrunde, befinden sich noch heutzutage die Ruinen einer Einsiedelei oder Kapelle, die dem heiligen Antonius geweiht war. Eine bessere Lage hätte sich für sie kaum finden lassen, denn zwischen ranken, pfadlosen Klüften erbaut, stand sie in einer richtigen Oedenei und doch in unmittelbarer Nähe einer volkreichen, unruhigen Stadt, deren Lärm aber nur dumpf, wie seines Wogenbrausen eines Meeres, in die Gebete des Einsiedlers drang.

Unfern der Kapelle, ziemlich am Fuße der Höhe, zeigt man wohl noch heute die grause Stätte, wo ein aufgeschichteter Steinhaufen das Gedächtnis an einen Mord, verübt nach schändlichen Grausamkeiten von einem Mann an seinem Weibe, erhielt. Der alte britische Fluch: »Sei ein Steinhaufen dein Grab!« schien hier tatsächlich verwirklicht, denn jeder Passant hatte zum Zeichen seines Abscheus gegen den Elenden einen Stein dorthin geschleudert, bis zuletzt ein richtiger Haufen entstanden war, der nach ihm – Nichil Muschat hieß der Mörder – »die Muschatsteine« genannt wurde.

Jeanie blieb an dem unheimlichen Orte stehen, den Blick zum Monde hinauf richtend, der jetzt am nordwestlichen Himmel aufstieg; mit Zittern und Zagen wandte sie langsam den Kopf zu dem Steinhaufen hin, der sich, grauweiß im Mondlicht schimmernd, vor ihr erhob. Zuerst sah sie nichts von einem Menschen dahinter, und schon fingen Zweifel sich in ihrer Brust zu regen an. War sie getäuscht worden? Brach der Schreiber, des Zettels sein Worte? Hatte er den Zeitpunkt verpaßt, oder hielt ihn ein unvermuteter Zwischenfall zurück? Oder sollte er gar, wie eine geheime Stimme ihr zuflüsterte, ein überirdisches Wesen sein, daß sie durch falsche Hoffnungen in unnütze Schrecken und Qualen stürzen wollte? Oft genug hatte sie von dergleichen irrenden Geistern vernommen!

Und doch hielten diese angstvollen Gedanken sie nicht ab, sich langsamen, aber festen Schrittes dem Steinhügel zu nähern. Da richtete sich plötzlich, als sie ihn beinahe erreicht hatte, eine düstere Gestalt dahinter auf, und Jeanie, die schlimmste ihrer Ahnungen erfüllt sehend, konnte kaum einen Aufschrei unterdrücken. Mit verhaltenem Atem wartete sie, daß der Mann sie anreden solle. Nach einem kurzen Schweigen geschah es. Mit tiefer, von innerer Bewegung kündender Stimme fragte die Gestalt:

»Sind Sie die Schwester jenes tiefunglücklichen jungen Geschöpfes?«

»Ich bin« – erwiderte Jeanie, – »die Schwester von Effie – Effie Deans; und wenn Sie je in Ihrer letzten Stunde auf die göttliche Gnade rechnen, dann sagen Sie mir, was im stande ist, sie zu retten, ob Sie im stande sind, sie zu retten.«

»Nein,« lautete seine unheimliche Antwort, »ich rechne nicht auf seine Gnade in meiner letzten Stunde; denn ich verdiene sie nicht!« Aber der Ton seiner Stimme war, so verzweifelt auch seine Worte waren, ruhiger geworden, vielleicht weil er die Scheu der ersten Anrede überwunden hatte.

Jeanie, starr vor Entsetzen, fand kein Wort mehr, denn was sie gehört hatte, war so ganz allem zuwider, was bisher zu ihren Ohren aus dem Munde des Vaters und Reuben Butlers gedrungen war, daß sie wirklich zu meinen anfing, keinem menschlichen, sondern einem Wesen der Hölle gegenüber zu stehen. Ohne aber ihres Grausens zu achten, fuhr die Gestalt fort: »Mädchen, Du siehst einen Elenden vor Dir, zu zeitlicher und ewiger Not verdammt!«

»Um des Ewigen willen, der uns hört,« schrie Jeanie bang, »führt nicht solche verzweifelten Reden! Der Wohltat des Evangeliums hat auch der Sündhafteste, der Elendste, teil!«

»Dann wäre ich freilich nicht davon ausgeschlossen!« erwiderte der Unbekannte; »wenn Du es sündhaft nennst, Mädchen, daß ich die Mutter, die mich gebar, den Freund, der mich liebte, das Weib, das mir vertraute, das unschuldige Kindlein, das dieses Weib mir gebar, in Verderben und Elend riß, dann bin ich fürwahr der sündhafteste, aber auch elendste Mensch unter der Sonne!«

»Also habt Ihr das Unglück meiner Schwester auf dem Gewissen?« fragte Jeanie, und aus ihrer Stimme klang es wie rächender Zorn.

»Ja, Mädchen, fluche mir, wenn es Dein Wille! verdient an Dir Hab ich's hundertfältig!«

»Besser ziemt es mir, Gott um Vergebung für Euch zu bitten,« antwortete Jeanie.

»Tue, wie Du willst, und was Du für gut hältst!« rief er heftig, »nur schwöre mir, Dich nach meinen Worten zu richten und Deiner Schwester das Leben zu retten!«

»Ich werde, was einer Christin erlaubt ist zu tun, um der Schwester das Leben zu retten, auch ohne Schwur tun,« erklärte Jeanie.

»Nichts von Vorbehalt!« rief der Fremde mit mächtig lauter Stimme, »nichts von erlaubt oder nicht erlaubt, nichts von Christin oder Heidin! Schwöre, mein Gebot zu erfüllen, oder, Du weißt nicht, Mädchen, wessen Grimm Du Dich aussetzest!«

Erschreckt durch seine Heftigkeit, und im Zweifel, ob sie es Mit einem Rasenden oder einem Geiste der Hölle zu tun habe, erwiderte Jeanie: »Ich will mit mir zu Rate gehen und Euch morgen die Antwort bringen.« »Morgen?« rief er, hohnlachend; »ha! wo werde ich morgen sein? oder, wo wirst Du heute nacht sein, falls Du nicht schwören willst, mir zu gehorchen? Eine verfluchte Tat ward schon an dieser Stätte verübt, und eine andere soll an ihr verübt werden, wenn Du nicht mit Seele und Leib Dich mir überantwortest!«

Er riß ein Pistol unter dem Mantel hervor und hielt es der Unglücklichen vor die Stirn, sie versuchte nicht zu fliehen – sie erlag nicht dem Schrecken – aber auf die Kniee stürzte sie und flehte um ihr Leben.

»Weiter hast Du mir nichts zu sagen, Weib?« fragte der Bösewicht, ohne eine Spur von Rührung.

»Taucht Eure Hände nicht in das Blut einer Wehrlosen, die Euch vertraute!« flehte Jeanie, noch immer auf den Knieen liegend.

»Weißt Du sonst nichts zu sagen, das Leben Dir zu erhalten? Willst Du mir das Versprechen geben oder nicht? Willst Du wirklich die Schwester verderben und mich zwingen, mehr Blut zu vergießen?«

»Ich kann nichts versprechen, was wider das Christentum geht!«

Er spannte den Hahn seinem Waffe und richtete ihren Lauf auf sie.

»Verzeih es Euch Gott!« rief sie, angstvoll die Hände vor die Augen schlagend.

»Verflucht!« murmelte der Fremde; dann wandte er sich ab von ihr, setzte den Hahn in Ruhe und steckte die Pistole wieder unter den Mantel. Dann sprach er: »Ich bin ein ruchloser Bösewicht, belastet mit Schuld und Schimpf, aber nicht so in Sünde versunken, daß ich auch Dir Böses antun möchte. Ich habe Dich bloß schrecken wollen. Hab Dich bloß durch Schreck zwingen wollen. Ha! sie hört mich nicht! sie ist tot! Großer Gott! zu welch einem Schurken bin ich geworden!«

Während dieser heftig hervorgestoßenen Sätze kam sie langsam wieder Zum Bewußtsein zurück aus einem Zustande, der mit wirklichem Todeskampfe verzweifelte Aehnlichkeit hatte, aber noch lange währte es, bis sie begriff, daß er ihr nicht nach dem Leben trachtete.

»Nein,« rief er wieder, »ich will nicht noch Deinen Mord dem Morde Deiner Schwester und ihres Kindes hinzugesellen! Wenn ich auch rase vor Wut, und Furcht und Mitleid verschlossen bin, wenn ich auch dem Bösen zur Beute anheimgefallen und verlassen von allem Guten bin, so könnte ich Dir doch kein Leid antun, Mädchen, und böte man mir eine Welt zum Lohne! Aber, bei allem, was Dir lieb und wert ist, Mädchen, schwöre mir, zu tun, wie ich Dich heiße! Nimm diese Mordwaffe, jage mir die Kugel durch die Stirn und räche mit eigner Hand das herbe Leid, das ich ihr angetan, oder schwöre, daß Du den einzigen Weg ergreifen willst, der sie zu retten vermag!«

»Beim Ewigen, Mann! ist sie unschuldig oder nicht?«

»Unschuldig, bis auf die Schwäche, daß sie einem Bösewicht Vertrauen schenkte, aber wenn es nicht noch ärgere Bösewichte gäbe, – ja, ärgere als ich, wenn ich auch Bösewicht genug bin – dann wäre es soweit doch nicht gekommen.«

»Und das Kind meiner Schwester? Lebt es?« fragte Jeanie.

»Nein! es ist tot, ist umgebracht worden, grausam umgebracht, das neugeborne Wesen,« antwortete er dumpf, »aber ohne ihr Wissen, ohne daß sie es gewollt hat,« setzte er hastig hinzu.

»Und warum kann der Mörder nicht zur Strafe gezogen, die unschuldige Effie nicht freigesprochen werden?« fragte Effie mit fliegender Hast.

»Quäle mich nicht mit müßigen Fragen, Mädchen!« rief er finster. »Die die Tat verübten, sind weit genug, um vor Entdeckung sicher zu sein! Nur Du, Mädchen, kannst Deine Schwester retten!«

»Weh mir! Wie soll ich es können?« rief Jeanie hoffnungslos.

»Höre, was ich Dir sage. Du bist vernünftig, kannst mich nicht mißverstehen. Deine Schwester, sage ich, ist unschuldig an dem Verbrechen, dessen man sie anklagt.«

»Gott sei gepriesen!«

»Höre weiter und unterbrich mich nicht! Das Weib, das ihr in ihrer schweren Stunde beistand, hat das Kind umgebracht; aber die Mutter hat nichts davon gewußt, die Mutter ist unschuldig, sage ich Dir, so unschuldig wie das neugeborene Wesen, das nur wenige Augenblicke in dieser schlimmen Welt geatmet hat. Wohl ihm, daß es so schnell dem irdischen Jammer entrückt worden! Deine Schwester ist unschuldig, hörst Du? und doch muß sie sterben, denn es ist nicht möglich, sie dem Gesetz zu entziehen.«

»Aber Ihr sagtet doch, ein Mittel dazu gäbe es?« rief Jeanie in Herzensangst. »Eins gibt's,« erwiderte er dumpf, »und das ruht in Deiner Hand! Der Kraft des Gesetzes läßt sich entrinnen, aber ihr widerstehen läßt sich nicht. Du hast Deine Schwester in der Zeit vor der Geburt des Kindes gesehen; mithin läßt sich annehmen, daß sie ihres Zustandes Dir gegenüber Erwähnung tat. Solche Aussage kann Deine Schwester retten, muß Deine Schwester retten, denn sie hebt die Anklage der Verheimlichung auf, und nur hierauf stützt sich das Gesetz im vorliegenden Falle. Effie hat sicher mit Dir über ihren Zustand gesprochen, besinn Dich, Mädchen, denke nach, Mädchen! ich bin fest überzeugt, daß sie Dir davon gesagt hat!«

»Weh' mir,« rief Jeanie; »kein Laut darüber ist über ihre Lippen gekommen; nur Tränen, bittere Tränen hat sie vergossen, als ich sie über ihre Traurigkeit, über ihr verändertes Aussehen fragte.«

»Darüber hast Du sie gefragt?« rief er eindringlich, »so mußt Du Dich auch besinnen, daß sie Dir gesagt hat, ein schlechter Mensch habe sie verführt, ja, sage nur so! sage, ein verworfener Bösewicht! und nimm kein Blatt vor den Mund! und nun trage sie die Folgen seiner Schlechtigkeit und ihrer Schwäche unterm Herzen, aber er habe versprochen, während der ihr bevorstehenden schweren Zeit für ihre Unterkunft zu sorgen. O, er hat Wort gehalten! vortrefflich Wort gehalten!« Wild, gegen sich selbst gerichtet, stieß er die letzten Worte hervor; gleich darauf aber sprach er wieder ruhiger: »Du besinnst Dich doch auf dies alles? O, Du mußt Dich darauf besinnen, so und nicht anders hat es sich verhalten, und so, und nicht anders brauchst Du nur auszusagen!«

»Wie soll ich mich,« versetzte Jeanie mit natürlicher Offenheit, »auf Worte besinnen, die Effie niemals zu mir gesprochen hat?«

»Begreifst Du so schwer, Mädchen, oder blendet Dich Furcht?« rief er und schüttelte sie am Arme. »Ich sage Dir doch,« fuhr er, die Zähne aufeinander pressend, mit gedämpfter, und doch harter, eindringlicher Stimme fort, »ich sage Dir doch, daß Du Dich hierauf besinnen mußt, daß Du so aussagen mußt, auch wenn sie kein Sterbenswort davon zu Dir gesprochen. Du sprichst keine Unwahrheit, außer daß sie mit Dir gesprochen habe, und ersparst ihren blutgierigen Richtern ein Verbrechen, einen Mord, rettest das Leben Deiner Schwester, ersparst ihr den Tod durch Henkershand! Zaudere nicht, Mädchen! ich verpfände Leben und Seligkeit, daß Du die lautere Wahrheit redest, wenn Du redest, wie ich Dich heiße.«

»Ich muß doch aussagen unter meinem Eide,« erwiderte Jeanie, ohne sich durch die Spitzfindigkeit des Mannes beirren zu lassen, »denn die arme Effie steht doch eben unter Anklage der Verheimlichung ihres Zustandes. Wie können Sie mich verleiten zu einem Meineid?«

»Ich sehe, daß ich recht hatte, Dir zu mißtrauen,« rief er; »und daß Du lieber Deine junge, unschuldige Schwester, die keine andere Schuld trifft, als daß sie einem unwürdigen Subjekt vertraute, den Tot durch Henkershand leiden lassen, als daß Du die Lippen öffnen willst, sie zu retten, trotzdem es Dich nur ein Wort, ein einziges, kostet.«

»Mein Blut will ich für sie lassen,« rief Jeanie, während ihr die Tränen über die Wangen flossen, »aber Recht in Unrecht wandeln oder Falsches wahr machen, kann ich nicht.«

»Albernes, dickköpfiges Ding!« fuhr er sie hart an, »fürchtest Du etwa Schlimmes für Dich daraus? Verlaß Dich drauf, Du tust den Richtern, so gierig sie auch sind nach Menschenblut, selbst einen Gefallen, wenn Du ihnen die Möglichkeit schaffst, ein so junges liebes Geschöpf wie Deine Schwester vor dem Schlimmsten zu bewahren, nicht bloß verzeihlich werden sie es finden, wenn Du so aussagst, wie ich Dich heiße, sondern löblich!«

»Nicht Menschen fürchte ich,« versetzte Jeanie, die Augen zum Himmel emporrichtend, »sondern Gott! und Seinen Namen muß ich anrufen zur Bekräftigung meiner Worte. Ihm wird die Unwahrheit offenbar sein, deren ich mich schuldig mache!«

»Und der Grund, der Dich dazu treibt, sollte nichts gelten bei ihm? auch nicht, daß Dich nicht Eigennutz bestimmt? daß Du die Richter an einem Verbrechen zu hindern trachtest, das ärger wäre als dasjenige, daß sie mit ihrem Spruche strafen wollen?«

»Gott hat uns ein Gesetz gegeben, daß es uns eine Leuchte sei auf unserm Wege,« antwortete Jeanie, »und wir irren wissentlich, wenn wir davon abweichen. Ich mag nichts Böses tun, auch wenn Gutes daraus hervorgehen kann. Aber Ihr, Ihr kennt die Wahrheit dessen, was doch mir bloß Ihr Wort verbürgt, und Ihr, Ihr verhießet, wenn ich Euch recht verstanden habe, der armen Effie Hilfe und Beistand in ihrer Not, warum tretet nicht Ihr hervor und legt das erforderliche Zeugnis für sie ab, wie Ihr es mit reinem Gewissen könnt?«

Da erwachte der wilde Trotz wieder in ihm, der Jeanie schon einmal so tief erschreckt hatte. »Zu wem sprichst Du von reinem Gewissen, Mädchen?« rief er, »zu mir? Ich weiß seit Jahren nicht, was solches Wort bedeutet; und ich soll Zeugnis für sie ablegen? Ha! ein schöner Zeuge, der, um mit einem harmlosen Geschöpfe wie Du bist, ein paar Worte zu reden, solchen Ort und solche Zeit wählen muß. Doch halt! was war das?«

Eine jener wilden, eintönigen Weisen, nach denen der Schotte seine alten Balladen singt, klang aus der Ferne herüber; bald verschwammen die Töne, bald klangen sie heller. Der Fremde horchte gespannt und packte Jeanie, die heftig erschrocken war, wieder am Arme, wie wenn er sie hindern wollte, den Gesang durch eine Bewegung oder durch Worte zu stören. Jetzt schallten die Worte ganz deutlich herüber:

Steigt der Falke in die Höh',


Duckt die Lerche sich ins Korn, –


Scheu im Busch duckt sich das Reh,


Stößt der Jäger in das Horn.

Die Stimme klang hell und laut. Fast schien es, als sei es drauf abgesehen, daß sie in recht weite Ferne dränge. Sobald sie verstummte, ließ sich dumpfes Geräusch, wie von nahenden Tritten und leisem Geflüster, hören. Von neuem hub der Gesang an, doch nach einer andern Melodie:

Herr Ritter, rief sie, hurtig auf!


Gefahr ist im Verzuge


Spornt Euer Roß zu wildem Lauf!


Der Feind rückt an im Fluge.

»Ich muß weg!« rief der Fremde wild, und doch leise. »Lauf heim, oder warte, bis sie da sind: »Zu fürchten hast Du nichts; aber sage nicht, daß Du mich gesehen! Und vergiß nicht: der Schwester Schicksal liegt in Deiner Hand!«

Während er sich schnell und doch behutsam in einer Richtung entfernte, entgegengesetzt derjenigen, aus welcher das Lied erklang, und im andern Augenblick schon im Dunkel der Nacht verschwunden war, blieb Jeanie, schier ohnmächtig vor Schreck, bei dem Steinhaufen zurück. Sollte sie fliehen? oder auf die Menschen, die herkamen, warten? Sie blieb nicht lange darüber im Zweifel, denn nach wenigen Sekunden erblickte sie Männer um sich herum, und sie mußte erkennen, daß jetzt ein Fluchtversuch ebenso nutzlos wie töricht sein würde.

Vierzehntes Kapitel

Gleich dem an Episoden reichen Ariost, muß ich hier, um die verschiedenen Zweige zu dem Stamme zu fügen, den meine Erzählung bildet, die Erlebnisse einiger andern darin handelnden Personen bis zu eben dem Punkte führen, wo wir Jeanie Deans verließen.

»Wetten möchte ich,« sagte der Stadtschreiber zu seinem Freunde, dem Ratsherrn, »daß dieser Galgenstrick von Ratcliffe, wenn man ihm das Leben ließe, uns mehr als ein Dutzend Polizisten und Frone nützen würde, aus dieser Porteous-Affäre herauszukommen. Er heißt doch nicht umsonst bei allen Gaunern im Lande seit zwanzig Jahren Vater Kliff!«

»Ein gerissener Patron, das muß man sagen,« erwiderte der Ratsherr, »sich auf ein städtisches Amt zu spitzen!«

»Pardon, Euer Gnaden,« bemerkte der Polizeimeister, ich glaube, der Herr Stadtschreiber sind nicht im Unrecht. So einen Menschen wie Ratcliffe kann die Stadt gut brauchen, und wenn er sich drauf einlassen will, der Unsrige zu werden, so können wir uns ebensogut drauf einlassen, ihn zu nehmen, denn einen besseren Kandidaten für das Beifronsamt werden wir schwerlich auftreiben. Wenn wir warten wollen, bis sich einer aus der Heiligen Gilde dazu findet, so wird's wohl ein Weilchen dauern. Denken wir doch an den Porteous! der war auch sein Dutzend Kollegen wert und weder vor Hölle noch Teufel bange, wenn es galt, Order zu parieren.«

»Freilich, der Stadt hat er genützt,« erwiderte der Ratsherr, »wenngleich er kein Muster in sittlicher Hinsicht war. Könnte Ratcliffe uns zur Entdeckung seiner Mörder helfen, so möchte ich wohl dafür sein, daß wir ihm das Leben schenken und ein Stück Geld obendrein. In London wird man uns die Geschichte sehr übel vermerken, denn Königin Karoline. Sie sind zwar nicht verheiratet, lieber Stadtschreiber, wissen wohl aber auch von dem Weibsvolk ihr Liedchen zu singen? ist eine von jenen Damen, die selber eigensinnig genug sind, um bei andern keinen Eigensinn zu dulden. Ich möchte nicht bei ihr in London zu tun haben, wenn sie durch unsern Kurier wieder hören muß, daß noch immer niemand wegen diesem – weiß Gott! hundsföttischen Falle hat festgenommen werden können!« »Na, wenn's darauf ankommt, Herr Syndikus, dann ließe sich ja ein bißchen Gesindel leicht aufgreifen; einige Herrschaften habe ich auf meiner Liste, denen ein paar Wochen hinter Schloß und Riegel ganz gut täten; und sollten sie diesmal wirklich ohne Schuld ins Kittchen wandern, so könnt man's ihnen ja gutschreiben fürs nächste Mal, wenn sie uns Anlaß geben, ihrer wieder mit christlicher Liebe zu gedenken.«

»Nun,« sagte der Ratsherr, »ich will Ratcliffes wegen mit dem Präsidenten Rücksprache nehmen. Kommen Sie mit, Herr Polizeimeister! Vielleicht läßt sich auch aus der Geschichte mit diesem Butler und seinem Unbekannten von den Salisbury-Felsen etwas machen? Jedenfalls ist es mir nicht geheuer, wie sich ein Mensch dort herumtreiben und als Teufel ausgeben kann, bloß um harmlose Leute zu schrecken, die genug vom Teufel schon Sonntags von der Kanzel hören. Daß der Geistliche den Pöbel selbst angeführt hat, mag ich nicht glauben, wenn er freilich auch der erste seines Standes nicht wäre, der sich dazu hergegeben.«

»Das wird aber schon ein Weilchen her sein,« meinte der Polizeimeister, »jetzt wird's kaum noch vorkommen. Um aber bei Ratcliffe zu bleiben, Herr Syndikus, so will ich, falls der Herr Oberrichter sich mit unserer Ansicht einverstanden erklären sollte, selbst mit ihm reden – mit Vater Kliff meine ich – denn ich denke, mehr aus ihm herauszubringen, als Sie, Herr Syndikus.«

Noch am selben Tage bekam Sharpitlaw – so hieß der Polizeimeister von Edinburg – Instruktion, sich ins Gefängnis zu begeben und zu versuchen, ob er aus dem Arrestanten Ratcliffe etwas herausbekomme, was der Stadt in ihrer gegenwärtigen Verlegenheit zum Nutzen gereichen könne.

Die Art, wie sich ein Polizist mit einem Spitzbuben abfindet, den er in seine besondere Behandlung nehmen soll, ist immer von den Umständen abhängig. Er kann nicht in allen Fällen Habicht sein, der aus der Höhe auf seine Beute herabschießt; oft muß er Katze sein, die mit der Maus spielt, ehe sie zubeißt; oft aber auch Klapperschlange, die das vor ihren Augen flatternde Opfer so lange fasziniert, bis es ihr aus Furcht oder Verwirrung von selbst in den Rachen gerät. Die Begegnung Ratcliffs und Sharpitlaws gestaltete sich noch anders. Fünf Minuten lang saßen sie einander gegenüber wie zwei Hunde, die miteinander spielen, listig spähend, wer zuerst sich eine Schwäche beikommen läßt, die dem andern das Zubeißen erleichtert. Endlich fand es der Polizeimeister am Platze, das Wort zu nehmen.

»Na, Ratcliffe, ist's denn wirklich an dem, was ich höre? Ihr wollt ein anderer Mensch werden?«

»Jawohl, Herr,« versetzte Ratcliffe, »ich hab's satt bekommen, recht satt. Zudem meine ich, daß ich so manchem dadurch Arbeit erspare.«

»Hm, daß man Euch wieder mal zum Galgen verurteilt hat, Ratcliffe,« fragte Sharpitlaw, »wißt Ihr doch?«

»Gegen den Tod ist nun mal kein Kraut gewachsen, wie der ehrwürdige Pfaff in der Zöllnerkirche sagte, als Robertson auskniff. Sie wissen doch, ohne daß einer von uns merkte, wohin? Meiner Treu! der Pfaff hatte triftigeren Grund zu solcher Rede, als ich mir dachte, die böse Geschichte in der Nacht drauf hat's erwiesen.«

»Na, Kliff,« sagte Sharpitlaw in leisem, gleichsam vertraulichem Tone, »was den Robertson angeht, könntet Ihr da nicht mal zusehen, ob Ihr wißt, wo er sich auffinden oder wo sich wenigstens was über ihn erfahren ließe?«

»Ja, Herr Polizeimeister, mit dem ist's ein eigen Ding. Er ist im Grunde genommen von anderm Schlage als unsereins. Ein Satanskerl war er ja immer, und ausgefressen hat er allerhand. Aber die Affäre mit dem Zöllner, zu der ihn Wilson angestiftet hat, und ein paar Grenzbalgereien ausgenommen, hat er uns eigentlich niemals ins Handwerk gepfuscht.«

»Sonderbar, die Gesellschaft in Betracht gezogen, mit der er sich abgibt.«

»Und doch ist's wahr, was ich sage,« versetzte Ratcliffe; »von unsern Affären hat er sich immer fern gehalten, was sich vom Wilson nicht eben sagen ließ; denn mit dem hab ich doch manchen Tanz ausgefochten. Aber auch der Robertson wird noch dahin kommen, wo wir sind, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, es kann niemand ein Leben führen wie er, ohne diesen Schlußakkord.«

»Ihr wißt, wer er ist und was er ist?«

»Meiner Meinung nach ist er von besserem Herkommen, als er bekennen will. Soldat ist er gewesen und dann Komödiant, wohl auch noch was anderes, ich kann nicht sagen was alles, denn so jung er ist, hat er's an Tollheiten doch nicht fehlen lassen.«

»Ja, er mag manches auf dem Kerbholz haben, worüber am besten nicht geredet wird, nicht wahr, Ratcliffe?« »Meine Meinung auch,« sagte Ratcliffe, listig den Finger an die Nase haltend; »und keine Dirne war vor ihm sicher.«

»Mag wohl sein,« erwiderte Sharpitlaw; »aber, Ratcliffe, wir wollen nicht soviel Worte machen, auch nicht soviel Umstände. Was Ihr zu tun habt, um pardonniert zu werden, wißt Ihr ... Ihr müßt Euch der Stadt nützlich machen.«

»Gewiß, gewiß, soviel in meinen Kräften steht, Herr Sharpitlaw. für nichts ist nichts, das weiß ich recht gut.«

»Was die Stadt jetzt am meisten tangiert, ist dieser vermaledeite Porteous-Fall, und wenn Ihr da einiges Licht schaffen konntet, wäre Euch der Beifron als Anfang sicher, während Euch der Aufseher für später winkte. Ihr versteht, was ich meine?«

»Selbstverständlich, Herr Sharpitlaw! aber ich hab ja doch während des ganzen Rummels im Loche gesteckt. wie soll ich da was wissen? Gelacht hab ich freilich, als der Hauptmann um Gnade bettelte, wie ihn die Kerle beim Schlafittchen nahmen; na, Junge, dachte ich da bei mir, nun schmeckst Du selber mal, wie's Hängen tut.«

»Das hilft Euch aber weder aus der Patsche noch zum Beifron, Ratcliffe, denn daß wir den berüchtigten Papa Kliff pardonnieren sollten, ohne daß er es verdiente. auf Grund gewisser Aussagen verdiente. das werdet Ihr wohl selbst nicht denken!«

»Na, denn meinetwegen,« platzte Ratcliffe heraus, »wenn's mal nicht anders geht, so mögt Ihr eben wissen, daß der Robertson mit unter den Schlingeln war, die das Stockhaus stürmten. Das wird Euch nützlich sein, nicht wahr?«

»Weiter im Texte,« sagte Sharpitlaw; »wenn wir nicht wissen, wo wir ihn erwischen, nützt uns das noch verdammt wenig.«

»Ja, Sharpitlaw,« sagte Ratcliffe, »das mag der Teufel wissen! denn in eins seiner Eulennester wird er sich jetzt schwerlich verkriechen. Ich denke, er wird längst aus dem Lande sein; denn ein so tolles Leben er auch führt, so steht doch eben fest, daß er hohe Anverwandte hat, bei denen ihn niemand vermutet und deshalb auch niemand sucht, und dorthin begibt er sich wohl jedesmal, wenn ihm irgendwo der Boden zu heiß unter den Füßen wird.«

»Desto besser wird er sich am Galgen ausnehmen,« versetzte Sharpitlaw; »ist das ein Kerl, einen Diener der Obrigkeit abzuschlachten, weil er seine Schuldigkeit getan hat! So was ist ja noch nie dagewesen! Wenn das ungestraft hinginge, könnte sich ja kein Teufel mehr sicher glauben. Ihr seid doch Eurer Sache gewiß, ihn gesehen zu haben?«

»So gewiß, wie ich jetzt Euch sehe!«

»Was für Kleidung trug er?«

»Ich kann's nicht genau sagen, denn ich konnte es nicht genau erkennen, wie ein Frauenzimmer sah er aus, und doch wieder wie ein Mann! Auf dem Kopfe trug er eine Weiberhaube. O, solch ein Gewühl habt Ihr im ganzen Leben noch nicht gesehen, wie an dem Tage hier. Nicht Augen genug konnte man haben.«

»Hat er mit niemand gesprochen?«

»Das hat alles durcheinander geschrieen, daß man keinen vom andern heraushören konnte,« erwiderte Ratcliffe, der nicht zuviel sagen mochte.

»Damit kommt Ihr nicht durch, Ratcliffe! Ihr müßt von der Leber weg reden, von der Leber weg!« und bei jedem der vier Worte, die er wiederholte, schlug er mit der Faust auf den Tisch.

»Es ist eine harte Nuß, die Ihr mir zu knacken gebt, und ginge es nicht um das Beifronsamt.«

»Und um die Aussicht, zum Aufseher aufzurücken, Ratcliffe, gute Führung natürlich vorausgesetzt.« sagte Sharpitlaw.

»Ja, da liegt der Hase im Pfeffer. gute Führung vorausgesetzt. Nebenbei heißt's,« sagte Ratcliffe, »hübsch abwarten, bis andre ins Gras gebissen haben!«

»Aber, Papa Kliff! Robertsons Kopf wird auch was wiegen! Die Stadt muß sich schon erkenntlich zeigen. Das ist doch nur recht und billig.«

»Hm, hm,« machte Ratcliffe.

»Und solchen Erwerb, Mann, könnt Ihr doch mal in Ruhe verzehren!«

»Hol's der Teufel, Polizeimeister,« fuhr Ratcliffe auf, »eine absonderliche Art, wieder ehrlich zu werden, ist's und bleibt's, wenn's nun aber nicht anders geht, dann, hol's der Teufel!« rief er wieder, »mit dem Mädchen, der Effie Deans, hab ich ihn sprechen sehen, mit dem Mädchen, das wegen Kindesmordes eingesperrt ist.«

»Wirklich, Ratcliffe? Na, seht mal an! Das bringt uns gleich auf die Spur, dort der Mann, der bei den Salisbury-Felsen mit dem Geistlichen Butler spricht, der Jeanie Deans an die Muschat-Steine bestellt, und hier der Mann, der mit der Kindsmörderin Effie Deans spricht, ich wette drauf, Ratcliffe, Robertson ist der Vater zu dem Kinde!« »Ein Schluß, der sich hören läßt,« meinte Ratcliffe schmunzelnd, während er das Stück Kautabak, das er im Munde hatte, langsam zerbiß und ausspie; »die Rede davon war einmal, daß er sich mit einer hübschen Dirne herumtriebe und daß Wilson seine Not gehabt hätte, ihn vom Heiraten abzuhalten.«

Ein Diener kam mit der Meldung, das Frauenzimmer sei eingebracht worden, das Sharpitlaw vorzuführen befohlen habe.

»Es liegt nicht mehr viel daran,« erwiderte dieser; »die Sache nimmt eine andere Wendung; immerhin könnt Ihr sie herbringen.«

Der Diener ging ab, und ein großes, starkes Mädchen im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren, in höchst phantastischer Kleidung, trat herein: sie hatte eine blaue, mit blinden Tressen besetzte Reitjacke an, trug das Haar nach Männerart, unter einer holländischen Mütze, von der ein großer Busch geknickter Federn herunterhing. Ein Reitrock aus scharlachrotem Kamelott, mit verblichenen Blumen gestickt, der ihr bis auf die Knöchel reichte, und eine Reitgerte vervollständigten ihren Anzug. Sie hatte starke, männliche Züge, tiefschwarze, feurige Augen, eine Adlernase und ein scharf geschnittenes Profil. In einiger Entfernung gesehen, konnte sie für hübsch gelten; in der Nähe machte sie einen mehr abstoßenden Eindruck. Sie schwang die Reitgerte, machte einen tiefen Knicks und nahm das Wort, ohne abzuwarten, daß man sie zum Sprechen auffordere.

»Schenk Euer Gnaden der Himmel einen fröhlichen Abend, nicht bloß heute, sondern an noch vielen kommenden Tagen, Herr Sharpitlaw! Ei, Ihr seid auch da, Papa Kliff? Und dabei hieß es schon draußen, Ihr hättet Hanf geleckt? Na, auf welche Weise habt Ihr denn Henker Dalgliesh ein Schnippchen geschlagen, wie die Maggie Dickson, als sie schon halb baumelte?«

»Halt's Maul, tolle Suse!« rief Ratcliffe, »bis Du gefragt wirst.«

»Von Herzen gern, Kliffchen. Ist das aber eine Ehre, die heute der armen Madge widerfährt, in einem gestickten Kleide von so feschen Herren durch die Straße geführt und von der ganzen Stadt angegafft zu werden und von früh bis spät mit Richtern und Staatsanwälten, Stadtschreibern, Polizeimeistern und Bütteln sprechen zu dürfen. Wirklich! hätt's mir nicht träumen lassen!«

»Ei, Mädel,« sagte Sharpitlaw in schmeichelndem Tone, »Du bist ja heut so im Staate! Das sind doch Deine Alltagssachen nicht!« »Hat sich was mit Alltagssachen!« rief Madge, und da eben Butler hereintrat, rief sie: »O, auch ein Gottesmann im Stockhause? Wer wird's da noch eine Mörderhöhle nennen. Vielleicht sitzt er aber, weil er am alten Glauben hängt? Aber was geht's mich an?« Und nun fing sie an zu tanzen und zu trällern:

Heisa, heisa, trallala!


Ihr Herrchen, Belzebub ist da!


Macht gar feine Chosen,


Pflückt gar viele Rosen,


Heisa, heisa, trallala!


Belzebub ist wieder da!

»Haben Sie diese tolle Person schon einmal gesehen?« fragte Sharpitlaw den Geistlichen.

»Soviel ich weiß, nie in meinem Leben,« antwortete Butler.

»Hab's mir gedacht!« sagte Sharpitlaw, einen bedeutsamen Blick mit Ratcliffe wechselnd, um sich dann wieder an Butler zu wenden: »Aber das ist ja, wenigstens wie sie sich selbst nennt, die Madge Wildfire!«

»Freilich bin ich's,« rief sie, »freilich, und bin's gewesen seit der Zeit, da ich was Besseres war, aber das ist schon lange her, besinne mich nicht mehr! Doch soll's mich nicht scheren. Wer kann's mir wehren?

Heisa, heisa, trallala!


Herrchen! Belzebub ist da!


Macht gar feine Chosen,«

»Still, Du Racker!« fuhr der Büttel sie an, »oder ich will Dich, statt singen, heulen lehren!«

»Laß sie in Ruh!« sagte Sharpitlaw, »ich will sie noch Verschiedenes fragen. Doch erst soll sie Herr Butler sich noch mal ordentlich ansehen.«

»Freilich, Pfaffe, schaut mich an!« rief die Madge, »ist doch gar viel an mir dran, mehr als an all Euren Schwarten, darauf könnt Ihr Euch verlassen. Ich kann auch die zehn Gebote auswendig, und das Vaterunser, auch die, das heißt, ich konnte sie auswendig,« setzte sie leiser hinzu, »ich konnte sie, aber das ist schon lange her, besinne mich nicht mehr,« und ein tiefer Seufzer hob sich aus ihrer Brust.

»Na, was sagen Sie jetzt, Herr?« fragte Sharpitlaw den Geistlichen zum andern Male.

»Was ich schon vordem sagte,« antwortete Butler, »daß ich das arme, blödsinnige Wesen zum ersten Mal in meinem Leben sehe.«

»Also ist es nicht die Person, die in der verwichenen Nacht von der aufrührerischen Menge Madge Wildfire genannt wurde?«

»Ganz bestimmt nicht!« antwortete Butler, »gleich groß sind sie wohl, aber sonst einander nicht ähnlich.«

»Auch die Kleidung ist nicht die gleiche?« fragte Sharpitlaw.

»Ganz und gar nicht,« sagte Butler.

»Aber, Madge, mein Kind,« sagte Sharpitlaw wieder in dem schmeichlerischen Tone wie vordem, »sage mir bloß, was Du gestern mit Deinen Kleidern gemacht hast?«

»Hab's vergessen, Herr,« antwortete sie.

»Sag mir bloß, wo Du gestern abend gewesen bist!«

»Gestern ist nicht heut,« antwortete sie, »was weiß ich von gestern? Ein jeder Tag hat seine Plag', drum weiß ich nichts von gestern.«

»Vielleicht besinnst Du Dich auf gestern, wenn ich Dir eine Krone geb?« Dabei hielt er ihr ein Geldstück hin.

»Besinnen drauf nicht,« sagte sie, »aber lachen drüber!«

»Und wenn ich Dich ins Arbeitshaus schicke und Dir die Rute geben lasse?« fragte Sharpitlaw streng.

»Besinnen drauf nicht,« sagte sie schluchzend, »aber weinen drüber!«

»Herr,« mischte Ratcliffe sich dazwischen, »auf Madge Wildfire bleiben Gründe ohne Einfluß, die bei vernünftigen Leuten gelten, weder Geld noch Galgen noch Rute, aber ich brächte schließlich doch was aus ihr heraus.«

»Dann probiert's,« erwiderte Sharpitlaw, »ich hab das blöde Gewäsch der Person ohnehin satt.«

»Madge,« redete Ratcliffe sie an, »sag mir doch, wer ist denn jetzt Dein Schatz?«

»Fragt Dich wer, dann sprich, Ratcliffe, Du wüßtest's nicht. Ei, schau mir einer den Papa Kliff! läßt's sich einfallen, von meinem Schatz zu sprechen!«

»Aber ich sollte doch meinen, Du seiest nie ohne Schatz?« fragte Ratcliffe.

»Bin ich auch nicht,« rief sie, »sollt mir einfallen!« rief sie, den Kopf als gekränkte Schöne stolz zurückwerfend, »ein Leben ohne Schatz, das wär 'ne schöne Hatz! Na, Ratcliffe! besinnst Du Dich noch auf Robin den Wilden? und wer kam dann? der Willi aus Flandern, nicht wahr? und dann der Robertson, der Georg Robertson!

Heisa, heisa, trallala!


Robertson ist wieder da.«

Ratcliffe lachte, winkte dem Polizisten zu und fuhr in seiner Weise fort, sie auszufragen. »Aber, Madge, ich weiß doch, die feinen Jungen machen sich bloß was aus Dir, wenn Du in Deiner Sonntagskluft steckst. In Deinen Alltagslumpen gefällst Du keinem. Da möchten sie Dich kaum mit der Ofengabel anfassen.«

Wieder warf sie stolz den Kopf zurück. »Du alter, elender Lügenstrick!« rief sie, »hat nicht erst gestern der feine Georg Robertson sich meine Alltagslumpen angezogen? Ist er nicht durch die ganze Stadt drin spaziert? und hat er nicht drin ausgesehen wie eine Königin?«

Wieder winkte Ratcliffe dem Polizisten und wieder fuhr er fort: »Madge, davon glaub ich Dir kein Wort! Die Lumpen hatten wohl Mondscheinfarbe? He? und der Rock sah himmelblau aus?«

»Was Ihr nicht wißt, Vater Kliff!« rief Madge, im Eifer des Widerspruchs alles ausplaudernd, was sie bei besserer Ueberlegung schwerlich gesagt hätte, »weder rot noch blau ist er gewesen, der Rock, sondern meinen kurzen braunen hat er angehabt, mit dem roten Ueberwurf, und dazu die alte Haube von Muttern aufgesetzt, eine Krone hat er mir dafür gegeben, daß ich ihm die Lumpen lieh, und der Mutter eine halbe, mir auch noch einen Kuß, ja, und dafür mag ihn der Himmel unter seinen Schutz nehmen, wenn er mir auch teuer, gar teuer zu stehen gekommen.«

»Und wo hat er sich wieder umgezogen, Kind?« fragte Sharpitlaw mit aller Freundlichkeit, die er seiner Stimme geben konnte.

»Der Polizeimeister verdirbt uns die ganze Pastete,« brummte Ratcliffe, und er hatte recht, denn diese so direkt gestellte Frage erweckte in der Brust des Mädchens, das Ratcliffe auf so kluge Weise zum Plaudern gebracht hatte, sogleich Argwohn.

»Warum paßt Ihr denn so auf, Herr?« fragte sie, indem sie sich wieder blöde stellte, was erkennen ließ, daß ihr geistiger Defekt zum Teil nichts weiter als List und Verstellung war.

»Ich wollte ja nur wissen, wann und wohin Robertson Deine Sachen wieder gebracht hat?« fragte Sharpitlaw. »Robertson?« wiederholte sie; »Jesus! was denn für ein Robertson?«

»Na, der, von dem Du uns erzählt hast,« sagte Sharpitlaw, »der schöne Georg, wie Du ihn nanntest.«

»Der schöne Georg?« rief sie, helle Verwunderung heuchelnd; »kenn ich denn jemand, der so heißt?«

»Höre, Kind,« sagte Sharpitlaw, die Stimme verschärfend; »damit kommst Du bei mir nicht durch! Du mußt mir sagen, was Du mit Deinen Kleidern gemacht hast.«

Madge gab Antwort, doch nur mit einem Liederverse:

Was hast Du mit Deinem Ringlein gemacht?


Dem Ringlein, Ringlein, Ringlein klein?


Sag, wo hast Du's hingebracht,


Dein Ringlein, Ringlein, Ringlein klein?


Ich hab's dem Jäger gegeben,


Dem Liebsten, Liebsten im Leben,


Mein Ringelein, mein Ringelein,


Dazu das bunteste Kränzelein,


Dem Liebsten, Allerliebsten mein,


Nun rat, wer mag es sein?

Der Polizeimeister war außer sich. »Ich will dem verrückten Balge die Hölle so heiß machen, daß sie sich wieder besinnen lernt!«

»Mit Verlaub, Euer Gnaden,« bemerkte Ratcliffe, »es wäre schon besser, man ließe sie erst wieder ruhig werden. Einiges habt Ihr ja schon von ihr gehört.«

»Freilich,« erwiderte, sich aufblähend, Sharpitlaw, »den braunen Rock, die Haube, den roten Ueberwurf. Sagen Sie, Herr Butler, war die Madge Wildfire, die Sie gesehen, so angezogen?«

»Jawohl,« versetzte Butler.

»Bei diesem hundsföttischen Ueberfall hatte er allerdings Anlaß genug, sich hinter Tracht und Namen dieses verrückten Weibsbilds zu stecken!« rief Sharpitlaw.

»Und ich erkläre nun meinerseits,« wollte Ratcliffe beginnen; aber Sharpitlaw ließ ihn nicht ausreden, sondern rief: »Richtig, weil Ihr seht, daß es auch ohne Euch zu Tage kommt!«

»Ja doch, Euer Gnaden,« sagte Ratcliffe, ruhig wie immer, »ich wollte meinerseits bloß feststellen, »daß ich Robertson gestern nacht in solcher Tracht an der Spitze der Aufrührer gesehen habe.« »Das ist eine bestimmte Aussage,« erwiderte Sharpitlaw, »auf die wir zurückkommen werden; merkt sie Euch also, Ratcliffe! Ich werde dem Herrn Präsidenten Bericht über Euch erstatten; günstigen Bericht, denn ich habe für Euch heute noch weitere Arbeit. Vorderhand muß ich nach Hause; es ist spät geworden, und ich möchte ein paar Bissen essen, werde aber nicht lange wegbleiben. Behaltet das Weibsbild bei Euch, Ratcliffe, und versucht, sie wieder zur Ruhe zu bringen, und, wenn's geht, bei guter Laune zu erhalten.«

Mit diesen Worten verließ er das Gefängnis.

Fünfzehntes Kapitel

Dorthin zurückgekehrt, setzte er die Unterredung mit Ratcliffe, dessen Beistandes er sich nun versichert hielt, fort.

»Was sich jetzt als das notwendigste erweist, Kliff,« sagte er, »ist ein Besuch bei der Dirne, die wegen Kindsmords sitzt, bei der Effie Deans, die müßt Ihr unbedingt einmal ins Gebet nehmen! Die kennt doch bestimmt Robertsons Schlupfwinkel! Säumt nicht, Ratcliffe, sondern befragt sie auf der Stelle!«

»Nichts für ungut, Herr Sharpitlaw,« sagte der Beifronskandidat, »aber das kann ich nicht, das geht nicht, Euer Gnaden.«

»Das geht nicht, Kliff? und warum nicht? Was hält Euch davon ab? Ich dachte, wir seien hierüber im reinen?«

»Pardon, Euer Gnaden,« antwortete Ratcliffe, »der Dirne ist hier alles fremd, Aufenthalt, Ort und Behandlung. Sie flennt den ganzen Tag und grämt sich um den wilden Buben, und wenn sie ihn ins Unglück brächte, dann bräch' ihr das Herz! Damit muß man rechnen.«

»So geschwind bricht kein Weiberherz,« versetzte Sharpitlaw, »und viel Zeit dazu wird ihr ohnehin nicht bleiben, denn sie muß ja so wie so auch bald an die Kreide!«

»Sei dem, wie ihm wolle,« entgegnete Ratcliffe, »ich kann's nicht machen, es geht mir wider das Gewissen.«

Mit Hohnlachen fragte Sharpitlaw: »Wider das Gewissen? Euch?«

»Ja, wieder das Gewissen,« versetzte Ratcliffe, ruhig wie bisher, »jedermann hat ein Gewissen, wenn es auch zuweilen schwer wird, den Weg zu ihm zu finden. Meines liegt, wie ich gern glaube, ein starkes Stück seitab, weiter seitab als bei den meisten Menschen, und doch geht's mir wie ihnen, manchmal gibt's einen Knacks, wie wenn man sich den Ellbogen wo stößt, und dann tut's einem eine Weile infam weh.«

»Na, Kliff, wenn Ihr so weichherzig seid, werde ich selber mit dem Weibsbild reden müssen,« sagte Sharpitlaw und ließ sich in die Zelle der unglücklichen Effie führen.

Sie saß, in tiefes Sinnen verloren, auf dem kleinen Strohlager, das ihr als Bett diente; auf dem Tische daneben stand ein bißchen Essen, von besserer Art, als es Gefangenen sonst zuteil wird. Aber der Fron, in dessen Ressort sie gehörte, sagte, sie nähme oft in vierundzwanzig Stunden nichts als einen Trunk Wasser zu sich.

Sharpitlaw setzte sich auf den Schemel, der die Stelle eines Stuhles vertrat, und hieß den Schließer gehen. Dann nahm er das Wort, bemüht, in seine Stimme und Miene alles Mitleid zu legen, dessen er fähig war; aber seine Stimme verlor nicht all die Härte und Rauheit, die ihr eigen war, und aus seiner Miene verschwand nicht alle List, Strenge und. Selbstsucht, die sie abstoßend machten.

»Nun, Effie, wie geht's denn? Wie geht's, Kind?« fragte er.

Ein schwerer Seufzer war die Antwort.

»Geht man artig mit Dir um? Es ist meine Pflicht, mich danach zu erkundigen.«

»O, recht artig,« antwortete sie, aber es fiel ihr schwer, Worte zu finden; es schien, als wisse sie kaum, was sie sprach.

»Und über das Essen hast Du nicht zu klagen? Bekommst Du, was Du Dir wünschest, oder hast Du Verlangen nach was Besonderm? Mit der Gesundheit scheint's nicht zum Besten?«

»Ich danke, Herr. Es ist alles gut – viel zu gut für mich!« erwiderte die arme Gefangene – ach! wie so ganz anders klang ihre Sprache als ehedem in Sankt-Leonard! alle Frische, alle Munterkeit waren daraus geschwunden. Sie war die Lilie von Sankt-Leonard nicht mehr!

»Es muß doch ein recht schlechter Kerl gewesen sein, der Dich so ins Elend gebracht hat, Effie!« Die Aeußerung hatte ihren Ursprung zum Teil in einem natürlichen Gefühl, von dem er sich trotz aller Härte seines Wesens nicht völlig frei machen konnte; zum größern Teil aber in der Absicht, die Unterhaltung auf den Gegenstand hinzuleiten, der ihn herführte. »Ja, ein miserabler Kerl,« sagte er wieder, »hätt' ich ihn bloß unter den Fingern, die Peitsche wäre ihm sicher!« »Mich trifft mehr Schuld als ihn,« sagte Effie, »ich mußte weiter sehen, aber er, der Aermste!« sie hielt inne.

»Den Du so nennst,« fiel der Polizeimeister ihr ins Wort, »war ein Taugenichts, einer aus nichtschottischem Lande, Effie, und ein Kumpan des nichtsnutzigen Kerls, des Andrew Wilson.«

»O, ihm wär's besser, hätte er den Wilson nie gesehen!«

»Magst recht haben, Effie. Aber wo trafst Du Dich gewöhnlich mit ihm, Kind? Beim Calton-Grunde, nicht wahr?«

Bis hierher war das arme, niedergebeugte Mädchen dem Wege gefolgt, den Sharpitlaw sie führte; denn was er listig vorbrachte, war so auf ihren augenblicklichen Seelenzustand berechnet, daß ihre Antworten gleichsam nur die laute Wiedergabe ihrer Gedanken waren: eine Beobachtung, die man oft bei Menschen findet, die durch Krankheit oder schweres Herzeleid zu Geistesabwesenheit neigen. Die letzte Frage war aber zu schroff gestellt, als daß sie die Absicht nicht hätte merken sollen, aus der sie gestellt wurde; und indem sie sich aus ihrer gebeugten Stellung aufrichtete und sich das Haar aus dem bleichen, noch immer schönen Gesicht strich, richtete sie das Auge durchdringend auf den ihr gegenüber sitzenden Mann und rief: »Was habe ich gesagt? Was habe ich gesagt? O, Herr, Sie sind zu brav und gut, als daß Sie auf die Worte, die ein armes Geschöpf spricht, das kaum noch seine Sinne beisammen hat, sonderlich achten sollten. Gott steh mir bei! Gott steh mir bei!«

»Ja, Gott helfe uns, und Zwar zu Deinem Besten!« knüpfte Sharpitlaw an ihre Worte an; »Dir könnte eins nützen, Kind, wenn's uns nämlich glückte, den Schurken hinter Schloß und Riegel zu bringen.«

»O, schmähen Sie ihn nicht, Herr,« flehte Effie, denn er hat auch Sie nie geschmäht, Robertson? O, ich habe gegen keinen Mann etwas zu sagen, der diesen Namen führt, und will und werde nichts sagen.«

»Aber, Effie, wenn Du auch Dein eignes Leid nicht achtest, so solltest Du doch jenes andern Leids nicht vergessen, das er über die Deinigen gebracht hat!«

»O, helf mir Gott!« rief die Unglückliche, »mein armer Vater! meine liebe Jeanie! Ach, Herr, das ist das Schrecklichste! O, wenn Sie ein Herz im Leibe, nur einen Funken von Mitleid haben – denn hier ist jeder Mensch so hart wie Stein – dann geben Sie Weisung, daß man die Schwester zu mir lasse, wenn sie herkommt und mit mir sprechen will. Ach, wenn ich höre, wie sie weggewiesen wird, wenn ich umsonst versuche, zu dem Fenster hinaufzusteigen, wenn ich nichts von ihr sehe als einen Zipfel ihres Kleides, dann muß ich, muß ich ja von Sinnen kommen!« Sie sah ihn so flehentlich, so demütig an, und ihr Blick ging ihm so unmittelbar zu Herzen, daß er in seinem Vorsatze wankend wurde, daß er stockend antwortete:

»Nun, Effie, Du sollst sie sehen, die Schwester, und wenn Du mir sagst ...« Aber er brach schnell ab, sprang auf und sah sie einen Augenblick lang an. »Nein, nein!« rief er dann, »Du sollst sie sehen, die Schwester, ob Du mir etwas sagst oder nicht!«

Er stand auf und ging aus der Zelle.

»Ratcliffe,« sagte er, als er in seine Stube zurückkehrte, »Ihr habt recht, mit dem Frauenzimmer ist nichts anzufangen. Bloß eins weiß ich jetzt bestimmt, daß Robertson der Vater ihres Kindes ist. Also wird's wohl auch Robertson sein, der heute nacht bei den Muschat-Steinen die Schwester treffen will, und dort, Kliff, dort wollen wir ihn fassen, oder ich müßte nicht Gideon Sharpitlaw sein!«

»Aber, wenn es an dem wäre,« meinte Ratcliffe, dem an Robertsons Verhaftung nicht viel zu liegen schien, »so müßte ihn doch Butler, als er ihn bei den Salisbury-Felsen traf, für die Person erkannt haben, die in der Maske der Madge Wildfire den Pöbel anführte.«

»Das kann man nicht ohne weiteres sagen, Ratcliffe,« versetzte Sharpitlaw, »bedenkt doch den Tumult, das unsichre Licht, die Verkleidung, die Schminke! Und hab ich nicht Euch selbst schon so vermummt gesehen, daß Euch der Gottseibeiuns, so gut er Euch doch kennt, so wenig gewittert hätte wie ich?«

»Da habt Ihr freilich 'mal recht,« sagte Ratcliffe.

»Zudem, Ratcliffe,« fuhr Sharpitlaw fort, »hat der Geistliche denn nicht gesagt, es sei ihm vorgekommen, als habe er die Züge des Burschen, den er bei den Felsen traf, schon früher 'mal gesehen, bloß wisse er nicht, wo?«

»Mir leuchtet ein, daß Euer Gnaden recht haben,« antwortete Ratcliffe.

»Drum wollen wir uns zusammen heute nacht auf den Fang hinaus begeben, Kliff, aber beizeiten, daß er uns nicht entwischen kann!«

»Ich werde Euer Gnaden dabei wenig nützen, Herr,« sagte Ratcliffe, sichtlich zögernd.

»Aber Ihr seid doch mit der Lokalität bekannt, Ratcliffe! Wie sollt Ihr da nicht nützen können? Nein, nein! Ihr müßt mit, Freund! und verlaßt Euch drauf, ich lasse Euch nicht aus den Augen, bis uns der Bursche sicher ist!«

»Nun, wenn Ihr drauf besteht, Herr,« sagte Ratcliffe, »dann meinetwegen! Aber vergeßt nicht, daß wir's mit einem Menschen zu tun haben, der zu allem fähig ist!«

»Wir wollen schon für Mittel sorgen, seiner Herr zu werden!«

»Aber Euch bei Nacht nach den Muschat-Steinen zu führen, Herr, das kann ich wirklich nicht auf mich nehmen. Bei Tage finde ich den Platz so gut wie jeder andere, aber im Mondschein sieht dort ein Stein aus wie der andere, da finde ich mich unmöglich zurecht.«

»Kommt mir nicht dumm, Ratcliffe,« rief Sharpitlaw zornig; »Ihr wißt doch wohl, daß das über Euch verhängte Urteil noch nicht aufgehoben worden ist?«

»Freilich weiß ich das, Euer Gnaden,« antwortete Ratcliffe, »denn so was vergißt sich nicht, und wenn Euer Gnaden meine Gegenwart nicht missen wollen, nun, so muß ich eben mit, aber ich hätte doch gedacht, die Madge Wildfire müßte Euch eine bessere Führerin sein als ich, kennt sie doch den Weg und Steg dort ganz genau.«

»Teufel auch! Bildet Ihr Euch ein, ich hätte Lust, mich solch verrücktem Weibsbild in die Hände zu geben?«

»Nun, wie Ihr meint, Herr! So was versteht Ihr schließlich besser als ich, aber wenn man sie bei guter Laune hielte – und dafür würde ich gern sorgen – ließe sich schon was erreichen, treibt sich das tolle Weibsbild doch im Sommer ganze Nächte in den Felsenklüften herum!«

»Wenn Ihr meint, Ratcliffe, daß sie uns richtig führen kann,« erwiderte Sharpitlaw, »so hätt' ich ja nichts dawider, sie mitzunehmen. Aber seht Euch vor! denn von Eurem Verhalten in diesem Falle hängt Euer Leben ab.«

»Schlimm, sehr schlimm,« dachte Ratcliffe bei sich, »aber sitzt einer mal so tief drin wie ich, dann kann er, weiß Gott! nicht mehr ehrlich sein, mag er's gleich anfangen, wie er will.«

Sharpitlaw überließ ihn, um die Vorbereitungen zu der nächtlichen Expedition zu treffen, ein paar Minuten sich selbst und seinen Betrachtungen.

Als aber der Mond sich am Himmel zeigte, hatte der kleine Trupp schon die Stadtmauern hinter sich. Bald lagen die Salisbury-Felsen, gleich einem mächtigen granitnen Gürtel, mit dem an das Bild eines ruhenden Löwen erinnernden Artursberge im Nebel vor ihnen. Sie schlugen den Pfad ein, der auf der Südseite von Canongate zu der Abtei von Holyrood führt. Zuerst waren es ihrer vier, aus denen sich der Trupp Zusammensetzte: Sharpitlaw, ein Fron, beide mit Pistolen und Hirschfänger bewaffnet, Ratcliffe, der keine Waffen hatte, weil man ihm noch immer nicht traute, und die Madge Wildfire.

Am Fuße der Berge stießen noch zwei Frone zu ihnen, die Sharpitlaw, um kein Aufsehen zu machen, vorausgeschickt hatte. Ratcliffe schien diese Verstärkung ungern zu sehen, da er bisher geglaubt haben mochte, daß es Robertson durch Mut und Schnelligkeit gelingen werde, sich Sharpitlaw und dem Frone durch Flucht zu entziehen. Jetzt war aber die Uebermacht zu bedeutend, und wenn er noch versuchen wollte, Robertson zu retten, – ein Plan, der in Ratcliffes grauem Sünderhaupte keimte, seitdem ihn Sharpitlaw zur Teilnahme an der Expedition gezwungen – so blieb kein anderes Mittel mehr als ihn durch ein Signal zu warnen.

Dieser Gedanke mochte ihn wohl schon geleitet haben, als er vorgeschlagen hatte, die Madge Wildfire mitzunehmen; denn zu ihrer Lunge hatte er Vertrauen, und in ihre List, draußen im Freien zu singen, setzte er keinen Zweifel, Sie täuschte ihn auch in beiden Annahmen nicht; denn sobald sie die Berge sah, fing sie an, so redselig zu werden, daß Sharpitlaw nicht übel Lust hatte, sie mit einem der Frone wieder in die Stadt zurückzuschicken.

»Weiß denn wirklich keiner von Euch den Weg zu der vertrackten Stelle?« fragte er ärgerlich; »soll ich allein auf das verrückte Weibsbild angewiesen sein?«

Da sich keiner bereit finden wollte, die Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, wandte sich Sharpitlaw mit der Frage, was er für das klügste halte, an Ratcliffe, der dabei blieb, daß es ohne die Madge kaum gehen werde. »Und was soll's schließlich schaden können, wenn sie ein bißchen lärmt und singt? Selbst wenn er's hört, so braucht er doch nicht gleich zu wittern, daß sie in solcher Gesellschaft kommt!«

»Ihr habt vielleicht nicht unrecht,« sagte Sharpitlaw, »ja vielleicht kommt er sogar in der Meinung, sie streife allein herum, aus seinem Versteck heraus, statt sich vor ihr zu verstecken? Jedenfalls haben wir schon zuviel Zeit verloren, als daß wir uns noch lange besinnen dürften. Seht wenigstens zu, daß sie uns nicht vom rechten Wege abbringt.«

Ratcliffe ließ sie, um keinen Argwohn in ihr zu wecken, ruhig ein Stück vorausgehen, hielt sich aber ziemlich dicht auf ihren Fersen. Plötzlich blieb sie auf der Spitze eines niedrigen Hügels stehen, sah sich um, dann in die Höhe, stand noch eine Weile wie in Gedanken versunken und stieß plötzlich einen schweren Seufzer aus.

»Was ist denn mit ihr?« rief Sharpitlaw, »sagt ihr doch, Ratcliffe, daß wir weiter wollen.«

»Da kann bloß Geduld helfen, Euer Gnaden,« versetzte Ratcliffe, »wenn sie nicht will, dann setzt sie keinen Fuß vom Flecke.«

Sie fing wieder zu lachen an, hob wieder die Augen zum Himmel und die Arme zum Monde, dann fing sie auf einmal laut zu singen an:

Guter Mond, ich grüße dich,


Guter Mond, ich bitte dich,


Laß mich meinen Liebsten sehn,


Guter Mond, ich bitte schön.

Aber schrill brach sie ihren Gesang ab. »Wozu brauch ich den Mond zu bitten? Ich kann doch den Liebsten sehen, wann es mir paßt, es soll aber niemand hinter mir herreden, ich hätte was geschwatzt oder ihn gar verpetzt. Nein, niemand! niemand! Aber das Kleine, wollt ich, wär noch am Leben! Du lieber Gott! Der Himmel wölbt sich über uns allen,« – sie seufzte wieder schwer – »und der Mond scheint auch über uns allen und die Steine funkeln auch über uns allen,« und jetzt lachte sie wieder.

Sharptitlaw wurde ungeduldig. »Sie läßt uns womöglich die ganze Nacht hier stehen. Ratcliffe, zieht sie doch hinter Euch her!«

»Ganz gut und schön, Euer Gnaden,« antwortete Ratcliffe, »aber wir wissen bloß nicht, wohin wir sie ziehen sollen. Madge, komm, wir treffen, wenn wir uns unterwegs so lang aufhalten, zuletzt den Nikol Muschat gar nicht mehr. Führ uns doch weiter zu den Steinen!«

»Ja doch, Kliffchen! ja doch,« antwortete sie, nahm ihn beim Arme und schritt tüchtig wieder aus. »O, Kliffchen, wie sich der Nichil freuen wird, daß wir kommen, und die Frau auch. Als sie noch auf dem Posten war, Kliff – als ihr der Nichil den Hals noch nicht umgedreht hatte, Ihr wißt doch – ach! die Blutflecke! sie wollen gar nicht aus der Leinwand heraus, auch nicht, wenn man sie im Sankt-Antons-Brunnen wäscht – auch nicht mit dem neuen Bleichwasser das Meister Sanders verkauft – ich sage, Kliff, als sie noch laufen konnte – nein, nein! Blut geht nicht aus Leinwand: ich hab selbst zu Haus probiert mit einem Lumpen, drin Blutflecke von einem kleinen Schreibalge waren – der irgendwie zu Schaden gekommen – nein, nein! die sind waschecht, Kliff – wie gesagt, Kliff, als sie noch gesund war, dem Nichil seine Frau, da hat sie immer gesagt, geht mir bloß mit dem Kliff! das ist ein Höllenhund, wie es keinen zweiten mehr in der Welt gibt, aber ich gäb was drum, wenn ich 'mal mit ihm reden könnt! Ihr wißt schon, Kliff, gleich und gleich, das Sprichwort bleibt immer wahr, und ihr beide seid ein Paar Teufelsrangen, wer von euch beiden den wärmsten Platz an Teufels Herde verdient, wer könnte wagen, es zu sagen?«

Ratcliffe fing am ganzen Leibe zu zittern an. »Madge! schwatzt keinen Unsinn! ich hab nie Blut vergossen!«

»Aber verhandelt hast Du's, Kliff, oft genug. Mit der Zunge läßt sich's ebenso morden wie mit der Hand, mit Worten manchmal leichter als mit dem Messer.

Sieh, da kommt der Metzger her!


Mit der Mulde groß und schwer –


Was er Freitags niedersticht,


Hält er Samstags feil, der Wicht!«

»Und mach ich's wohl anders?« dachte Ratcliffe, »aber, hol's der Teufel! ich mag nicht schuld sein an Robertsons Elend, so lang ich's ändern kann.« – Er trat näher, zu der Irren heran und fragte leise, ob sie denn keines von ihren alten lustigen Liedern mehr wisse?

»O, viele, Kliffchen, gar viele! und lustig singen kann ich sie immer noch wie ehedem!« und plötzlich fing sie an zu schmettern, daß es weit in den Wald hinein schallte:

Steigt der Falke in die Höh',


Duckt die Lerche sich ins Korn,


Scheu im Busch duckt sich das Reh,


Stößt der Jäger in das Horn.

»Stopf ihr den Schnabel, Kliff, und wenn Du ihr den Hals umdrehen mußt!« rief Sharpitlaw; »dort regt sich jemand; heran, Jungens! zu mir heran! schleicht die Höhe hinauf! George, Ihr bleibt bei Ratcliff und dem Weibsbild. Ihr andern, im Schatten voran!«

»Mit Robertson ist's vorbei,« dachte Ratcliffe, als er die drei Häscher, verschlagen wie Indianer, möglichst das Mondlicht meidend, entlang kriechen sah. »Das junge Volk ist aber auch zu unbedacht! Muß er sich mit dieser Jeanie Deans hier treffen! Ich dächte, er könnt an der einen genug haben. Nein! da muß er seinen Hals in solche Gefahr bringen. Und dieses dumme Weibsstück hier? Die ganze Nacht hat sie gekräht wie ein Hahn, der den Koller hat, und jetzt, wo's drauf ankommt, kann sie den Schnabel nicht rühren? Aber so ist's immer mit dem vertrackten Weibsvolk. Ich muß sie aufs Tapet zu bringen suchen, ohne daß es der sakrische Spürhund merkt.«

Nun begann er leise die Melodie einer Ballade zu trällern, die immer die Lieblingsnummer der närrischen Person gewesen war und die in entfernter Beziehung zu Robertsons Lage stand:

Der Köter späht durch Zinnwalds Grün


Von fern dringt Waffenstrahl.


Die Dirne sitzt im Zinnwald drin,


Ihr Lied schallt durch das Tal.

Kaum hatte Madge die Worte vernommen, als sie Ratcliffes Hoffnung erfüllte und mit schmetternder Stimme einfiel:

Herr Ritter, rief sie, hurtig auf!


Gefahr ist im Verzuge!


Spornt Euer Roß zu wildem Lauf!


Der Feind rückt an im Fluge

Ratcliffe befand sich noch in beträchtlichem Abstande von den Muschatsteinen, und doch hatte er mit seinen Falkenaugen erkannt, daß die Warnung gefruchtet hatte. Der Fron, der neben ihm stand und kein so scharfes Auge hatte, wie er, hatte Robertsons Flucht so wenig bemerkt, wie Sharpitlaw und seine Kameraden. Aber nach etwa einem halben Dutzend Minuten entdeckten sie, daß er ihnen entwischt war, und während Sharpitlaw kreischte, außer sich vor Wut: »Auf! Ihm nach, Jungen! Den Hügel hinauf! Dort oben an der Ecke sehe ich ihn!« eilten seine Schergen in der bezeichneten Richtung hinweg.

Sharpitlaw drehte sich im andern Augenblicke nach Ratcliffe herum.

»He, Kliff! hierher, und dies Frauenzimmer festgehalten! George, lauf zum Gatter hin und schließ es! Ratcliffe, hierher! auf der Stelle! Zuvor aber schlag dem tollen Weibsbilde den Schädel ein!« »Madge, Du reißt am besten aus!« flüsterte Ratcliffe der Verrückten zu. »Denn mit einem Zornigen ist's nicht gut arbeiten.«

So von Sinnen war nun Madge Wildfire nicht, daß sie den gutgemeinten Rat nicht hätte verstehen und nützen sollen. Während Ratcliffe zu Sharpitlaw eilte, um Jeanie Deans von ihm in Empfang zu nehmen, entfloh sie in der entgegengesetzten Richtung. Aber es half ihr nichts, denn am andern Morgen wurde sie aufgegriffen und wieder ins Stockhaus gebracht. So war der kleine Trupp völlig auseinander geraten, nur Ratcliffe war noch mit Jeanie Deans, die keinen Fluchtversuch wagte, bei den Muschatsteinen zurückgeblieben.

Sechzehntes Kapitel

Außer sich vor Schreck, sah Jeanie Deans die Männer, die im nächtlichen Dunkel aufgetaucht waren, hinter dem Unbekannten herrennen, für den sie mit einem Mal, ohne sich den Grund erklären zu können, eine gewisse Sympathie fühlte. Einer von den Männern, Sharpitlaw, trat dicht vor sie hin und fuhr sie an:

»Du bist Jeanie Deans und meine Gefangene. Ich laß Dich aber laufen, wenn Du mir sagst, wohin sich der Patron gewandt hat, der bei Dir war.«

»Das weiß ich ja nicht, Herr,« antwortete das geängstigte Mädchen.

»Aber mit wem Du Dich mitternachts auf den Bergen unterhältst, weißt Du? He?«

»Nein, Herr, ich weiß es nicht,« sagte Jeanie wieder, in ihrer Verwirrung zum Glück außer stande, den versteckten Sinn der Frage zu verstehen.

»Na, Dein Gedächtnis wird sich schon schärfen lassen,« rief Sharpitlaw, Ratcliffe auf sie zuschiebend, während er sich selbst hinter Robertson her machte, noch immer in der Hoffnung, sich seiner bemächtigen zu können, und mit einer Gewandtheit und Schnelligkeit, die man ihm bei seinem Alter und seiner körperlichen Beschaffenheit kaum zugetraut hätte, über die Felsen kletterte.

Binnen wenigen Minuten waren die Häscher verschwunden, und nur Halloh-Rufe, von den Bergen herüberschallend, kündeten noch von ihrer Gegenwart. Allein mit einem Menschen, dessen Aeußeres nicht eben zu seinen gunsten sprach, stand Jeanie in der finstern, nur matt von dem Monde erhellten Nacht. »Recht schön heute, mein feines Kind,« sagte Ratcliffe, als es in der Ferne still geworden war, in dem kalten ironischen Tone, den sich lasterhafte Menschen immer aneignen, wenn ihnen die Sünde zur Gewohnheit wird, »muß sich nett scharmieren lassen?« Er versuchte, den Arm um den Hals des Mädchens zu legen, sie entwand sich ihm aber. »Na, nicht so spröde!« fuhr er fort, »zum Nüsseknacken treffen sich doch Bursche mit Dirnen um Mitternacht nicht bei den Muschatsteinen?«

»Ach, Mann,« flehte Jeanie, »wer Ihr auch seid, habt Erbarmen mit einem armen Geschöpfe, das vor Entsetzen fast von Sinnen ist.«

»Kind, Du bist ja allerliebst, bloß darfst Du nicht so eigensinnig sein! Sieh mal, ich hatte mir vorgenommen, wieder ein ehrlicher Kerl zu werden, und da fällt's dem Teufel ein, mir erst einen Rechtsverdreher und nachher ein Frauenzimmer in die Quere zu schieben. Ich will Dir was sagen, Jeanie: die Spitzel sind jetzt von dieser Felsenseite weg, komm mit mir mit! ich will Dich in einen Winkel führen, wo Dich alle Polizisten von Schottland nicht finden sollen. Von dort wollen wir Robertson sagen lassen, daß er mit uns nach Yorkshire hinüber zieht. Dort gibt's ein altes Stämmchen von Kameraden, mit denen sich's gut arbeiten läßt. Der Esel von Sharpitlaw mag uns dann hinterher pfeifen!«

Glücklicherweise fand Jeanie, als sie den eisten Schrecken überwunden hatte, Mut und Geistesgegenwart wieder: sie erkannte, in welcher Gefahr sie sich diesem Menschen gegenüber befand, der nicht nur Schurke von Haus aus war, sondern sich aus Aerger darüber, daß ihn Sharpitlaw trotz alles Widerstrebens doch zu dieser Expedition nötigte, einen derben Rausch angetrunken hatte. Um ihn sich vom Halse zu schaffen, flüsterte sie:

»Sprecht bloß nicht so laut! Er ist dort oben.«

»Wer? doch nicht Robertson?« rief Ratcliffe gespannt.

»Ja, dort oben!« antwortete sie, auf die Ruinen der Kapelle zeigend.

»Soll mich der –« rief Ratcliffe; »das laß ich mir nicht aus der Nase gehen. Warte hier!«

Wie besessen rannte er die Höhe hinauf, während Jeanie in entgegengesetzter Richtung floh, den nächsten Pfad entlang, der sie nach Hause führte. Sie hatte nicht umsonst in ihren Kinderjahren die Herde gehütet, sondern dabei laufen und springen gelernt, über Stock und Stein, hinter ihren oft flüchtigen Ziegen her; und nicht leicht tat es ihr jemand an Behendigkeit gleich. Gleichsam im Fluge hatte sie den Weg zwischen ihres Vaters Häuschen und den Muschatsteinen zurückgelegt, das Tor aufklinken und wieder zuschlagen, ein schweres Hausgerät zur besseren Sicherung davor schieben, behutsam bis zur Tür der Schlafkammer schleichen, um zu horchen, ob der Vater durch ihre Heimkehr geweckt worden, war das Werk eines Augenblicks.

Er hatte nichts gemerkt, und doch schlief er nicht, mochte wohl auch kaum viel geschlafen haben, sondern lag auf den Knieen und betete. Deutlich vernahm sie die Worte: »Und das andere Kind, das Du mir gegeben zum Trost und zum Stecken und Stab für mein Alter, möge es lange leben auf Erden, wie Du verheißen hast denen, die Vater und Mutter ehren. Möge der Segen der Verheißung und Vergeltung vielfältig auf ihr ruhen! Bewahre sie in dem Schatten der Nacht und beim Anbruch des neuen Lichts, daß alle Lande umher erkennen, daß Du Dein Angesicht nicht gänzlich denen verbirgst, die Dich mit Wahrheit und Aufrichtigkeit suchen.«

Jeanie zog sich, gestärkt durch den Gedanken, daß, während Gefahr ihrem Haupte drohte, das Gebet des Gerechten »ein Helm des Heils gewesen sei ihrem Haupte«, mit der Zuversicht, den Schutz des Himmels zu besitzen, so lange sie seiner würdig bleibe, in ihr Kämmerchen zurück. In dieser erhöhten Seelenstimmung durchzuckte ein unklarer Gedanke, ihren Geist, daß ihre Schwester, da sie gereinigt dastehe von dem ihr zur Last gelegten unnatürlichen Verbrechen, noch zu retten sein müsse. Dieser jähe Gedanke wirkte, wie sie später oft sagte, wenn sie dieser Zeit gedacht, wie ein Lichtstrahl auf stürmischer See, und, wenngleich er ebenso schnell verschwand, wie er sich zeigte, so gab er ihr doch ein Gefühl von Ruhe, wie sie es schon tagelang nicht mehr gekannt hatte, und die Ueberzeugung, sie sei zum Werkzeug ausersehen, die Schwester zu retten, zog ein in ihre Seele. Gott für den gewährten Schutz inbrünstig dankend, suchte sie ihr Lager auf und schlief, trotz der schweren Erschütterungen, die sie erlitten, ruhig und fest.

Ratcliffe war wie ein vom Jäger gehetztes Wild zu den Ruinen hinausgestürzt, wo Robertson, nach Jeanies Rede, noch weilen sollte. Ob er ihm zur Flucht verhelfen oder ihn den Häschern ausliefern wollte, damit brauchen wir uns hier nicht zu befassen. Vielleicht war er sich hierüber selbst noch nicht klar, sondern dachte, die Umstände entscheiden zu lassen. Es blieb ihm aber keine lange Wahl, denn kaum hatte er den Fuß zwischen die Ruinen gesetzt, als ihm ein Pistol entgegengehalten wurde und eine rauhe Stimme ihn im Namen des Königs aufforderte, sich zu ergeben.

Verdutzt rief Ratcliffe: »Was? Ihr seid hier, Herr Sharpitlaw?« – »Was, Ihr? Ratcliffe?« rief der andere, über den Fehlschlag seines Unternehmens vor Aerger außer sich. »Weshalb habt Ihr die Dirne im Stiche gelassen?«

»Sie sagte, Robertson sei hier oben, und weil ich Euer Gnaden in den Bergen vermutete, bin ich selbst heraufgerannt, ihn zu fassen.«

»So hätten wir uns umsonst bemüht?« rief Sharpitlaw; »denn daß wir ihn heute noch fassen, ist ausgeschlossen. Aber in eine Bohnenhülse müßte er sich verkriechen, wenn ich ihn nicht auf schottischem Grund und Boden erwischen sollte. Ruft die andern her!«

Ratcliffe holte sie herbei, was ihm nicht sonderlich schwer fiel, denn keiner davon verspürte Lust, einem so verwegenen Menschen wie Robertson Auge in Auge gegenüber zu treten.

»Und die beiden Frauenzimmer?« fragte Sharpitlaw, »wo sind die hingeraten?«

»Die werden sich wohl mitsammen auf die Socken gemacht haben,« antwortete Ratcliffe und brummte vor sich hin:

»Wo ist mein Bräutchen geblieben?


Fort – und entfloh'n!«

»Will man was der Quere gehen sehen, braucht bloß ein Weibsbild dabei zu sein,« sagte Sharpitlaw, der, wie alle seines Zeichens, gegen das schöne Geschlecht ein Aber hatte; »wie konnte ich bloß so dumm sein, mir einzubilden, daß ich was ausrichten würde, wenn ihrer zwei im Spiele sind? Gut wenigstens, daß wir wissen, wo wir die lieben Kinderchen zu suchen haben!«

Es blieb ihm nichts übrig, als seinen kleinen Trupp nach der Hauptstadt zurückzuführen, und das tat er, wenn auch mit der Miene eines geschlagenen Feldherrn. Am Morgen mußte er dem diensttuenden Ratsherrn Bericht erstatten, und zufällig traf es sich, daß es noch derselbe war, der tags vorher Reuben Butler vernommen hatte: ein bei der Bürgerschaft sehr angesehener Mann, von gesundem Sinne, mit einem tüchtigen Schatze von Kenntnissen und im Rufe, sein Amt ehrlich und gewissenhaft zu führen.

Er war kaum in das Amtszimmer eingetreten, als ihm ein Brief überreicht wurde. »Für den Ratsherrn Middleburgh. – Eiligst!« Er brach ihn auf und las:

»Herr Rat! Sie sind mir bekannt als Mann von Verstand und Gefühl, auch als Mann, der, und sei es auf Teufels Begehren, Gott dem Herrn gern dient. Darum hoffe und erwarte ich, daß Sie mein Zeugnis gelten lassen werden, wenn ich auch durch die Unterzeichnung dieses Schreibens mich des Anteils an einer Handlung für schuldig bekenne, die ich, zu andrer Zeit und an anderm Orte, mich weder scheuen würde, zu gestehen, noch zu beschönigen. Der Geistliche Butler ist unschuldig. Er ist zur Anwesenheit bei der betreffenden Handlung gezwungen worden. Sie gutzuheißen, hat es ihm an dem nötigen Schwunge gefehlt. Er hat es sich vielmehr angelegen sein lassen, sie uns auszureden. Indessen wende ich mich nicht an Sie, um diesen Mann weiß zu waschen. Mich interessiert vielmehr ein Mädchen, das in Ihren Kerkern schmachtet, dem Schwert eines grausamen Gesetzes verfallen, das jahrzehntelang im Aktenschranke gemodert hat und nun hervorgesucht wird, das schönste, lieblichste Geschöpf zu treffen, das je in einem Kerker schmachtete – ihre Schwester, Herr, kennt ihre Schuld, denn ihr hat sie es gesagt, daß sie von einem Schurken hintergangen und betrogen wurde. O, daß der Himmel

Zuchtruten legen möcht in jede Manneshand,


Den Bösewicht zu peitschen durch das Land,

Herr, ich bin außer mir, ich bin von Sinnen! Aber diese Schwester, diese Jeanie Deans, ist eine verstockte Puritanerin, in Aberglauben versunken und in allem, was sie denkt und tut, mit Bibel und Katechismus bei der Hand wie ihre ganze Sekte, und deshalb beschwöre ich Sie, Herr, ihr recht eindringlich vorzuhalten, daß das Leben ihrer Schwester von ihrem Zeugnisse abhängt, auch, die Angeklagte nicht ohne weiteres für schuldig zu halten, wenn ihre Schwester sich weigern sollte, Zeugnis abzulegen; noch weniger lassen Sie sich beikommen, Herr, sie dem Schafott zu überantworten. Denken Sie daran, wie grimmig Wilsons Hinrichtung gerächt wurde, und seine Rächer sind noch am Leben, sie können und werden auch das Mädchen nicht ungerochen lassen, wenn sie zu Unrecht vom Leben zum Tode gebracht werden sollte. Ich wiederhole, vergessen Sie den Hauptmann Porteous nicht, und verschließe niemand sich dem gutgemeinten Rate, den hiermit gibt einer von den Porteous-Mördern.«

Der Ratsherr las den Brief ein paarmal. Zuerst erschien er ihm als das Werk eines Irrsinnigen, wozu ihn vor allem die zwei eingestreuten Verszeilen bewogen. Nachher aber kam es ihm vor, als sei der Brief mehr ein Erguß, wenn auch seltsamer Art, eines Uebermaßes gereizter Leidenschaft.

»Das Gesetz ist wirklich streng und grausam,« sagte er, »und wenn es nach mir ginge, sollte es auf das Mädchen buchstäbliche Anwendung nicht finden; kann ja doch das Kind, während die Mutter bewußtlos lag, weggeschafft worden sein; kann es doch aus Mangel an Nahrung eingegangen sein, die ihm die Mutter in ihrem qualvollen, verzweifelten Gemütszustände hat nicht reichen können! Und doch wird sich die Hinrichtung nicht abwenden lassen, sofern die Aermste nicht dem Gesetzeslaute entrückt werden kann. Das Verbrechen ist zu oft verübt worden, und ein warnendes Exempel unumgänglich.«

»Wenn aber die andre, die Schwester,« meinte der Stadtschreiber, »aussagt, sie sei von der Angeklagten über ihren Zustand unterrichtet worden«

»Dann wäre sie gerettet,« antwortete der Ratsherr; »nun, ich will nächster Tage mal zu dem alten Deans hinaus gehen und mit ihm und seiner andern Tochter reden; ihn kenne ich freilich als einen so zähen Presbyterianer, daß er eher Kind und Kindeskind zu Grunde gehen ließe, als sich in neue, seiner Meinung nach sündhafte Bräuche fügte, und dazu rechnet er sicher auch die Eidespflicht. Vielleicht mildert das Schicksal des eignen Kindes die starre Denkweise. Wie gesagt, wenn mir der Porteous-Prozeß ein wenig Luft macht, will ich nach Sankt-Leonard hinaus, Vater und Tochter werden dann zugänglicher und einsichtsvoller sein, als wenn sie unvorbereitet eine Vorladung bekommen.«

»Butler soll noch im Gefängnisse bleiben?« fragte der Stadtschreiber.

»Vorläufig. Ich hoffe aber, ihn bald auf Bürgschaft entlassen zu können.«

»Halten Sie etwas von dem verrückten Schreiben?«

»Wenigstens und doch muß ich sagen, es macht Eindruck, mir scheint es von einem Menschen geschrieben, der durch maßlose Leidenschaft oder das Bewußtsein einer schweren Schuld alle Herrschaft über sich verloren hat.«

»Mir kommt es vor, als sei es von einem wandernden Komödianten verfaßt, der mit seiner ganzen Bande gehängt zu werden verdiente, echtes Bühnen-Strohfeuer!«

»Hm, so barbarisch, eine ganze Bande hängen zu lassen, bin. ich doch nicht, lieber Stadtschreiber. Um aber auf unsern Geistlichen zurückzukommen, so haben die Erkundigungen, ergeben, daß er sich eines vorzüglichen Rufes erfreut und erst vorgestern in die Stadt gekommen ist, also in die Pläne der Aufrührer kaum verwickelt gewesen sein kann; daß er ihnen aber sollte so plötzlich beigetreten sein, ist doch unwahrscheinlich.«

»Dagegen läßt sich immerhin geltend machen, daß Feuer auch durch Funken entsteht. Habe ich doch selbst einen Prediger gekannt, rechtlich und ruhig, wie nur einer im Kirchspiel, den die bloßen Worte Abschwörungsformel und Toleranz so in Grimm brachten, daß er Haus und Hof verließ und sich der ärgsten Pöbelrotte anschloß, die...«

»Nun, für so entzündlichen Gemüts halte ich Butlern nicht!« unterbrach ihn der Ratsherr, »ich glaube, wir brauchen uns in dieser Hinsicht nicht zu sorgen. Befassen wir uns mit den anderen Ressortsachen!«

Aber sie kamen nicht dazu, denn im nämlichen Augenblick erzwang sich eine alte Frau aus den niederen Ständen, laut keifend den Weg zum Verhandlungszimmer.

»Was ich hier will?« schrie sie trotzig; »mein Kind will ich, weiter nichts von Euch, und wenn Ihr Euch noch so vornehm habt!« In sich hinein murmelte sie ingrimmig: »Gnädiger Lord und Euer Gnaden, und wer weiß mit was noch soll man ihnen aufwarten, dem Pack! aber was Rechtes ist doch nicht drunter!« Zu dem Ratsherrn sich wendend, rief sie: »Euer Gnaden, mein Kind, mein armes, blödes Kind!« und wieder murmelte sie sich in sich hinein: »Schöner Kerl, dieser Herr Rat und Euer Gnaden, kann mich noch gut auf die Zeit besinnen, wo er mit ein bißchen weniger auch zufrieden gewesen wäre, der Schiffersjunge!«

»Sagt uns, was Euch herführt, Frau,« sagte der Ratsherr, »aber stört die Verhandlungen nicht!«

»Das heißt soviel, als: schert Euch zum Geier! Aber,« rief sie mit kreischender Stimme, »ich sage Euch, mein Kind will ich heraushaben! Ich dächte, das wäre deutlich genug!«

»Wer seid Ihr, Frau, und wer ist Euer Kind?«

»Wer ich bin? Ei, die Grete Murdockson, wer sonst? und wer soll mein Kind anders sein als die Magdalene Murdockson? Eure Schergen kennen uns, haben sie uns doch oft genug die paar Lumpen vom Leibe und das bißchen Kleingeld aus den Taschen gerissen, wenn sie uns in den Käfig schleppten, um uns wieder mal auf Wasser und Brot zu setzen!«

»Wer, ist die Frau?« wandte Rat Middelburgh sich an einen der in der Stube befindlichen Frone.

»Na, eine von der sittsamen Sorte nicht gerade,« antwortete der Fron, indem er unter Lachen die Achsel zuckte. »So? Du erfrechst Dich, über unsereinen herzuziehen?« erwiderte die keifige Alte, deren Augen wie wildes Feuer sprühten. »Wenn ich Dich draußen hätte, solltest Du meine zehn Finger flugs in Deiner Schelmenfratze dafür sehen!« Dabei streckte sie die Fäuste dem Fron entgegen und zischte wie eine Schlange.

Dem Ratsherrn riß endlich die Geduld. »Was hat Sie hier zu suchen?« rief er barsch, »Sie mag ihr Anliegen sagen und dann gehen!«

»Mein Anliegen?« schrie die Alte, »Ihr wollt sagen, was ich zu fordern habe? He? Nun, habt Ihr Watte in den Ohren? Wievielmal soll ich's Euch denn sagen? Mein Kind will ich haben, die Maggie Murdockson, und wenn Ihr nicht hören mögt, was man Euch zuschreit, dann braucht Ihr Euch nicht so breitspurig auf Euern Sessel zu pflanzen und andere anzufahren!«

»Sie will ihre Tochter wiederhaben, Herr Rat,« mischte der Fron sich ein, der eben von ihr angeschrieen worden, »die Madge Wildfire ist's, die gestern eingebracht worden ist.«

»Madge Wildfire [Wildfeuer], sagst Du Schuft, warum denn nicht gar Madge Hellfire [Höllenfeuer]? schrie die Alte, »brauchst Du denn ehrlicher Weiber Kindern Schimpfnamen anzuhängen?«

»Ehrlicher Weiber Kindern?« wiederholte der Fron, laut lachend, worüber die Alte ganz außer sich geriet; »Ihr habt Ursache zu solcher Rede – das muß man Euch lassen.«

»Wenn ich ein ehrlich Weib nicht mehr bin, so war ich es doch, Du Scheusal!« keifte sie, »und das kannst Du geborener Dieb von Dir nicht sagen, der sein Leben lang nicht anderer Leute Gut vom seinigen hat unterscheiden können. Du, und ehrlich? Hast Deiner Mutter schon das Geld aus der Tasche gestohlen, als Du noch kaum Hosen anhattest. Kannst Dich nicht mehr besinnen, wie sie Dich an dem Tage braun und blau peitschten, als sie Deinen Vater vom Galgen schnitten?«

»Na, die hat's Euch gegeben,« riefen die Kameraden des von der Alten also gehudelten Dieners der Gerechtigkeit, und das Lachen, mit dem sie ihre Worte begleiteten, konnte einigermaßen als Beweis gelten, daß ihm damit nicht so ganz unrecht geschehen war.

Der Alten mochte dieser Beifall schmeich ein, denn ihr häßliches Gesicht verzog sich zu einem widerlichen Grinsen, und als der Ratsherr sie jetzt noch einmal aufforderte, ihr Begehren deutlich vorzubringen, entschloß sie sich, auf vernünftige Weise Rede und Antwort zu stehen. »Ihr Kind, sagte sie, sei doch ihr Kind und sie wolle es nicht im Gefängnis lassen, weil es nichts verbrochen habe und dort bloß schlecht würde, und wenn ihr Kind nicht soviel Verstand hätte wie andrer Leute Kinder, so hätte es auch mehr Herzeleid überstanden; durch ein Schock Zeugen könne sie beweisen, daß ihr Kind den Porteous kein einziges Mal, weder tot noch lebendig, gesehen habe, als einmal am Geburtstage des Herrn Kurfürsten von Hannover von Gottes Gnaden, als sie dem Lordmayor eine tote Katze an die Perücke geworfen und ihr der Lümmel von Porteous eine Tracht Prügel deshalb aufgezogen.«

So widerwärtig dem Ratsherrn die Alte auch war, so verschloß er sich der Meinung doch nicht, daß auch ihr ein Recht zustehe, ihr Kind zu lieben wie jeder andern Mutter auch, und er ließ sich sofort Bericht darüber erstatten, weshalb das Mädchen hinter Schloß und Riegel gehalten werde. Als sich dabei herausstellte, daß sie ihr Alibi schon nachgewiesen habe, ließ er sie aus der Zelle holen, wohin sie erst am Morgen, durch Sharpitlaw aufgegriffen, eingeliefert worden war. Der Ratsherr versuchte inzwischen von der Alten zu erfahren, ob ihr bekannt sei, wann und wo Robertson sich wieder umgekleidet und wo er die Kleider ihrer Tochter gelassen habe. Aber die Alte ging nicht von ihrer Behauptung ab sie habe Robertson, seit er aus der Zöllnerkirche entwichen, kein einziges Mal mehr gesehen, wisse auch gar nicht, daß ihre Tochter ihm Sachen geliehen habe. Da sie Beweise dafür anführen konnte, daß sie die Nacht, in welcher sich der Porteous-Krawall abgespielt, in einem Dorfe anderthalb Meilen von der Stadt zugebracht hatte, blieb dem Ratsherrn nichts übrig, als das Verhör mit ihr einzustellen. Der Alten schien das wieder zu schmeicheln, denn sie beugte sich zu dem Rate hinüber und sagte: »Aber etwas über den Lümmel von Porteous könnt ich euch am Ende sagen, was ihr alle in eurem hohen Rate, und wenn ihr euch noch so anstrengtet, nicht herausbrächtet.«

»So redet!« befahl ihr der Ratsherr, während sich aller Blicke auf sie richteten.

»Es kann Euch bloß von Nutzen sein, wenn Ihr damit nicht hinterm Berge haltet,« sagte der Stadtschreiber.

Ein paar Minuten lang verhielt sie sich in tückischem Schweigen, sah sich aber im Kreise um, wie wenn sie sich an der Spannung weiden wollte, mit der ihre Antwort erwartet würde. Dann rief sie plötzlich: »Hm, ich weiß doch nichts weiter von ihm, als daß er auch bloß ein Spitzbube und Taugenichts war, wie die meisten von euch. Aber bis man so etwas herauskriegt, meine ehrsamen Herren, kann man schon ein paar Jahre mit in eurem hohen Rate sitzen, nicht?«

Während keiner in dem Verhandlungszimmer im ersten Augenblick wußte, was er zu solcher Frechheit sagen sollte, wurde Maggie Wildfire hereingeführt. Kaum hatte sie die Alte erblickt, als sie auch rief: »Na, dacht ich's mir doch! Da ist ja unser altes Reibeisen von Mutter auch da! Uns beide auf einmal im Stockhaus zu haben, muß ja eine große Freude für die Herren sein, aber es hat auch einmal bessere Tage für uns gegeben nicht wahr, Mütterchen?«

Als die Alte ihr Kind wiedersah, huschte im ersten Augenblick ein freudiger Zug über ihr Gesicht; aber ob sie nun, nach Tigerweise, ihre Liebe nicht anders zeigen konnte als unter Ausbrüchen von Wildheit, oder ob durch die Worte ihrer Tochter Erinnerungen geweckt worden waren, die ihren Haß wieder wachriefen, kurz, sie packte die Tochter am Arme und riß sie hinter sich her zur Tür.

»Was geht's Dich an, Du Landflüchtige, daß wir bessere Tage gesehen? Kümmre Dich drum, was jetzt mit Dir los ist. Hast's wieder so getrieben, Du Faulenzerin, daß Dir vierzehn Tage bei Brot und Wasser winken zur Strafe dafür, daß Du mir wieder solche Schererei machst!«

Maggie entwischte aber der Alten an der Tür, rannte wieder zu dem Tische hin, machte dem Ratsherrn einen komischen Knicks, kicherte und sagte: »Sie hat sich gewiß wieder mit ihrem Gevatter, dem Satan, überworfen, ihr Herren; dann verfällt sie nämlich immer in Mucken und Grillen, und ich muß der Sündenbock sein. Nur gut, daß mein Buckel an Prügel gewöhnt ist! Aber wenn sie keine Manieren hat, meine Herren, so ist doch damit nicht gesagt, daß sie auch anderen fehlen müßten!« Wieder machte sie einen ihrer komische Knickse; aber von draußen schallte die Stimme der Mutter herein: »Maggie! Teufelsbalg! Kommst Du nicht auf der Stelle, so hole ich Dich!«

»Da hört nur, wie sie wieder wettert!« schwatzte Maggie weiter, ohne sich durch ihre Reden stören zu lassen; nach einer Weile aber, als sich die Mutter mit den Fronen zankte, die sie nicht wieder in die Stube lassen wollten, besann sie sich eines andern und hub, die Hand zum Himmel ausstreckend, mit schmetternder Stimme zu singen an:

Zur Lust auf, der blauen,


Auf der Stute, der grauen,


Noch sehe, noch sehe ich sie!

Und mit einem Satze war sie zur Tür hinaus.

Bis Ratsherr Middleburgh dazu kam, nach Sankt-Leonard hinauszugehen, verliefen reichlich vierzehn Tage. Das Gericht hatte mit dem Falle Porteous noch immer soviel Schererei, daß niemand zu Atem kam. Von London aus lief eine Beschwerde nach der andern ein, daß von den Mördern noch kein einziger verhaftet worden sei, und selbst der König hatte persönlich interveniert: ein Fall, der sich nicht häufig zu ereignen pflegte. Immerhin mußte Butler von aller Schuld freigesprochen werden, war aber nur gegen Bürgschaft aus der Haft gelassen worden, weil auf seine Zeugenaussage Gewicht gelegt wurde, eben der Beschwerden halber, die aus London nach Edinburg kamen. Aus dem gleichen Grunde wurde es jetzt unangenehm empfunden, daß die alte Murdockson mit ihrer Tochter sich am selben Tage, als sie aus der Haft entlassen worden, aus Edinburg entfernt hatte und spurlos verschwunden war. Von London aus kam Befehl, eine öffentliche Belohnung auszuschreiben für jeden, der einen Teilnehmer an dem Krawall zur Anzeige brächte, anderseits jeden, dem nachgewiesen würde, daß er solchem Teilnehmer Unterstand oder Gelegenheit zur Flucht gegeben, mit sofortiger Todesstrafe zu drohen: eine Maßregel von unerhörter Strenge, die noch dadurch für schottische Sinnesart erheblich verschärft wurde, daß sie an jedem ersten Sonntag eines Monats vor dem Beginn des Gottesdienstes von der Kanzel verlesen und jeder Geistliche, der sich dieser Verordnung nicht fügte, seines Amtes entsetzt werden sollte.

Hierüber entstand in Edinburg allgemeine Unzufriedenheit, denn das Volk meinte, der Fall würde von England aus nur dazu ausgenützt, Schottlands Rechte und Freiheiten zu verkürzen; dem presbyterianischen Glauben gilt es als Sünde, die Kanzel zu irgend etwas anderm als zur Verkündigung von Gottes Worte zu benutzen: zudem war Schottland das Reservatrecht zugestanden worden, daß für den öffentlichen Gottesdienst lediglich die Generalsynode als unsichtbares Oberhaupt der Kirche Bestimmungen erlassen dürfe.

Während es zufolgedessen in Edinburg bedenklich zu gären anfing, machte sich Ratsherr Middleburgh, als der Verhandlungstermin gegen Effie Deans vom Lord-Oberrichter festgesetzt worden, auf den Weg nach Sankt-Leonard, zur damaligen Zeit eine nicht so einfache Sache wie jetzt, denn wenn die Entfernung auch nur annähernd eine Stunde betrug, so waren doch die Straßen nicht bloß unsicher, sondern auch bei weitem nicht so bequem, wie es die Menschen in der Gegenwart gewöhnt sind.

Der alte Deans saß vor seinem Häuschen auf einer Rasenbank, mit Ausbesserung seines Geschirrs befaßt: eine Arbeit, die zur damaligen Zeit jeder Besitzer eines Fuhrwerks selbst verrichten mußte. Statt, wie der Ratsherr erwarten durfte, die Arbeit aus der Hand zu legen, hielt Deans es kaum für notwendig, den Kopf aufzuheben, sondern bastelte mürrisch weiter. Es blieb dem Ratsherrn nichts übrig, als den alten Mann anzureden.

»Mein Name ist Middleburgh, James Middleburgh. Ich bin Ratsherr von Edinburg,« sagte er.

»Hab nichts dawider,« versetzte Deans, kurz angebunden, ohne sich stören zu lassen.

»Richter haben manchmal recht schwere Pflichten,« sagte Middleburgh wieder.

»Mag sein,« brummte Deans, »andre Leute auch.«

»Es treten hin und wieder Pflichten und Meinungen in schweren Widerspruch,« sagte Middleburgh.

»Kann's nicht ändern,« brummte Deans.

»Sie haben zwei Töchter, Deans? nicht wahr?«

Der Greis fuhr schmerzlich zusammen, wie jemand, der sich an einer empfindlichen Wunde gestoßen, bückte sich aber im andern Augenblick noch tiefer über seine Arbeit und erwiderte finster: »Eine Tochter, Herr – bloß eine – bloß eine!«

»Ich verstehe, Deans, Sie meinen, bloß eine zu Hause, aber das unglückliche Ding im Gefängnis, ist doch Ihre jüngste Tochter?«

Der Presbyterianer schlug ernst die Augen zu dem vor ihm stehenden Ratsherrn auf. »Dem Fleisch nach ist die andere mein Kind; ja – aber seit sie ein Belialskind geworden, dem Geiste nach nicht mehr.«

Der Ratsherr setzte sich neben den starren Greis und suchte die Hand zu fassen, die die seine floh. »Deans,« sagte er, »wir sind allzumal Sünder und sollten an den Irrungen unserer Kinder schon darum kein zu großes Aergernis nehmen, weil ihnen ja irdische Schwäche als Erbteil von uns Eltern überkommt.«

Ungeduldig rief der Greis: »Herr, das weiß ich so gut wie, ich meine, es kann ja alles, was Sie sagen, recht und in Ordnung sein; aber mit fremden Leuten über meine Angelegenheiten zu sprechen, ist meine Sache nicht, obendrein jetzt, nachdem von London diese strengen Dekrete erlassen worden sind, zum empfindlichen Nachteil für unser armes Land und seine gequälte Kirche.«

»Aber, lieber Deans,« fiel ihm der Ratsherr ins Wort, »das eigne Haus muß der Mensch doch vor allem bedenken, man wäre ja sonst schlimmer als ein Ketzer!«

»Ich sage Ihnen, Ratsherr,« fuhr Deans auf, »wenn Sie Ratsherr sind, was heutzutage freilich nicht weither ist, mein Haus bleibt mein Haus, und für eine Verworfene – für eine – ich scheue mich, daran zu denken, was sie ist – für eine solche hab ich kein Haus mehr.«

»Aber, Deans, bedenken Sie, wenn das Leben Ihres Kindes noch zu retten wäre.«

»Ihr Leben!« rief der Greis, »kein Haar von diesem grauen Haupte möchte ich hingeben für ihr Leben, nachdem sie ihren Ruf geschändet hat, und doch,« setzte er, mit einem schwachen Versuche, den harten Spruch zu mildern – »würde ich es hingeben, dies graue Haupt, das sie mit Pein beladen, könnte sie dadurch Zeit zur Buße, zur Läuterung gewinnen: den was bleibt dem Bösen, wenn ihm der Odem entwichen? Aber sie sehen, noch einmal sehen? Nein! nie, nie! in diesem Leben nie mehr!«

Wie wenn er dies Gelübde innerlich wiederholte, bewegten sich seine Lippen noch eine Weile stumm hin und her.

»Deans,« nahm Middleburgh wieder das Wort, »ich spreche zu Ihnen als einem klugen, verständigen Manne, und wenn Sie Ihrem Kinde das irdische Leben retten wollen, so müssen Sie sich auch irdischer Mittel dazu bedienen.«

»Ich verstehe den Sinn Ihrer Worte,« erwiderte Deans, »und was irdische Klugheit für die Verlorene zu tun vermag, wird Herr Novit besorgen, der Sachwalter von Dumbiedike. Mir selbst erlaubt mein Gewissen nicht, mich mit Gerichtshöfen der neueren Art in Disput einzulassen.«

»Sie wollen damit sagen, Deans, daß Sie die Zuständigkeit unserer Gerichte nicht anerkennen?« erwiderte Middleburgh; »aber hierüber mit Ihnen zu diskutieren, sei späterer Gelegenheit aufbewahrt. Was mich heute herführt, ist lediglich folgendes: Ich habe Weisung gegeben zur Vorladung Ihrer ältesten Tochter als Zeugin in dem Prozesse wider Ihre jüngere, Effie. Erfüllt nun Ihre ältere Tochter dem Staate gegenüber ihre Pflicht und legt das Zeugnis ab, so ist die Schwester, so weit ich zurzeit beurteilen kann, gerettet. Falls aber Sie aus starren Glaubensrücksichten ihr verbieten sollten, vor Gericht zu erscheinen, dann sind Sie, der Vater des unseligen Mädchens, als derjenige anzusehen, den die Schuld an ihrem frühen und schimpflichen Tode trifft.«

Nach diesen Worten wandte der Ratsherr dem Pächter den Rücken und schickte sich zum Gehen an.

»Bleiben Sie noch, Herr Middleburgh,« rief Deans, »Herr Ratsherr, noch ein Wort!« Dieser mochte aber befürchten, durch Wiederaufnahme der Unterhaltung den Eindruck seiner Gründe abzuschwächen; deshalb entfernte er sich schnellen Schrittes, den Pächter mit den widersprechendsten Empfindungen im Herzen zurücklassend.

Den Presbyterianern war es immer zweifelhaft, bis wie weit sie gehalten seien, sich den Gesetzen einer Regierung zu unterwerfen, die es umgangen habe, ihren feierlichen Religionsbund anzuerkennen als sie die heimische Gewalt vernichtete. Die verschiedenen kleinen Sekten, die sich im Laufe der Jahre von dem Hauptstamm abgezweigt hatten, wichen gerade in diesem Punkte wesentlich voneinander ab. David Deans gehörte zu den starren Presbyterianern, denen es als unvereinbar mit der göttlichen Lehre galt, vor Gericht Zeugnis wider einen Mitmenschen abzulegen, und jetzt sah er sich den mächtigsten Beweggründen gegenüber, seine ältere Tochter zu einem solchen zu bestimmen! In der Tiefe seines Herzens erhob sich die Stimme der Natur gegen die Vorschriften fanatischer Starrgläubigkeit, und um ihn vor dieser Scylla, die ihm mit dem Sturze seiner Grundsätze drohte, und jener Charybdis, die ihm sein Kind auf dem Schafotte zeigte, zu retten, zeigte ihm seine in Lösung polemischer Schwierigkeiten wohlgeübte Phantasie einen rettenden Ausweg. Ohne sich daran zu kehren, daß es im Grunde nur künstlicher Selbstbetrug war, was ihm über das Dilemma hinweghalf, schlug er den Ausweg ein. »Ich habe meinem Bekenntnis,« philosophierte er, »allzeit treu und redlich angehangen; aber wer möchte mir nachreden, ich hätte meinen Nachbar zu streng gerichtet, weil er sich zu freierer Handlung für berechtigt wähnte als ich mich? Meiner Tochter Jeanie kann eine Erleuchtung geworden sein, für die meine Augen schon zu schwach waren, sie wahrzunehmen. Darum sei die Entscheidung ihrem, nicht meinem Gewissen anheimgegeben. Hält sie es für vereinbar mit ihren Grundsätzen, sich dem Gerichte zu stellen und für die Arme, die im Gefängnisse schmachtet, die Hand zum Zeugnis zu erheben, so will ich es ihr nicht wehren und ihr nicht nachreden, sie wandle auf unrechtem Wege. Meint sie aber,« – hier hielt er in seinem Räsonnement inne – und ein heftiges Zittern erschütterte seinen Körper – »meint sie aber, sie könne es nicht, sie dürfe es nicht, dann sei Gott davor, es sie zu heißen und in geistige Verdammnis zu stürzen. Nein! es sei ferne von mir, meines ältern Kindes zartes Gewissen zu verletzen, um auf solche Weise meines jüngern Kindes Leben zu retten!«

Siebzehntes Kapitel

Mit diesem Entschlusse nahte sich David Deans festen Schrittes der Kammer, die ehedem beiden Schwestern als Schlafstätte gedient hatte. Effies Bett stand noch darin, und seine Augen fielen, als er den Fuß über die Schwelle setzte, unwillkürlich darauf. Die schmerzvollen Erinnerungen, die jetzt auf ihn einstürmten, beraubten ihn fast der Sprache. Indessen sollte die Beschäftigung, über der er seine ältere Tochter traf, ihm sein Vorhaben erleichtern: er fand sie nämlich mit einem Papier in der Hand, in dessen Lesung sie vertieft und das nichts anderes war als die gerichtliche Vorladung, von welcher Middleburgh ihm gesagt hatte, und die dieser, während er mit dem Vater gesprochen, der Tochter durch einen Fron hatte behändigen lassen. Dieser Umstand kam ihm jetzt zu statten, denn er sparte ihm jede peinliche Auseinandersetzung. »Ich sehe,« beschränkte er sich deshalb zu sagen, »daß Du schon weißt, um was es sich handelt.« Aber er sprach die wenigen Worte mit dumpfer, zitternder Stimme.

»Vater,« wehklagte Jeanie, »zwischen welch grausame Gesetze menschlicher und göttlicher Herkunft sind wir gestellt! Wie sollen, wie dürfen wir uns verhalten?«

Ihre Unruhe rührte aber nicht, wie beim Vater, aus dem Zweifel, ob ihr Gewissen es zulasse, vor Gericht zu erscheinen, so oft auch diese Frage von Glaubensgenossen ihres Vaters in ihrer Gegenwart erörtert worden war, sondern weil sie, der Unterredung gedenkend, die sie bei den Muschatsteinen mit dem Unbekannten gehabt, vor der grausamen Entscheidung stand, ob sie ihre Schwester durch einen Meineid retten solle oder nicht. Und dieser Zweifel erfüllte sie so ganz, daß sie des Vaters Worte: »Ich sehe, Du weißt schon, um was es sich handelt,« auf den ihr so heimlich und doch so eindringlich gegebenen Rat bezog. Mit erschrecktem Blicke sah sie zu ihm auf, und was der Vater weiter sagte, war, so weit sie sie es wenigstens deuten konnte, nicht danach beschaffen, sie zu beruhigen.

»Jeanie, ich habe immer die Meinung vertreten,« sagte er, »daß in zweifelhaften, einander widerstrebenden Fragen jeder Christ sein eigenes Gewissen zum Wegweiser nehmen solle. Geh also mit Dir selbst zu Rate, prüfe Dein Gemüt, und wenn Du das Rechte gefunden zu haben meinst, so handle.«

»Vater,« antwortete Jeanie, vor dem Sinn erschreckend, den im Augenblick diese Worte für sie hatten, »kann es hierbei einen Zweifel geben? Wie lautet das achte Gebot? Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten!«

David Deans schwieg. Aber auch er paßte ihre Worte seinen Gedanken an, und da wollte es ihm scheinen, als sei sie als Weib, als Schwester, zu so strengen Bedenklichkeiten nicht befugt, nachdem doch er, als in diesen schweren Prüfungen einer so verhängnisvollen Zeit wohlerfahrener Mann, ihr den Wink gegeben hatte, den natürlichen Gefühlen ihres Herzens zu folgen. Indessen hielt er fest an dem Entschlüsse, die Entscheidung allein ihr zu überlassen, aber als seine Augen wieder das Bett trafen, worin sein jüngstes Kind so oft im süßen Schlummer gelegen, da trat ihm die holde Gestalt, die er von klein auf heranwachsen gesehen, so lebendig vor die Seele, daß ihm fast unbewußt Worte entschlüpften, deren Sinn nur erklärlich wurde, wenn man sie auf Vaterliebe zurückführte.

»Jeanie,« sagte er, »daß Dein Pfad immer frei bleiben wird von jeder Gefahr, zu straucheln, läßt sich nicht annehmen. In solchem Falle stehen wir jetzt. Freilich gilt es ja vielen als Sünde an sich, Zeugnis abzulegen, und ich selbst habe diesen Standpunkt immer eifrig vertreten. Aber ich meine, wie es überall im Leben Ausnahmen gibt, so auch hierbei, und zwar in Fällen der Blutsverwandtschaft. Indessen sei es durchaus ferne von mir, in Dich hineinzureden, Kind, denn ich spüre recht wohl, daß mir die irdischen Gelüste noch immer sehr anhaften und mich zu beirren drohen. Aber, Jeanie...« und hier nahm seine Stimme, ihren harten Klang verlierend, eine fast wehmütige Färbung an, »Wenn es Dir möglich ist, mit Gott und Deinem Gewissen zu sprechen... für dies arme, unglückliche Geschöpf, das von Deinem Blute ist, das die Tochter einer Heiligen ist, die schon im Himmel weilt, aber, so lange sie hienieden weilte, auch an Dir Mutterstelle vertrat. Jeanie, wenn es Dein Gewissen erlaubt, für sie vor Gericht zu zeugen, dann tue es, aus schwesterlicher Liebe, aber wenn es nicht an dem ist, es Dein Gewissen Dir nicht erlaubt, dann laß Dich nicht beirren, Jeanie, auch durch mich nicht, dann ... dann ... laß Gottes Willen geschehen!«

Schnell verließ er die Kammer und ließ die Tochter in tiefstem Kummer und heftigster Bestürzung zurück.

»Waren das wirklich Worte aus Vaters Munde?« rief sie, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, »oder hat der böse Feind sich in seine Gestalt gesteckt und seine Stimme angenommen, um mir verderblichen Rat, der die Seele tötet, zu geben? Meiner Schwester Leben in der einen, des Vaters Weisung, wie es zu retten, in der andern Schale der Wage. Gott im Himmel, leih mir Deinen Beistand in dieser furchtbaren Versuchung, und erleuchte mich!«

Achtzehntes Kapitel

Das doppelte Spiel, das Ratcliffe bei dem Versuche, Robertson zu fangen, gespielt hatte, sollte ihm kein Hindernis werden für seine Anstellung als Beifron und Schließer, so wenig sich das auch mit seinem früheren Leben vertrug, denn er war jahrelang der schlimmste Dieb und Straßenräuber von ganz Schottland gewesen; aber Sharpitlaw war sein Fürsprecher bei dem Edinburger Magistrate, und der Umstand, daß er das Gefängnis nicht verlassen, als es der Pöbel gesprengt hatte, sprach erheblich zu seinen Gunsten.

Ratcliffe wurde, kaum im Besitze seines neuen Postens, von Saddletree und anderen bestürmt, eine Zusammenkunft der beiden Schwestern zu vermitteln. Der Magistrat hatte aber, in der Hoffnung, über Robertson schließlich doch noch etwas zu erfahren, wenn die Schwestern nicht zueinander gelassen würden, gegenteilige Weisung erteilt; Jeanie konnte indessen weiter nichts über Robertson aussagen, als sie bisher getan, und Effie hüllte sich in Schweigen, selbst als man ihr eine beträchtliche Strafmilderung zusagte, wenn sie aussagen wollte, was ihr über Robertson bekannt sein; als man ihr ernstlich deshalb zusetzte, ließ sie es nicht bei Tränen bewenden, sondern gab oft, um weitere Fragen abzuschneiden, heftige, unwirsche Antworten. Die Verhandlung war von einer Woche zur andern verschoben worden, immer in der Erwartung, Effie werde sich noch verstehen zu Aussagen, die Robertson in die Hände der Obrigkeit lieferten; als man aber sah, daß sie bei ihrem Eigensinn verharrte, riß dem Magistrat die Geduld, und der Verhandlungstag wurde festgesetzt. Jetzt erst erinnerte sich Sharpitlaw des Versprechens, das er Effie gegeben, die Schwester zu ihr zu führen; vielleicht tat er es auch nur, weil er sich vor Frau Saddletree nicht mehr sehen lassen durfte, die ihm jedesmal die heidnische Grausamkeit vorwarf, zwei gebrochene Herzen in so schweren Kummer zu setzen dadurch, daß man ihnen beharrlich jede Zusammenkunft und Aussprache verweigere; kurz: Jeanie bekam endlich die Nachricht, daß sie die Schwester besuchen dürfe, aber erst am Tage vor dem für die Hauptverhandlung festgesetzten Termine.

Um zwölf Uhr mittags machte sie sich auf den Weg zur Stadt, um die bezeichnete Stunde nicht zu versäumen. O, mit welch schwerem Herzen! und doch war dies nur ein Teil des bitteren Kelches, den sie leeren sollte um anderer Torheit und Vergehens halber.

Ratcliffe führte sie in die Zelle. Als er die dreifach versicherte Tür aufschloß, scheute der Schamlose sich nicht, sie mit grinsendem Gesicht zu fragen, ob sie sich seiner noch entsänne? Jeanies Antwort war ein schüchternes, zaghaftes Nein.

»Was? die Mondnacht an den Muschatsteinen sollten Sie vergessen haben, in der Sie Kliff nach Rob fragte?« rief er, noch immer grinsend; »da muß ich doch wohl Ihr Gedächtnis ein bißchen auffrischen?«

Wenn Jeanies Schmerz um das Schicksal der Schwester noch nicht den höchsten Punkt erreicht hatte, so mußte der Schreck darüber, sie der Gewalt dieses Schurken überantwortet zu sehen, ihn dahin führen. Und doch war Ratcliffe der Schlimmste noch nicht, dem die Arme in die Hände hätte fallen können! Zu denjenigen, die von Natur grausam sind und vor Blutvergießen nicht zurückschrecken, hatte Ratcliffe niemals gehört, und in dem Amte, das ihm ein günstiges Schicksal zugewiesen, ließ er es den Gefangenen gegenüber an Mitgefühl nicht fehlen, ja, wo es anging, erleichterte er, wenn er auch eine rauhe Außenseite behielt, ihre Lage nach besten Kräften, sorgte auch für gute und reichliche Ernährung. Aber Jeanie konnte natürlich den Mann nur nach dem Auftritt bei den Muschatsteinen beurteilen, und die Erinnerung daran ließ sie, und nicht mit Unrecht, das Schlimmste für die Schwester befürchten. Sie fand kaum den Mut, ihm zu sagen, daß sie vom Ratsherrn Middleburgh Bescheid bekommen habe, es sei ihr eine Zusammenkunft mit ihrer Schwester bewilligt worden.

»Ich weiß das schon, Kind,« antwortete Ratcliffe, »und habe auch Befehl bekommen, dabei anwesend zu bleiben.«

»Muß das sein?« erwiderte flehentlich Jeanie.

»Was kann's denn schaden?« erwiderte Ratcliffe, »ich höre ein paar Mädel immer gern zusammen plaudern, wenn sich auch die Meinung, die ich von dem Weibsvolk habe, dadurch nicht ändern wird. Und wenn ihr nicht grade von dem Sturme auf den alten Kasten hier redet, so könnt ihr sagen, was ihr wollt; mich soll's nicht weiter anfechten, und euch zum Schaden will ich's auch nicht nützen.«

Darauf führte er sie in die Zelle, in welcher Effie untergebracht war.

»Jeanie, liebe gute Jeanie,« rief ihr Effie, die den ganzen Tag zwischen Furcht, Scham und Schmerz geschwankt hatte, entgegen; die Freude aber, als die Tür sich öffnete, ließ sich nicht zurückhalten. »Jeanie, liebe gute Jeanie! wie lange habe ich Dich nicht mehr gesehen!«

Jeanie umarmte die Schwester mit einer Innigkeit, die fast an Jubel grenzte, aber es war doch nur eine flüchtige Erscheinung, gleich dem Sonnenstrahl, der durch Gewitterwolken bricht, um gleich wieder in Nacht zu versinken. Sie setzten sich nebeneinander auf das Strohlager, das Effie als Bett diente, hielten sich umschlungen und sahen sich lange, stumm und weinend, an. Selbst Ratcliffe konnte sich der Rührung nicht verschließen; sein Mitgefühl verriet sich durch eine an sich geringfügige Handlung, durch die er aber einen größeren Zartsinn bekundete, als sein Charakter hätte erwarten lassen. Das durch ein dichtes Gitter verschlossene Fenster stand offen, so daß das Licht die beiden Schwestern traf, und leise, fast ehrerbietig, ging er hin und klappte den Laden zu, wie wenn er die schmerzliche Szene durch einen Schleier verdecken wollte.

»Effie, Du bist krank,« waren die ersten Worte, die Jeanie über die Lippen zu bringen vermochte, »sehr krank!«

»Ach, was gäbe ich drum,« antwortete Effie, »wenn ich noch zehnmal kränker wäre, wenn ich tot und kalt daläge, ehe es wieder Morgen würde! Und der Vater? Aber ich bin ja sein Kind nicht mehr. Jeanie, Jeanie! Ich habe keinen Freund auf der Welt! Ach, läge ich doch draußen auf dem Friedhofe neben meiner Mutter!«

»Reden Sie doch nicht so, Fräulein!« sagte Ratcliffe, »es hat schon manches Wild schußrecht gestanden, ohne getroffen zu werden, und mancher Advokat hat manchen durchgebracht, der weit Böseres auf dem Kerbholz hatte, und den Sie haben, Fräulein, der Nichil Novit, der versteht's auch, den schlimmsten Fall zu wenden. Wer mit solchem Verteidiger versorgt ist, kann schon halb am Stricke baumeln und kommt doch davon. So ein feines Ding wie Sie, braucht sich ja nur ein bißchen herauszuputzen, und welchem Richter möchte es dann beikommen, ihr nur ein Härchen zu krümmen? Mit solchem alten Kerl wie mir, ist's freilich was anders, der muß dran glauben, wenn er auch nur einen Floh geknickt hat!«

Diese seltsamen Trostesworte blieben ohne Antwort, denn die Schwestern waren so vertieft in ihren Schmerz, daß sie sich der Anwesenheit Ratcliffes kaum bewußt waren.

»Ach, Effie, Effie! Warum mußtest Du mir Deinen Zustand verheimlichen? Hab ich das um Dich verdient? Wenn Du mir bloß ein einziges Wort gesagt hättest, dann wäre all dieser Jammer nicht über uns gekommen!«

»Was hätte dadurch wieder gut werden können, Jeanie?« versetzte die Gefangene; »nein, Jeanie, nein! es war alles aus und vorbei, als ich meines Versprechens vergaß und des Blattes, das ich zum Zeichen dafür in die Bibel legte. Da, sieh!« fuhr sie fort, nach dem heiligen Buch greifend, »die Stelle schlägt sich von selbst auf, mir mein schreckliches Urteil zu künden. O, Jeanie, ein schrecklicher Spruch!«

Jeanie nahm das Buch auf und fand die Stelle im Buche Hiob: »Er hat meine Ehre mir ausgezogen und die Krone von meinem Haupte genommen. Er hat mich zerbrochen um und um und läßt mich gehen und hat ausgerissen meine Hoffnung wie einen Baum. Sein Zorn ist über mich ergrimmet, und er achtet mich für seinen Feind.«

»Und ist der Spruch nicht wahr? Trifft er mich nicht zu recht?« klagte Effie. »Ist mir die Krone nicht vom Haupte genommen? Ist mir nicht meine Ehre geraubt? Und was bin ich anders denn ein armer, vertrockneter Baum, an der Wurzel verdorben und achtlos hinausgeworfen auf die Landstraße, daß Menschen und Tiere ihn mit Füßen treten? Ach, als der Vater den kleinen Dornbusch aus unserm Garten riß und auf den Hof hinauswarf, wo er zertreten wurde, das hübsche grüne Ding mit allen seinen Blüten, da hab ich nicht gedacht, daß es mit mir einmal auch so kommen würde!«

»O, hättest Du mir doch nur ein einziges Wort gesagt, Effie,« klagte Jeanie, »daß ich für Dich zeugen könnte, dann könnte Dir niemand ans Leben!«

»Und Du kannst es nicht?« fragte Effie, und in ihrer Stimme klang es wie ein stiller Vorwurf denn das Leben bleibt dem Menschen auch dann lieb und wert, wenn es ihm als Bürde erscheint. »Jeanie, wer hat Dir das gesagt?«

»Einer, der recht gut gewußt hat, was er sprach,« antwortete Jeanie, ausweichend.

»Wer? Sage es mir, Jeanie!« rief Effie aufspringend, »ich beschwöre Dich, Jeanie! Wer konnte solchen Anteil nehmen an mir, die doch verstoßen und verlassen ist? War es ... o, war es...«

»Ei,« sagte Ratcliffe, »wozu quälen Sie die Arme so? Ich wette, es ist kein anderer gewesen als Robertson, und damals bei den Muschatsteinen hat er's Ihnen gesagt!«

»War er's?« rief Effie, noch dringlicher als zuvor, »Jeanie, war er's? war er's wirklich? Ja, er war's! er war's! Der Arme! Und wie schwer mag es ihm dabei um sein Herz gewesen sein! und dabei selbst in so schlimmer Gefahr, der arme Georg!«

»Effie,« rief Jeanie, fast unwillig: »Wie kannst Du von solchem Menschen so reden?« »Sollen wir denn unsern Feinden nicht vergeben?« sagte Effie, doch mit scheuem Blick und gedämpfter Stimme, denn ihr Gewissen flüsterte ihr zu, daß es doch andere Gefühle als christlicher Liebe seien, mit denen sie ihres Verführers gedachte, und daß es sündhaft von ihr sei, sie mit solchem Mantel zu decken.

»Und trotz allem, was Du seinetwegen gelitten, hängst Du ihm noch mit Liebe an?« fragte Jeanie.

»Ihm anhängen, mit Liebe?« wiederholte Effie; »hätte ich ihn nicht geliebt, wie selten ein Weib liebt, so säße ich nicht jetzt hier, hinter Schloß und Riegel, und solche Liebe, wähnst Du, lasse sich vergessen? Nein, Jeanie, ein Baum läßt sich umhauen, aber nicht biegen. Willst Du mir was zu liebe tun, Jeanie, dann sage mir, was er Dir sagte, und ob ihm die arme Effie leid tut oder nicht?«

»Was kann es helfen, darüber zu sprechen, Effie?« erwiderte Jeanie, »er hatte doch wahrlich genug mit sich zu tun, als daß er sich viel um andere hätte kümmern sollen.«

»Das ist nicht wahr, Jeanie, und wenn es eine Heilige redete,« rief Effie, und ihr altes heftiges Temperament kam zum Durchbruch; »Du kannst ja auch nicht wissen, wie ich, welcher Gefahr er sein Leben aussetzte, bloß um das meinige zu retten.« Da fiel ihr Blick auf Ratcliffe, und sie brach jäh ab.

»Das Mädel scheint sich, weiß, Gott! einzubilden,« rief Ratcliffe, wie vorhin grinsend, »es habe kein anderer Mensch Augen im Kopfe als sie! Hab ich den seinen Jungen nicht gesehen, wie er dabei war, ganz andre Leute als den Porteous aus dem Kasten zu holen? Brauchst mich gar so verwundert nicht anzustieren, Mädel,« rief er, »ich weiß noch ganz andre Dinge!«

»Gott, mein Gott!« schrie Effie und warf sich ihm zu Füßen, »so wißt Ihr auch, wo sie mein Kind haben, die Ruchlosen? Mein Kind, o Gott! mein Kind! das arme, unschuldige, hilflose Wesen! Fleisch von meinem Fleische, Blut von meinem Blute! O, wenn Ihr noch Anspruch erhebt auf himmlische Gnade, wenn Ihr den Segen eines unglücklichen Wesens nicht mißachtet, dann sagt mir, Mann, was aus meinem Kinde geworden! wohin sie das Zeichen meiner Schande, das Wesen, das teilnahm an meinem Schmerz, an meinen Wehen, gebracht haben? Sagt es mir, wer es mir genommen hat, und was aus ihm geworden ist!«

»Nicht so stürmisch, Mädel,« rief der Schließer, indem er sich von den Händen freizumachen suchte, die ihn umklammert hielten, »nach so was mußt Du mich nicht fragen, sondern die Grete Murdockson, wenn Du es nicht schon selber weißt!«

Die Unglückliche, so jäh wieder aus ihrem wilden Hoffen gerissen, ließ die Hände von ihm und schlug, von Krämpfen geschüttelt, auf den Boden. Jeanie, die auch beim schwersten Herzeleid ihre klare Einsicht nicht verlor, die sich, so schwere Schläge sie auch trafen, nie übermannen ließ, widmete der Schwester auf der Stelle die liebevollste Pflege, während Ratcliffe rücksichtsvoll genug war, sich in den entlegensten Winkel zurückzuziehen. Effie erholte sich aber verhältnismäßig schnell und beschwor, sobald sie die Fähigkeit zur Sprache wiedergewonnen, Jeanie so ungestüm, ihr alles von der Zusammenkunft mit Robertson zu erzählen, daß Jeanie ihr nicht länger widerstehen konnte.

»Besinnst Du Dich noch, Effie,« sagte sie, »wie böse damals Deine Mutter war, als Du krank zu Bett lagst und ich Dir Milch gab, weil Du Durst hattest und weinend danach verlangtest? Damals warst Du noch Kind; jetzt aber, als erwachsenes Mädchen, solltest Du doch nicht nach Dingen begehren, die Dir schaden . Aber mag nun Gutes oder Böses daraus kommen, ich kann Dir auch heute noch nicht abschlagen, um was Du mich mit Tränen in den Augen bittest.«

Effie umschlang sie, küßte sie und flüsterte: »Ach, wüßtest Du, wie lange ich seinen Namen nicht mehr hörte, und wie wohl es mir tun wird, etwas von ihm zu hören, was mir von seiner Liebe und Güte erzählt. Ach, Jeanie, Du kannst es nicht fassen, wie sehr ich mich danach sehne.«

Tief aufzeufzend berichtete nun Jeanie, sich so kurz fassend, wie möglich, von dem Auftritte, der sich zwischen Robertson und ihr abgespielt hatte. Die Schwester lauschte ihr mit verhaltenem Atem, keinen Blick von ihr wendend, ihr die Worte förmlich vom Munde lesend. »Armer Mensch! Armer Georg!« waren die einzigen Ausrufe, mit denen sie, an besonders zum Herzen gehenden Stellen, die Erzählung unterbrach.

»So? Und dazu hat er geraten?« fragte sie, als Jeanie zu Ende war.

Jeanie nickte.

»Und er hat Dich aufgefordert, dort etwas auszusagen, was mein junges Leben retten, könnte?«

»Ich solle einen Meineid schwören, verlangte er von mir.«

»Und Du hast ihm drauf geantwortet, daß Du nichts davon wissen möchtest, Dich zwischen mich und den Tod zu stellen, den ich leiden müsse, und bin noch keine achtzehn Jahr?«

»Ich habe ihm gesagt, was ich ihm sagen mußte,« erwiderte Jeanie, geängstigt durch diese bittre Entgegnung Effies, »daß ich nicht wahr machen könne, was unwahr sei.«

»Was nennst Du unwahr?« rief Effie, wiederum in einer Anwandlung ihres früheren Temperaments, »Du kannst doch nicht glauben, Mädchen, daß eine Mutter ihr eignes Kind morden könne? Jeanie, ich und morden? mein Kind morden? Das Leben hätte ich dran gesetzt, ein Blinken seines Auges zu sehen!«

»Daß Du an solcher Tat so unschuldig bist wie das neugeborne Wesen selbst,« sagte Jeanie, »glaube ich, auch ohne daß Du es versicherst.«

»Daß Du mir soviel Gerechtigkeit antust, Jeanie,« versetzte Effie stolz, »erfüllt mich mit Freude, Menschen von Deiner exemplarischen Frömmigkeit verfallen gern in den Fehler, ihre Mitmenschen aller Sünde für fähig zu halten.«

»Schwester, solche Worte habe ich nicht von Dir verdient und nicht erwartet,« erwiderte Jeanie, schluchzend vor Schmerz, obwohl sie Effies Gemütszustande mitleidsvoll viel von der Ungerechtigkeit des Vorwurfs zu gute rechnete.

»Mag sein, Schwester,« erwiderte Effie; »aber Du bist mir böse, weil ich Robertson liebe, und doch, Jeanie! wie sollte ich ihn nicht lieben, dem ich doch mehr bin als Leben und Seligkeit? Hat er nicht eben erst, um mich zu befreien, sein Leben gewagt, indem er den Sturm auf das Gefängnis unternahm? Ach, wäre er an Deiner Stelle, dann weiß ich.« Aber sie brach ab und blickte stumm vor sich hin.

»Effie, müßte ich bloß mein Leben wagen, Dich zu retten!« erwiderte Jeanie.

»Leicht gesagt, Jeanie,« rief Effie, »aber wer soll's Dir glauben, da Dir schon ein Wort für mich zuviel ist? Und mag das Wort wirklich unrechter Art sein, das Leben währt doch lange genug, um zu bereuen.«

»Solch unrechtes Wort, Effie, ist aber eine schwere Sünde, und um so schwerer, als sie mit Bedacht verübt wurde!«

»Es ist gut, Jeanie,« sagte Effie, »reden wir nicht weiter davon. Ich dachte nur, allzu stolzes Vorurteil sei auch eine Sünde? Aber spare Dir den Atem für den Katechismus; ich werde ja bald keinen mehr zu verschwenden haben, Schwester!«

»Mir will's aber auch nicht gefallen, das muß ich sagen,« bemerkte Ratcliffe, »daß ein Mädel soviel Lärm macht um lumpiger drei Worte willen, wenn ihrer Schwester damit geholfen weiden kann. Da hab ich's nicht so genau genommen, und wenn man mein Wort gelten ließe, mir sollt's nicht drauf ankommen, Zeugnis für das arme Ding abzulegen. Hab ich doch in England um einer Pulle Schnaps willen zu fünf verschiedenen Malen an der Bibel geleckt.«

»Seid ruhig, Schließer,« rief Effie, »kein Wort mehr! Es ist gut so, wie es ist. Leb Wohl, Schwester! Wir halten den Mann zu lange auf. Du siehst ja, daß er wartet. Einmal sehe ich Dich wohl noch, bevor.«

Sie stockte, und Todesblässe färbte ihr Gesicht.

»Effie, und so sollen wir scheiden? Du, angesichts Deiner letzten Stunden, und, Effie, sieh mich an und sprich, was Du von mir begehrst. Ach, mir ist, als müßte ich versuchen, alles zu tun, selbst was mir als schwere Sünde erscheint.«

»Nein, Jeanie! Nein!« antwortete Effie, doch hörte man, wie schwer es ihr fiel – »ich bin jetzt ruhiger und gefaßter, und bei besserer Einsicht, ich war ja nie auch nur halb so gut wie Du, Schwester; warum solltest Du sündigen um meinetwillen? Nein, nein! Du sollst es nicht, niemand soll es, um mich zu retten! Ich hätte in jener schlimmen Nacht aus dem Gefängnisse fliehen können mit jemand, der mit mir durch die ganze Welt gegangen wäre, der mich geliebt und beschirmt hätte als sein zweites Ich! Aber ich sagte ihm, als er mich zur Flucht aufforderte: Besser, auch das Leben geht dahin, nachdem Ruf und Ehre hin sind! Die lange Gefangenschaft hat mir allen Mut, alles Vertrauen genommen; es kommen Augenblicke über mich, in denen ich verzweifeln könnte. O, Schwester, dann wird mir zu Mute, wie damals, als ich zu Hause im Fieber lag, aber nicht mehr feurige Augen von Wölfen sind es, die mich umschwirren, auch keine von den Bullenbeißern der alten Butlern, sondern ein hohes, schwarzes Gerüst steigt vor mich auf, und greuliche Kerle führen mich hinauf, und tausend Augen stieren mich an, und tausend Stimmen fragen dumpf, ob es auch wirklich die Effie sei vom alten Deans, die Georg Robertson seine Lilie von Sankt-Leonard genannt habe? Und dann grinsen sie mich an, und aus allen Ecken und Winkeln stiert mich ihr Gesicht an, der alten Zigeunerin Gesicht, der Murdockson ihr Gesicht, und ganz so, wie es aussah in jenem schrecklichen Augenblick, als sie mir sagte, ich hätte mein Kind zum letzten Male gesehen. Jeanie, Jeanie! jage sie weg; sie hat ein zu gräßliches Gesicht!« und als könne sie den Anblick nicht länger ertragen, schlug sie die Hände vor die Augen.

Noch ein paar Stunden verweilte Jeanie bei der Schwester, eifrig auf ihre Reden achtend, noch immer hoffend, etwas daraus entnehmen zu können, was sie entsühnen würde. Aber Effie hatte nichts weiter zu sagen, als was sie schon bei den Verhören gesagt hatte, »man will mir nicht glauben,« schloß sie, »aber ich weiß weiter nichts!«

Ratcliffe hatte lange gezögert, den Schwestern zu sagen, daß die Trennungsstunde für sie geschlagen habe; daß die beiden Anwälte, Novit und Langtale, mit der Gefangenen noch einmal reden müßten, und daß besonders Langtale drauf brenne, in die Zelle gefühlt zu werden, denn er wäre immer schnell bei der Hand, wenn es »was Hübsches« zu sehen gäbe, ob im Stockhause oder wo anders.

Noch manche Träne floß, und die Umarmungen wollten kein Ende nehmen; aber endlich mußte Jeanie den Fuß wieder über die Schwelle der unheimlichen Stätte zurücksetzen; und gleich darauf hörte sie die Riegel knarren, die sie von der teuren Schwester schieden. Die Art, wie Ratcliffe sich jetzt benommen, hatte sie halb und halb mit ihm ausgesöhnt; aber sie erstaunte trotzdem nicht wenig, als er das Trinkgeld, das sie ihm reichen wollte, ausschlug; auch als sie sagte, daß er es, wenn er es nicht für sich nehmen wolle, zur Erleichterung von Effies Lage verwenden solle; er wäre, sagte er, kein Unmensch gewesen, als er noch auf bösen Wegen wandelte, und seit er hier sei, tue er gern, was recht und vernünftig sei. »Behalten Sie nur Ihr Geld,« sagte er, »was in meiner Macht steht, tue ich schon für die Arme, aber ich denke, auch Sie werden sich noch einmal überlegen, ob Sie tun wollen, was sie von Ihnen erbat, und wenn ich meine Meinung sagen darf, so dürften Sie, wenn Sie dem Gericht eine Nase drehten, weder vor der Welt noch vor sich selbst an Ansehen einbüßen. Aber, gleichviel, machen Sie das, wie es Ihnen selbst am richtigsten erscheint. Ich werde zusehen, ihr nach Tisch ein bißchen Schlaf zu besorgen; denn in der Nacht, das kenne ich, schließt sie kein Auge. In der Nacht vorm Urteilsspruch tut niemand ein Auge zu; aber in der letzten Nacht, bevor's zum Galgen geht, schläft jeder wie 'ne Ratte, und das erklärt sich auch, denn das Schlimmste nimmt ein anderes Gesicht an, wenn man weiß, wie es damit wird. Und ich hab's immer gesagt: Lieber herunter mit dem Finger, als ihn an der Hand behalten, wenn er wackelig wird.«

Neunzehntes Kapitel

David Deans hatte fast den ganzen Morgen des Verhandlungstages in Andacht und Gebet verbracht, denn seine freundlichen Nachbarn hatten ihm heute die Feldarbeit abgenommen, und er trat, wunderbar gestärkt, zur Frühstücksstunde in seine Stube, getraute sich aber nicht, seine Tochter anzusehen, weil er ungewiß war, ob auch sie mit ihrem Gewissen ins reine gekommen sei. Unwillkürlich schlug er die Augen nieder; aber es hielt ihn nicht lange; eine heimliche Macht zog seinen Blick auf das Kleid, das sie angezogen hatte, aber auch daran konnte er nicht sehen, ob sie gewillt sei, den Gang aufs Gericht zu machen oder nicht, denn sie hatte wohl ein anderes, aber nicht ihr eigentliches Sonntagskleid an; ihr gesunder Sinn sagte ihr, es zieme sich wohl, bei solcher Gelegenheit anständig und sauber zu erscheinen, aber ebenso auch, allen Putz und Staat zu vermeiden, den sie zum Kirchgang oder zu Festtagen anzulegen gewohnt war.

Das bescheidene Essen, das sie herrichtete, wanderte wieder vom Tische, wie es aufgetragen worden war. Vater und Tochter stellten sich wohl so, als nähmen sie ein paar Bissen zu sich, wenn ihre Blicke einander trafen, konnten aber vor Aufregung weder Speise noch Trank genießen.

Endlich gingen auch diese Augenblicke gegenseitigen Zwanges vorüber. Vom Giles-Turme herüber dröhnte dumpf der Schlag der letzten Stunde vor dem Beginn der Hauptverhandlung. Jeanie nahm ihr Plaid um und traf die für längere Abwesenheit von Hause notwendigen Maßregeln. Ihre Ruhe und Sicherheit standen in auffälligem Gegensatze zu der nervösen Unruhe des sonst so pedantischen Vaters. Wer beide nicht kannte, hätte in Jeanie kaum ein schlichtes, gutmütiges, fügsames Landkind, noch weniger aber in Deans einen starren, strengen, unduldsamen Presbyterianer der alten Richtung vermutet. Das Mädchen aber war mit ihrem Gewissen im reinen; sie wußte, was ihr oblag; ihr schlichter, gläubiger Sinn hatte das Rechte gefunden und alle Folgen ihres Tuns ermessen. Der Vater dagegen, in Unkenntnis vieler näheren Umstände, stand unter dem Eindruck quälender Zweifel, was Jeanie tun und von welchen Folgen ihr Verhalten vor Gericht für sein anderes Kind sein, werde. Aengstlich beobachtete er die Tochter, jeden Griff, den sie tat, jeden Schritt, den sie machte, bis sie zuletzt mit einem Blicke bittersten Schmerzes an ihm vorbei und auf die Tür zu schritt. Da rief er ihr nach: »Jeanie, Mädel, Mädel! ich will.« und aus seinem unwirschen Suchen nach den wollnen Handschuhen und dem Stocke konnte sie den unvollendet gebliebenen Satz ergänzen.

»Vater,« sagte sie, abwehrend, »es wäre besser, Du tätest es nicht!«

»Ich will den Weg machen,« sprach er, scheinbar fester, »mit Gottes Hilfe und Beistand.« So schnell zog er den Arm der Tochter unter den seinigen und so schnell ging er einher, daß es ihr schwer wurde, mit ihm Schritt zu halten. Ein Umstand aber, so geringfügig er war, sprach so recht für die Aufregung, die nach wie vor in seinem Gemüt herrschte. »Vater,« sagte Jeanie, »Deine Mütze?« Auch sie hatte im ersten Augenblick nicht bemerkt, daß der Greis barhäuptig war. Ein jähes Rot huschte über sein Gesicht, wie wenn er sich dieser Vergeßlichkeit schämte, und er drehte um, holte die blaue Schottenmütze aus der Stube, nahm wieder den Arm der Tochter, ging aber jetzt ruhiger, langsamer die Straße nach Edinburg entlang.

Zur damaligen Zeit war daß Ständehaus auf dem Parlamentsplatze, damals »Zwinger« genannt, zugleich das Gerichtshaus. Die Verhandlungen wurden, wie auch heute noch, in dem kleinen Viereck der Hauptkirche geführt. Die Stadtwache war bereits aufmarschiert und drängte mit ihren Musketen den Pöbel zurück, der sich hier staute, um die Unglückliche zu sehen, wenn sie aus dem anstoßenden Gefängnis zum Gerichtsgebäude geführt würde, wo das Urteil über sie gefällt werden sollte. Als Deans mit seiner Tochter in Sicht kam, scharten sich sogleich Leute um ihn, die ihn zur Zielscheibe ihres Hohnes machten. Mit erstaunlichem Spürsinn erkennt der gemeine Haufe rasch die Eigentümlichkeit eines Menschen aus seinem äußern Habitus. Es wurden Spottlieder auf die Sekte, der Deans angehörte, angestimmt. Ein Tagelöhner, den Deans, um sich Platz zu schaffen, beiseite schob, fing an zu schimpfen. »Der Teufel! was fällt dem puritanischen Simpel ein, sich an ordentlichen Leuten zu vergreifen?« Ein anderer rief: »Platz für den alten Knaster! Er will's mit ansehen, wie eine barmherzige Schwester zum Himmel fährt!«

Plötzlich aber rief jemand laut und weithin vernehmlich: »Leute, nehmt Vernunft an!« und leiser, aber noch immer deutlich genug, setzte er hinzu: »Es ist der Vater mit der Schwester!« Im Nu war die Bahn für die Unglücklichen frei; selbst der Roheste wurde still und schämte sich. In dem frei gewordenen Räume stand der Greis, den Blick auf die Menge gerichtet, und mit Gebärden, die die heftige Erregung seines Gemüts deutlich genug berieten, sprach er zu der Tochter, die er an der Hand hielt:

»Da siehst und hörst Du, Kind, wem die Gebrechen und Schwächen der Gläubigen beigemessen werden, nicht ihnen allein, sondern der Kirche, deren Glieder auch sie sind, ja, selbst ihrem gesegneten, unsichtbaren Haupte. Laß uns darum mit Ergebung unser Teil an diesem Hohne tragen!«

Kein anderer hatte das Volk zur Ruhe verwiesen, als unser alter Freund Laird Dumbiedike, dem, gleich dem Esel des Propheten, die Dringlichkeit des Falles den Mund geöffnet hatte, und der sich jetzt dem Paare nahte, um es mit der ihm gewohnten Schweigsamkeit in den Gerichtssaal zu führen. Kein Hindernis stellte sich ihnen mehr entgegen, weder seitens der Wache noch seitens der Türsteher; ja es wird erzählt, es sei sogar von einem der letzteren eine Silbermünze, die der Laird, seiner Meinung getreu, daß Geld willig mache, ihm geboten habe, unwirsch zurückgewiesen worden; indessen darf nicht verschwiegen werden, daß es an Bürgschaft für dies Gerücht fehlt.

Der Gerichtssaal zeigte das gewöhnliche Kolorit: die ständige Beamtenschar und die übliche Menge eitler, müßiger Zuschauer. Bürger gafften und gähnten, junge Rechtsbeflissene drückten sich, lachend und kichernd, wie im Theater, in den Gängen und Ecken herum, ältere schwatzten wichtig über den zur Verhandlung stehenden Fall und die für ihn in Betracht kommenden Gesetzesparagraphen. Die Richterbank, um einiges höher als die übrigen Sitze, war schon hergerichtet, die Geschworenen bereits zur Stelle. Die Vertreter der Krone, an einem langen Tische in unmittelbarer Nähe der Richterbank, blätterten unter fortwährendem Geflüster in ihren Akten. Ihnen gegenüber sahen die Verteidiger der Angeklagten. Eine besonders rege Tätigkeit entfaltete der Anwalt des Laird Dumbiedike, Herr Nichil Novit. Ihn fragte David Deans, als er mit Jeanie in den Saal trat, wo »sie« sitzen werde. Novit flüsterte eine Weile mit dem Laird, dann zeigte er auf eine leere Bank vor den Schranken, den Richtern gegenüber, und der Laird stand auf, um Deans dorthin zu führen.

»Nein,« wehrte der Greis, »bei ihr sitzen kann ich nicht, als mein erkennen will ich sie nicht, wenigstens jetzt noch nicht. Sie soll mich nicht sehen, denn ich will meine Augen von ihr abwenden, es ist besser so für uns beide.«

Saddletree, von den Sachwaltern schon mehrere Male mit dem Bedeuten, sich nicht in fremde Dinge zu mischen, zurechtgewiesen, wollte sich die schöne Gelegenheit, einmal den bewanderten Juristen zu spielen, nicht entgehen lassen; wichtigtuerisch trat er auf den Greis zu und besorgte ihm, seine Bekanntschaft mit einem der Frone nützend, einen Stuhl hinter einem vorspringenden Pfeiler, der ihn vor den Blicken der im Saale anwesenden Leute sicherte, auch von der Anklagebank aus nicht gesehen werden konnte, während er Deans den Blick dorthin gestattete. »Es kann einem immer von Nutzen sein, Bekannte bei Gericht zu haben«, sagte Saddletree, »wer weiß, ob Ihnen jemand anders zu solchem Platze verholfen hätte. Nun, die Richter werden gleich kommen, die Verhandlung wird gleich beginnen. Aber, um Himmels willen, was soll denn das bedeuten? Fräulein Jeanie ist doch als Zeugin vorgeladen, Fron, sie muß doch aus dem Verhandlungssaale. Herr Novit, Jeanie Deans muß doch in das Zeugenzimmer verwiesen werden!«

Novit nickte.

»Muß es wirklich sein?« fragte Jeanie, des Vaters Hand ängstlich in der seinen haltend, den Anwalt.

»Gewiß muß es sein,« mischte Saddletree sich ein; »es ist sogar unumgänglich notwendig.« –

»Ja,« sagte jetzt auch Novit, »das Gesetz fordert es.«

Während Jeanie dem Fron ins Zeugenzimmer folgte, suchte Saddletree Zweck und Wichtigkeit der Maßregel mit vielen Worten auseinanderzusetzen, wurde aber durch den Eintritt des Lord-Oberrichters mit den vier Beisitzern, die in ihren langen weißverbrämten Scharlachmänteln von dem Pedell auf ihre Plätze geführt werden, darin gestört.

Alles hatte sich ehrerbietig erhoben; aber kaum war die hierdurch entstandene Unruhe vorüber, als eine neue, heftigere Bewegung am Portale, wie auf den Galerien, die Vorführung der Angeklagten kündete. Gleich darauf wurden die beiden Portal-Flügel, die nach dem Eintritt der Richter wieder geschlossen worden, weit geöffnet, um dem Volke freien Eintritt zu gestatten, und in wilder Hast, einander stoßend und drängend, so daß die Wache kaum einen schmalen Weg für die Angeklagte frei halten konnte, flutete der rohe Haufe in den Saal. Nur mit Aufwendung der größten Mühe gelang es der Wache und den Fronen, der Unglücklichen, der das Urteil über Leben oder Tod gesprochen werden sollte, den Weg zur Anklagebank freizumachen.

Zwanzigstes Kapitel

»Euphemia Deans,« sprach der Oberrichter mit einer Stimme, in der sich Würde und Milde vereinigten, »stehe auf und vernimm die Anklage, die gegen Dich von dem königlichen Gericht geführt wird.«

Die Unglückliche, von dem wilden Lärme um sie her noch ganz betäubt, blickte verstört auf die Menge von Gesichtern, die von der Galerie bis zum Parterre des Saales eine Art lebendigen Teppichs bildeten, und leistete, halb bewußtlos, einem Befehle Folge, der ihr wie die Posaune des jüngsten Gerichts in die Ohren dröhnte. »Macht Euch das Haar aus dem Gesicht!« raunte ihr einer der Frone zu, denn die langen, dichten Locken, die sie mit dem Netz oder Bande, dem Haarschmuck der Jungfrau in Schottland, nicht mehr zu bergen wagte und doch wieder mit der Haube einer verheirateten Frau nicht bedecken durfte, fluteten ihr lose über das Antlitz, die Züge desselben fast verhüllend. Mit hastiger, zitternder Gebärde strich Effie die Locken zurück, der im Saale versammelten Menge, einen einzigen ausgenommen, ein Antlitz zeigend, das, trotz seiner Blässe, trotz all dem Schmerze, so wunderbar lieblich war, daß es einen allgemeinen Schrei des Mitleids und der Teilnahme hervorrief. Von der Unglücklichen schien durch diese Kundgabe von Mitgefühl die starre Furcht genommen zu werden, die bisher dumpf auf ihr gelastet hatte, anderseits aber wurde ihr hierdurch alles Schreckliche ihrer Lage in verstärktem Maße zum Bewußtsein geführt. Niedergedrückt von Scham und Verzweiflung, schlug sie die Augen, die eben noch wild umherrollten, zu Boden; über ihre aschfahlen Wangen flog, sich allmählich verstärkend, zuletzt Hals und Schläfe mit tiefem Purpur bedeckend, eine wilde Röte, die auch nicht schwand, als sie mit den zierlichen und langen, feinen Fingern das Gesicht verdeckte.

Alle sahen tief ergriffen diesen Wechsel der Empfindungen auf ihrem schönen Antlitz, bloß einer nicht, bloß der Vater nicht! Von dem Pfeiler verdeckt, keinem sichtbar, und trotzdem die Augen fest auf den Boden heftend, wie wenn es ihn dränge, sich alle Möglichkeit zu rauben, der Schande seines Hauses Augenzeuge zu werden, saß er da, starr und stumm. »Icabod!« klagte seine Seele, »meine Herrlichkeit ist dahin!«

Während diese Gedanken das Gemüt des Vaters erfüllten, wurde der Tochter die Anklage vorgelesen und die Frage gestellt auf Schuldig oder Nichtschuldig?

»Nichtschuldig am Tode meines armen Kindes,« antwortete Effie in so schmerzzerrissenem Tone, daß ein Beben durch den Gerichtssaal glitt.

Der Lord-Oberrichter richtete nun an die beiden Anwälte die Aufforderung, ihre Beweise für und wider die Anklage vorzutragen. Zuerst nahm der Kronanwalt das Wort und führte aus, daß er sowohl durch Zeugen wie durch das Bekenntnis der Angeklagten beweisen werde, daß dieselbe dem Gesetze verfallen sei: denn erstlich sei die Verheimlichung der Schwangerschaft von der Angeklagten nicht bestritten worden, und zweitens habe sie bekannt, einem Knaben das Leben gegeben zu haben; die dabei von ihr selbst angegeben Umstände ließen es aber als nur allzu glaublich erscheinen, daß das Kind von ihren Händen, oder doch wenigstens mit ihrem Wissen und Willen vom Leben zum Tode gebracht worden sei: es sei zudem nach dem Wortlaute des Gesetzes gar nicht nötig, von dem Morde oder darüber, daß die Angeklagte Kenntnis von einem solchen besessen habe, Beweise zu erbringen; es reiche schon der Umstand, daß das Kind nicht bei ihr gefunden worden sei, vollauf hin, sie der drakonischen, aber unumgänglich notwendigen Strenge des Gesetzes zu unterwerfen, nach welchem die Verheimlichung der Schwangerschaft und die Versäumnis, in der Stunde der Not angemessenen Beistand zu beschaffen, als Bedingungen für vorsätzlichen Mord aufzufassen und als. solcher zu bestrafen seien. Falls mithin die Angeklagte nicht den Beweis erbringen könne, daß ihr Kind noch am Leben oder eines natürlichen Todes gestorben sei, so sei sie dem Gesetz verfallen und müsse den Tod als Mörderin erleiden.

Hierauf nahm der gerichtliche Anwalt der Angeklagten das Wort. Er wolle, führte er aus, seinem Kollegen nicht widersprechen in der Berechtigung, die Zuständigkeit des Gesetzes für den zur Verhandlung stehenden Fall zu fordern, aber er hoffe, durch seine Beweisführung mehrere Umstände aufzudecken, die, den wider seine Klientin erhobenen Anklagen den Boden zu entziehen geeignet seien. Seine Klientin sei in den strengsten Grundsätzen der Religion erzogen worden als Tochter eines würdigen, gewissenhaften Mannes, der in schlimmen Zeiten für seine religiöse Ueberzeugung schwer, aber standhaft gelitten habe.

David Deans zuckte, als er sich derart in die Verhandlung einbezogen sah, krampfhaft zusammen, versank aber gleich wieder, in seine bisherige Starrheit und verhüllte das Gesicht mit den Händen, lauschte aber gespannt jedem weiteren Worte.

Der Anwalt, bemüht, die gute Meinung des Gerichts für sich zu gewinnen, fuhr er fort: »Unsre Ansichten über die Puritaner und ihre Grundsätze mögen noch so ungünstig sein« – hier seufzte Deans schwer – »so wird ihnen doch niemand absprechen wollen, daß sie sich einer gesunden, ja strengen Moral befleißigen, auch das weitere Verdienst wird ihnen jeder lassen müssen, daß sie ihre Kinder in der rechten Gottesfurcht erziehen. Und doch ist es gerade die Tochter eines solchen Mannes, die man, auf Vermutungen hin, ohne sichre Beweise, eines Verbrechens anklagt, das sich wohl von einer Heidin, nicht aber einer gläubigen Christin erwarten läßt. Freilich muß zugegeben werden,« fuhr er nach einer kurzen Pause, mit verstärkter Ueberzeugungsgewalt, fort: »daß alle Strenge der Erziehung die Angeklagte nicht vor Fallstricken und Irrwegen hat bewahren können; aber sie ist doch nur einer unbedachtsamen Neigung zum Opfer gefallen, der Neigung zu einem jungen Menschen, der, wie ich ermittelt habe, zwar einen sehr häßlichen, ja gefährlichen Charakter besitzt, aber – was zur Entschuldigung der Angeklagten nicht ungesagt bleiben darf, – ein Mann von seltener Schönheit, dabei höchst einnehmendem Wesen ist. Dieser Mann hat meine Klientin durch ein Heiratsversprechen getäuscht, vielleicht nicht absichtlich; denn wäre er nicht zur selben Zeit um eines Verbrechens willen, auf dem hohe Strafe steht, in Haft genommen worden, so dürfte kaum ein Grund zu der Annahme berechtigen, daß er sich mit der Absicht getragen habe, sein Versprechen nicht zu halten; aber er hat sich eines weitern schweren Verbrechens schuldig gemacht, eines durch Anstiftung von Aufruhr erschwerten Kapitalverbrechens, und ich kann mir jede weitere Auseinandersetzung hierüber ersparen, wenn ich dem Gericht und dem hier versammelten Auditorium offenbare, daß kein anderer der Verführer dieses armen Mädchens ist als eben jener berüchtigte Georg Robertson, der aus dem Edinburger Kerker den ehemaligen Hauptmann der städtischen Bürgergarde, John Porteous, gewaltsam entführt und durch Volksgewalt vom Leben zum Tode gebracht hat.«

Hier unterbrach der Lord-Oberrichter den Anwalt mit dem Bemerken, daß er von dem eigentlichen Thema, das den Gerichtshof zu befassen habe, zu weit abweiche, um auf die Aufmerksamkeit desselben Anspruch erheben zu dürfen.

Der Anwalt fuhr nach einer tiefen Verbeugung fort, er habe es bloß darum für notwendig erachtet, Namen und Verhältnisse dieses Robertson zu erwähnen, weil hierdurch begreiflich würde, weshalb sich seine Klientin über ihren Zustand nicht habe aussprechen wollen. Eben weil sie immer und immer gehofft habe, ihr Verführer werde ihren Ruf wiederherstellen durch die versprochene Heirat, – wozu es ihm, ihrer Meinung nach, weder an der nötigen Macht noch am guten Willen fehle – habe sie sich nicht entschließen können, ihren Angehörigen reinen Wein einzuschenken. »Aber noch immer wird mir« rief er, »so hoffe ich, der Beweis gelingen, daß sie einer durchaus berufenen und angemessenen Person die schwere Lage, in der sie sich befand, rechtzeitig offenbart hat.«

»Wenn es dem Herrn Verteidiger gelingt,« unterbrach ihn zum andern Male der Lord-Oberrichter, »Klarheit über diesen Punkt zu schaffen.«

»Ich hoffe, Eure Herrlichkeit, daß mir dies gelingen werde, daß ich nicht bloß meiner Klientin zu nützen, sondern ein hohes Gericht der schwersten Pflicht seines Amtes zu überheben vermag. Ich bin in der Lage, durch einen vorhandenen Brief zu erweisen, daß der Verführer des Mädchens, Georg Robertson, aus seinem Kerker, wahrscheinlich schon mit Fluchtgedanken befaßt, die durch den Beistand seines Kameraden, auch verwirklicht wurden, bemüht gewesen ist, sich die Gewalt über das Gemüt des unglücklichen Mädchens zu sichern und dessen weitere Schritte im Leben zu lenken. Durch eben diesen Brief ist das Mädchen bestimmt worden, den bessern Weg, den sie einschlagen wollte, wieder aufzugeben und sich durch den schlimmen Menschen zu einer jener verworfenen Kreaturen führen zu lassen, die sich, zur Schande unserer Polizei sei es gesagt, noch immer in unheimlichen Schlupfwinkeln unsrer Vorstädte herumtreiben. In einem solchen Schlupfwinkel hat die Angeklagte, auf sein Geheiß, ihre Niederkunft abgewartet; dort hat sie einem Knaben das Leben gegeben; dort ist sie vom Wochenbettfieber befallen wurden, und während sie bewußtlos darniederlag, hat jene schändliche Kreatur ihr das Kind genommen; ob sie es nur geraubt oder ob sie es umgebracht hat, wer vermag es zu sagen?«

Ein gellender Schrei unterbrach die Rede des Anwalts. Effie hatte ihn ausgestoßen, und nur mit Mühe vermochten die neben ihr stehenden Frone, sie zu beruhigen. Der Anwalt aber benutzte den Zwischenfall zu einem ergreifenden Abschluß seiner Rede. »Meine Herren Richter und Geschworenen! Aus diesem herzzerreißenden Aufschrei spricht die Beredsamkeit eines Mutterherzens schärfer und eindringlicher, als nüchterne Anwaltsworte es vermögen. Rahel weint um ihre Kinder! Die Natur selbst gibt Zeugnis für die Tiefe der mütterlichen Empfindungen der Angeschuldigten, und meine Lippen sollen solch hehre Verteidigung durch kein Wort, durch keine Silbe entweihen!«

»Hat man je so was gehört, Mylord?« fragte Saddletree den Laird Dumbiedike, als der Anwalt geschlossen hatte. »Was für ein Faden läßt sich aus einem kleinen Knäuel spinnen! Schwerenot! er weiß ja kein Tüttelchen mehr als in der protokollierten Aussage steht. Und die Vermutung, Jeanie werde über die Situation ihrer Schwester viel aussagen können, steht doch auf gar schwachen Füßen! Es ist wirklich ein schreiendes Unrecht von meinem Vater, daß er mich nicht hat studieren lassen. Aber, still! das Gericht will sich über die Zulänglichkeit der Verteidigung aussprechen.«

Und so geschah es. Nach kurzer Beratung verkündete der Lord-Oberrichter, daß, wenn der Verteidigung der Beweis gelänge, daß die Angeklagte ihre Schwester rechtzeitig über ihren Zustand unterrichtet habe, von weiterer Verfolgung derselben Abstand genommen werden müsse, da kein Schuld-Delikt im Sinne des hier zuständigen Gesetzesparagraphen mehr vorläge, daß sodann Klage und Verteidigung lediglich den Geschworenen zur Kenntnis und letzten Entscheidung vorzulegen seien, die aber nicht anders als auf »unschuldig« lauten werde.

Einundzwanzigstes Kapitel

Die Geschworenen wurden nun zu Protokoll gekommen und vereidigt, dann wurde Effie noch einmal die Frage vorgelegt, ob sie sich des Verbrechens, dessen sie angeklagt sei, für schuldig bekenne, und noch einmal klang ihr »Unschuldig« in demselben herzzerreißenden Tone wie das erste Mal durch den Verhandlungssaal.

Hierauf führte der Kronanwalt eine Reihe von Zeuginnen vor, die unter ihrem Eide aussagten, Effie Deans habe, als man es ihr ins Gesicht sagte, sie sei in anderen Umständen, solchen Verdacht ärgerlich und schnippisch in Abrede gestellt. Mehr aber noch verstärkte Effie den Schuldbeweis durch ihr eigenes Zeugnis. Sie stellte den Umgang mit einem Manne, dessen Namen sie geheim zu halten wünsche, nicht in Abrede. Als Grund für diesen Vorbehalt führte sie an, sie sei wohl im Rechte, ihre eigene Lebensführung zu kritisieren, aber nicht befugt, einen Abwesenden zu beschuldigen. Auf die Frage, warum sie sich niemand offenbart habe, gab sie Scham als Grund an, wie auch, daß sie ans ihren Geliebten vertraut habe, der ihr versprochen habe, für sie und ihr Kind zu sorgen. Auf die weitere Frage, warum er sein Versprechen nicht gehalten habe, erklärte sie, er hätte lieber das Leben geopfert, als sie und ihr Kind ins Unglück gestürzt, aber es seien Umstände eingetreten, die es ihm unmöglich gemacht hätten, über die sie weitere Aussagen verweigere. Das weitere Verhör gestaltete sich in Frage und Antwort wie folgt:

»Wo sie die Zeit von ihrem Weggang aus Saddletrees Haus bis zu ihrer Heimkehr nach Sankt-Leonard gewesen sei?« – Sie könne sich darauf nicht mehr besinnen. – Die Frage wurde wiederholt. Sie könne sich darum nicht darauf besinnen, weil sie schwer krank gewesen sei. – Als die Frage immer wieder, unter anderer Form, gestellt wurde, erklärte sie endlich, sie wolle in allen Punkten gern die Wahrheit sagen, wenn sie auch dadurch leiden müßte; nur solle man sie nicht über andre Leute ausfragen. Endlich bequemte sie sich im Kreuzverhör zu dem Geständnis, diese Zeit über in der Wohnung einer Frau gewesen zu sein, wo ihr Geliebter öfter sich aufgehalten und sie untergebracht habe, damit sie ihre Niederkunft dort abwarte, wo sie auch einen Knaben geboren habe; aber wo die Wohnung gelegen sei, darüber wüßte sie keinen Aufschluß Zu geben, weil sie bei Nacht hingebracht worden sei.

»Ob diese Wohnung in der Stadt selbst oder in einer Vorstadt gelegen sei?« – »Wie die Person, bei der sie niedergekommen sei, geheißen habe?« – »Ob sie die Person früher schon gesehen habe und ob es eine Bekannte von ihr gewesen sei?« – Auf alle drei Fragen verweigerte sie die Antwort.

»Ob das Kind lebend zur Welt gekommen sei?« – Gott möge ihm und ihr helfen: es habe gewiß und wahrhaftig bei der Geburt gelebt! »Ob es nach der Geburt oder später eines natürlichen Todes gestorben sei?« – Ihres Wissens nicht.

»Wo sich das Kind jetzt befände?« – Ihre rechte Hand opferte sie gern wenn sie dadurch erfahren könnte, wo sie ihr Kind finden könne. Aber, ach! sie fürchte, mehr als seine Gebeine von ihm nicht wiederzusehen.

»Aus welchem Grunde sie ihr Kind für tot halte?« – Sie schwamm in Tränen, weigerte aber hierauf die Antwort.

»Ob die Frau, die ihr bei der Niederkunft Beistand geleistet, den Eindruck einer sachkundigen Person auf sie gemacht habe?« – Mehr den eines bösherzigen Weibes.

»Ob noch jemand in der Wohnung gewesen sei?« – Ja, soweit sie sich besinnen könne; aber genau könne sie nichts darüber sagen, da ihr Wahrnehmungsvermögen infolge des Fiebers, in dem sie gelegen habe, stark geschwächt gewesen sei.

»Wann ihr das Kind genommen worden sei?« – Sie wisse es nicht; als sie wieder zu sich gekommen, habe ihr das Weib gesagt, ihr Kind sei tot; darauf habe sie dem Weibe ins Gesicht gesagt, daß es umgebracht worden sei; darauf habe das Weib sie so grob und schlecht behandelt, daß sie, außer sich vor Entsetzen, den ersten Anlaß zur Flucht wahrgenommen und ihr Vaterheim aufgesucht habe.

»Warum sie den Ihrigen nichts gesagt und nicht versucht habe, sich über die Wohnung des Weibes Gewißheit zu verschaffen?« – Sie habe es gewollt, es sei ihr aber keine Zeit mehr dazu geblieben.

»Warum sie Namen und Wohnung der Frau noch immer verschweige?« – Weil, sagte sie nach kurzem Besinnen, nichts mehr dadurch ungeschehen gemacht werden, wohl aber viel neues Unheil entstehen könne.

»Ob sie selbst jemals auf den Gedanken gekommen sei, das Kind gewaltsam beiseite zu schaffen?« – Niemals, so wahr sie auf Gottes Barmherzigkeit rechne! Freilich habe das böse Weib in seinem Zorne ausgestoßen, sie habe im Fieber ihrem Kinde selbst Schaden zugefügt, aber sie sei überzeugt, daß dies bloß gesagt worden sei, um sie zu schrecken und zum Schweigen zu bringen.

»Ob das Fieber, an dem sie erkrankt sei, infolge natürlichen Verlaufs entstanden oder durch äußere Eindrücke hervorgerufen worden sei?« – Man habe ihr eines Morgens sehr schlimme Nachrichten mitgeteilt, worauf das Fieber zum Ausbruch gekommen sei.

»Was für Nachrichten das gewesen seien?« – Sie wolle nichts aussagen; sie wisse, ihr Kind sei tot; sollte sie aber hierin irren, so würde ein anderer die Sorge für sein Leben übernehmen; ihr eigenes Leben stünde in Gottes Hand, der es wisse, daß mit ihrem Willen oder Beistand ihrem Kinde kein Leid geschehen sei. Den Entschluß, den Ihrigen alles zu sagen, den sie gefaßt habe, als sie aus dem Hause des bösen Weibes geflohen sei, habe sie später aus Gründen, die sie nicht nennen wolle, wieder fallen lassen. Sie sei jetzt so erschöpft, daß sie bitten müsse, das Verhör abzubrechen.

Nunmehr erhielt der zweite Anwalt für die Beklagte, Nichil Novit, das Wort. Er zitierte zuerst die Zeugen, die über den Charakter des Mädchens aussagen sollten. Alle stimmten überein in ihrem Lobe, vor allem die brave Frau Saddletree, die unter Tränen erklärte, sie hätte ihr eigenes Kind nicht höher achten und inniger lieben können als die arme Effie. Alles wurde durch ihre herzliche Schilderung erwärmt, nur ihr Mann nicht, der dem neben ihm sitzenden Dumbiedike zuflüsterte:

»Ihr Nichil Novit ist wirklich noch ein novus, nehmen Sie mir das nicht übel! Solch ein schnatterndes, flennendes Weibsbild zu zitieren, das den Richtern den Kopf dick macht! Da hätte er mich lieber zitieren sollen! Ich hätte ein Zeugnis abgelegt, daß ihr von niemand hätte ein Haar gekrümmt werden können!«

»Geht es denn nicht noch?« fragte der Laird; »ich will dem Novit einen Wink geben.«

»Nein, nein! lassen Sie es jetzt lieber,« erwiderte, mit dem Kopfe schüttelnd, Saddletree, »das hätte bloß Nutzen gehabt, wenn ich debito tempore [zur pflichtschuldigen Zeit (rechtzeitig zum Termine)] geladen worden wäre. Ein freiwilliges Zeugnis gilt nie viel.« Darauf wischte er sich mit seinem seidenen Taschentuche wichtigtuerisch den Mund und setzte sich wieder in die Positur eines aufmerksamen Zuhörers, der über alles genauen Bescheid weiß.

Nun nahm der erste Anwalt der Angeklagten wieder das Wort. »Durch die letzten Zeugen ist zwar bewiesen worden, wie würdig meine Klientin der allgemeinen Teilnahme ist; um ihre Unschuld noch klarer an den Tag zu legen, ist es aber notwendig, noch eine Zeugin zu vernehmen, und zwar die wichtigste von allen, denn durch ihren Mund werden wir vernehmen, daß die Angeklagte ihren Zustand nicht verheimlicht, sondern offenbart hat, und zwar ihrer natürlichen Beraterin, ihrer Schwester. Fron! führen Sie die ältere Tochter des Pächters David Deans, Jeanie Deans, in den Saal!«

Als Effie diese Worte vernahm, fuhr sie erschreckt in die Höhe und beugte sich weit über die Schranke, nach der Seite, hin, von wo ihre Schwester in den Saal treten mußte. Schon erschien auch Jeanie, langsamen Schrittes, hinter dem Fron und trat an das untere Ende der Gerichtstafel. Aus Effies Zügen verschwand die Scham und Niedergeschlagenheit und machte dem Ausdruck innigsten Flehens Platz: sie streckte der Schwester die Hände entgegen und rief plötzlich mit herzzerreißender Stimme, die allen Anwesenden durch Mark und Bein ging: »O Jeanie, rette, rette mich!«

Von Empfindungen übermannt, die sich mit seinem unduldsamen Starrsinn gar nicht vertrugen, duckte der greise Deans sich noch tiefer in die dunkle Pfeiler-Ecke, so daß auch Jeanie sich vergebens nach seiner ehrwürdigen Gestalt umsah. Aber die Hände ringend, flüsterte er dem vor ihm sitzenden Laird Dumbiedike zu:

»Das ist das Bitterste von allem, Laird, wenn ich nur das erst noch überstanden habe! Mir schwindelt der Kopf. Aber, Laird, der Herr ist stark im Schwachen!«

Jeanie war inzwischen bis zum Zeugenplatze getreten. Außerstande dem Impuls ihrer Liebe zu widerstehen, streckte sie der Schwester die Hand hin. Effie befand sich nahe genug, sie mit beiden Händen zu fassen und an den Mund zu pressen, während Jeanie, bitterlich weinend, mit der andern Hand sich das Gesicht verdeckte. Es war ein Augenblick so voll der höchsten Tragik, daß fast kein Auge tränenleer blieb, und selbst der Lord-Oberrichter einiger Zeit bedurfte, bis seine Stimme die nötige Festigkeit gewonnen hatte, die Zeugin zur Ruhe zu mahnen. Zeit und Ort seien nicht angemessen, solchen Empfindungen, so natürlich und begreiflich sie seien, Ausdruck zu geben. Er forderte die Zeugin auf ihm die Eidesformel nachzusprechen. »Im Namen Gottes schwöre ich, die reine Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen, nichts zu beschönigen, so wahr mir Gott in Ewigkeit helfe!« – ein furchtbares Gelübde, das auch auf den verstocktesten Menschen nicht ohne Eindruck bleibt und selbst den frömmsten tief erschüttert. In Demut und Ehrfurcht vor Gott und seinem Namen erzogen, wurde auch Jeanie durch diese feierliche Anrufung im innersten Herzen ergriffen, zugleich aber über alle irdischen Rücksichten hinweg zu jener heiligen Pflicht empor geführt, der lauteren Wahrheit die Ehre zu geben. Mit leiser, aber deutlicher Stimme wiederholte sie die ihr vorgesprochenen Eidesworte. Dann folgte noch eine kurze Ermahnung des Oberrichters, ausklingend in dem Satze, daß sie für ihre Aussage hier und jenseits verantwortlich sei; dann legte er ihr die üblichen Fragen vor: ob ihr von irgendwem das Zeugnis, das sie ablegen wolle, in den Mund gelegt worden sei? ob ihr von irgendwem eine Belohnung dafür zugesagt worden sei? ob sie gegen den Kronanwalt, dem sie gegenüber stehe, einen Groll im Herzen trage? Sie antwortete auf all diese Fragen mit ruhigem Nein; ihrem Vater aber, der nicht wußte, daß diese Fragen jedem, der schwören soll, vorgelegt werden, bereiteten sie so großes Aergernis, daß er, laut genug, um im Saale gehört zu werden, rief: »Nein, nein! Mein Kind ist doch nicht wie die Witwe von Tokoah! Es hat ihr kein Mensch gesagt, wie sie aussagen soll!«

Einer vom Richterkollegium schien im schottischen Gesetzbuche besser bewandert zu sein als in den Büchern Samuelis, denn er wollte auf der Stelle diese Witwe aus Tokoah zitieren lassen in der Annahme, sie stände zu dem Prozesse in gewisser Beziehung; der Lord-Oberrichter aber, besser in der Schrift zu Hause als sein Amtskollege, flüsterte ihm eilig zu, wie es sich um die Witwe verhalte; die kleine Pause indes, die durch dieses Intermezzo entstanden war, hatte wenigstens den einen Nutzen, daß sie Jeanie Deans Zeit verschaffte, sich für die ihr bevorstehende Aufgabe zu sammeln.

Der gerichtliche Anwalt der Angeklagten, ein beschlagener Jurist, von dem Argwohn beherrscht, Jeanie erscheine vor Gericht, falsches Zeugnis in der Sache ihrer Schwester abzulegen, begann, um ihr weitere Zeit zur Sammlung zu lassen, mit einigen geringfügigen Fragen über Namen, Stand, Alter, und ging zu dem eigentlichen Zweck des Zeugen-Verhörs erst über, als Jeanie ruhiger geworden war.

»Hat die Zeugin,« fragte er, »während der Zeit, die ihre Schwester im Hause der Frau Saddletree gelebt hat, eine Veränderung im Gesundheitszustände derselben wahrgenommen?« – Jeanie antwortete mit Ja.

»Die Angeklagte hat der Zeugin vermutlich auch die Ursache davon mitgeteilt?« fragte er weiter.

»Ich bedaure,« fiel hier der Kronanwalt, ein, indem er sich von seinem Stuhle erhob, »ich erblicke in dieser Frage das Moment der Irreführung oder Beeinflussung, stelle aber dem Lord-Oberrichter die Entscheidung anheim.«

»Wenn hierüber verhandelt werden soll,« erklärte dieser, »so wird es notwendig sein, die Zeugin so lange abtreten zu lassen.«

»Ich meine, daß hiervon Umgang genommen werden könne,« sagte der Verteidiger der Angeklagten, »denn ich kann die Frage ja anders an die Zeugin stellen. Haben Sie an Ihre Schwester,« wandte sich der Verteidiger wieder an Jeanie, »als Sie ihr krankhaftes Aussehen wahrnahmen, irgendwelche Frage deshalb gestellt? Fassen Sie sich doch, Zeugin; und geben Sie ruhige Antwort!«

»Ich habe sie gefragt, was ihr fehle,« antwortete Jeanie.

»Gut. Besinnen Sie sich genau! Was antwortete sie Ihnen?«

Jeanie schwieg, Leichenblässe trat auf ihr Gesicht. Nicht, als habe sie auch nur einen Augenblick geschwankt, ob sie der Eidespflicht genügen müsse, oder ob ihr, da es sich um Leben und Sterben der Schwester handelte, eine Ausflucht gestattet sei; aber sie bebte vor dem Gedanken zurück, durch die einzige Antwort, die sie geben durfte, die letzte Hoffnung aus dem Herzen der Schwester reißen zu müssen. »Fassen Sie sich,« wiederholte der Anwalt, »ich frage, was Ihnen Ihre Schwester antwortete, als Sie sich bei ihr über ihr krankhaftes Aussehen erkundigten?«

Mit fast erlöschender Stimme gab Jeanie die Antwort. »Nichts!« und doch wurde das Wort gehört bis in der fernsten Ecke des Gerichtssaales, denn ein ehrfürchtiges Schweigen lag über ihm.

Dem Anwalt sank der Mut; aber er faßte sich und fragte: »Nichts? Zeugin, Sie meinen im ersten Augenblicke, nicht wahr? Aber als Sie dann in die Schwester drangen, Ihnen zu sagen, wie es sich mit ihr verhalte, da hat sie es Ihnen gesagt? Nicht wahr ?«

Er stellte die Frage in einem Tone, der Jeanie die Wichtigkeit ihrer Aussage zu Herzen führen mußte, falls sie sich derselben nicht schon bewußt war. Aber fester und ruhiger als zuvor, und mit geringerem Zögern antwortete Jeanie: »Weh mir! Sie sprach darüber niemals eine Silbe!«

Selbst aus der Brust der Richter drang ein schwerer Seufzer; aber schwerer, schmerzlicher noch drang er herauf aus der Brust des bejammernswerten Vaters, in dessen Herzen die geheime Hoffnung nun zerstört war, an die er sich noch immer geklammert hatte, und besinnungslos schlug er auf die Dielen, der entsetzten Tochter vor die Füße. Außer sich, vor Schmerz, rang die Angeklagte mit den beiden Fronen, die ihr als Wache gesetzt waren. »Laßt mich zu meinem Vater! Ich will zu meinem Vater!« schrie sie in ohnmächtiger Wildheit: »ich will zu ihm! ich muß zu ihm! Er ist gestorben durch mich!«

Selbst in diesem Augenblicke höchster Seelenangst verlor Jeanie die Herrschaft nicht über sich: »Es ist mein Vater! Es ist unser Vater!« sprach sie sanft zu den Fronen, als sie neben dem bewußtlosen Greise niederkniete und ihm liebevoll die Schläfe rieb.

Umflorten Auges gab der Lord-Oberrichter Weisung, Vater und Tochter in ein anstoßendes Zimmer zu führen und ihnen dort alle Fürsorge angedeihen zu lassen. Effie blickte, als der Vater aus dem Saale getragen wurde und die Schwester langsam hinter den beiden Männern herschritt, mit so starren Augen hinter ihnen her, als wollten sie aus ihren Höhlen dringen. Dann aber fand sie in ihrer verzweifelten Situation einen Mut, wie sie ihn noch in keinem Augenblicke der Verhandlung gezeigt hatte.

»Jetzt liegt das Schwerste hinter mir,« sagte sie; ihr Busen hob sich, wie von einem Alp befreit; und kühn wandte sie sich zu ihren Richtern mit dem Rufe: »Mylords! Beliebt es Ihnen, die Verhandlung zu Ende zu führen? Der traurigste Tag meines jungen Lebens muß ja endlich auch zu Ende gehen!«

Der Lord-Oberrichter, nicht wenig verwundert, sich durch die Angeklagte selbst an die ihm obliegende Pflicht erinnert zu sehen, sammelte sich und stellte dem Anwalt der Angeklagten anheim, weitere Zeugen zu laden, sofern dies in seiner Absicht läge. Der Anwalt erwiderte jedoch, er betrachte seine Aufgabe für erfüllt.

Darauf wandte, sich der Kronanwalt an die Geschwornen. Niemand, sagte er, könne von dem schmerzlichen Auftritte, den sie alle erlebt hätten, tiefer erschüttert sein als er; aber es sei eben die unausbleibliche Folge von schweren Verbrechen, daß sie Jammer und Not über alle Angehörigen des daran Schuldigen brächten. Mit kurzen Worten setzte er nochmals auseinander, weshalb die Angeklagte dem Gesetze verfallen sei, und forderte die Geschwornen auf, Anklage und Beweise gewissenhaft und vorurteilsfrei zu prüfen und ihren Spruch dem Wortlaute des Gesetzes gemäß zu sprechen. Hieran schlossen sich mahnende Worte des Lord-Oberrichters, dessen eingedenk zu sein, daß das Gesetz, gegen das die Angeklagte gefehlt habe, von ihren Voreltern erlassen worden sei, um dem beängstigenden Umsichgreifen eines furchtbaren Verbrechens Einhalt zu tun, und daß die Geschworenen verpflichtet seien, aus Rücksicht gegen Regierung und Vaterland sich von Nebenumständen nicht beeinflussen zu lassen.

Darauf zogen die Geschworenen sich, unter Vortritt eines Ratsdieners, in das Beratungszimmer zurück. Eine Stunde verstrich. Dann traten sie, langsamen, feierlichen Schrittes, von tiefem Schweigen empfangen, wieder ein, um zu verkünden, daß ihr Spruch gegen Euphemia Deans auf Schuldig laute, daß sie jedoch in Berücksichtigung ihrer Jugend und besonders tragischen Umstände, unter denen sie sich des Verbrechens schuldig gemacht habe, das Richterkollegium ersuchten, sie der königlichen Gnade anzuempfehlen.

Der Lord-Oberrichter forderte nunmehr die Angeklagte auf, zur Gerichtstafel heranzutreten und das über sie gefällte Urteil ergeben und demütig zu vernehmen. Sie ertrug den Schluß dieses erschütternden Auftritts mit größerer Fassung, als ihr Verhalten in verschiedenen Phasen desselben hätte erwarten lassen. Der Henker, dem nach schottischen Rechtsbrauche die Verkündigung eines Todesurteils zusteht, wurde von einem Fron hereingeführt und stellte sich der Angeklagten gegenüber auf. Es war ein großer, hagerer Mann, in einer absonderlichen Tracht, halb schwarz, halb grau, mit einer roten Kappe auf dem Kopfe. Alles wich mit instinktmäßiger Scheu vor ihm zurück, denn der Henker gilt in Schottland noch heute als unrein, und zur damaligen Zeit betrachtete sich jeder für entehrt, den auch nur ein Hauch aus seinem Munde getroffen. Gefühllos plärrte er die Worte des Gerichtsschreibers nach, der ihm das Urteil ins Ohr vorsagte: »daß Euphemia Deans in den Kerker zurückzuführen sei, um am Mittwoch über sechs Wochen, zwischen zwei und vier Uhr nachmittags, auf den Richtplatz geführt und an den Galgen gehängt zu werden. Und dies,« so schloß der grause Urteilskünder mit rauher Stimme, »verkündige ich hiermit als Urteil!«

Geheimnisvoll wie er gekommen, verschwand der Henker wieder. Unbeweglich stand die Angeklagte vor den Schranken, während er gesprochen hatte; nur als er vor sie hingetreten war, wollten einige gesehen haben, daß sie die Augen schloß. Aber als die schreckliche Gestalt von ihr gewichen war, zeigte sie wieder, wie vorher, als Vater und Tochter aus dem Saale verschwanden, festen Mut. Sie war die erste, die das Schweigen brach, indem sie sich gefaßt an ihre Richter wandte:

»Mylords! Möge Gott Ihnen vergeben! Sie handeln nach Ihrer Einsicht, und ich darf nicht murren; denn wenn ich auch mein Kind nicht umgebracht habe, und wenn mich auch keinerlei Schuld an seinem Verschwinden trifft, so trifft mich doch die Schuld am Tode meines armen, armen Vaters! und darum allein verdiene ich das Schlimmste von Gott und den Menschen – Gott aber ist barmherziger gegen uns, als wir es gegen unsre Brüder sind!«

Die Verhandlung wurde geschlossen. Die Menge strömte ins Freie, und der ergreifende Auftritt, der sich vor ihr abgespielt, hatte, war bald aus ihrer Erinnerung verwischt. Die Rechtskundigen aus dem Auditorium gingen zu zweit oder dritt und diskutierten, gleichgültig gegen solche Vorgänge, wie Aerzte bei Krankheitsfällen, über die einzelnen Phasen der Verhandlung und über den einschlägigen Gesetzesparagraphen, wie auch über die von den Richtern und Anwälten gehaltenen Reden. Von dem weiblichen Teile des Publikums waren es auch nicht wenige, die sich erbittert gegen den Lord-Oberrichter aussprachen; unter ihnen befanden sich ein paar, mit denen wir schon in einem der ersten Kapitel Bekanntschaft gemacht haben.

»Schändlich, mit einem armen Frauenzimmer, das vielleicht gar keine Schuld hat, so umzuspringen und ihm alle Aussicht auf die himmlische Gnade zu rauben!« rief Frau Howden.

»Aber, Nachbarin,« erwiderte Jungfer Damahoy, indem sie ihre magere Gestalt zu voller Höhe jungfräulicher Würde reckte, »ich dächte, einmal wär's doch an der Zeit, diesem naturwidrigen Treiben mit den unehelichen Kindern ein Ende zu machen. Man kann ja gar kein Frauenzimmer unter dreißig Jahren mehr ins Haus nehmen, ohne daß einem gleich alle möglichen Kommis und Schreiber die Tür einrennen und Schimpf und Schande auf den Hals hetzen. Mir ist die Geschichte schon lange zu bunt!«

»Ei, ich sage immer, Nachbarin, leben und leben lassen! Wir sind auch einmal jung gewesen und müssen, wenn junges Volk zusammenkriecht, nicht immer gleich das Schlimmste denken.«

»Jung gewesen?« rief Jungfer Damahoy: »na, ich dächte, aus dem Schneider wäre ich auch noch nicht, Frau Howden, und was das Schlimmste anbetrifft, von dem Sie reden, nun, so kann ich's dem Himmel nicht genug danken, daß er mich vor Gutem wie vor Bösem bewahrt hat.«

»Ich dächte, da wären Sie gerade nicht für was Besonderes dankbar,« antwortete, den Kopf zurückwerfend, Frau Howden, »und gar so jung sind Sie doch wohl auch nicht mehr, denn Anno 7, bei der letzten Parlamentssitzung, waren Sie doch schon selbstständige Geschäftsinhaberin.«

Herr Plumdamas, der Ritter der beiden kampflustigen Damen, witterte Gefahr und suchte die Gemüter dadurch zu besänftigen, daß er die Unterhaltung auf ihren Ausgangspunkt zurückführte.

»Der Lord-Oberrichter,« meinte er, »hat über das Gnadengesuch bei weitem nicht alles gesagt, was er hätte sagen können. Aber die Rechtsleute lieben es nun einmal, mit versteckten Karten zu spielen. Es ist ein gewisses Geheimnis dabei.«

»Geheimnis, Nachbar? Was denn für eins?« riefen die beiden Frauenzimmer wie aus einem Munde, denn das Wort Geheimnis wirkte elektrisierend auf ihre Nerven.

»Ei, das wird Ihnen der Herr Saddletree am besten auseinandersetzen können! Da kommt er gerade.«

Höchst geringschätzig bemerkte Saddletree: »Da wird geschwatzt von häufigem Kindermord. Glauben Sie denn, unsre alten Erbfeinde drüben in England scheren sich was drum, ob wir uns alle zusammen totaliter totschlagen? Daran liegt's nicht, daß das arme Ding nicht pardonniert wird. Die Geschichte hat einen ganz andern Haken, und darüber will ich Euch reinen Wein einschenken. Der König und die Königin haben sich über den Porteous-Krawall so gefuchst, daß sie sich im Leben nicht wieder einfallen, lassen werden, einem Kinde Schottlands Pardon zu geben, und wenn ganz Edinburg am Galgen baumelte.«

»König Georg soll seine Perücke aus Wut ins Feuer geschmissen haben,« meinte Jungfer Damahoy.

»Das soll er schon bei geringeren Anlässen getan haben,« versetzte Saddletree.

»Meinetwegen,« sagte Jungfer Damahoy, »je öfter, desto besser – wenigstens für seinen Perückenmacher.«

»Die Königin, heißt's,« bemerkte Plumdamas, »soll aus Wut ihre Haube zerfleddert haben? Ja, Sir Robert Walpole soll mit Fußtritten regaliert worden sein, aus Aerger darüber, daß er den Edinburger Pöbel nicht besser im Zaume hält; aber ich glaube doch nicht, daß sich unser verehrter König so weit vergangen haben sollte!«

»Den Herzog von Argyle mißhandeln,« riefen verschiedene in höchster Entrüstung.

»Ja, aber Mac Cullamores Blut wird so etwas nicht auf sich sitzen lassen!« riefen andere; »da hätte Andrea Ferrera [vergl. den Roman »Der Abt« von Walter Scott.] leicht den dritten Mann abgeben können.«

»Der Herzog ist ein echter Schotte,« riefen die ersten wieder, »der auf Schottland hält und auf Schottland nichts sitzen läßt!«

»Freilich, das trifft zu!« sagte Saddletree, »und wenn Ihr auf ein paar Augenblicke in meinen Laden kommen wollt, will ich's Euch sagen, wie alles zugegangen ist. Ueber so etwas schwatzt man am besten inter parites

Er schickte den Lehrbuben fort, schloß sein Pult auf und nahm mit selbstgefälliger Miene ein zerknülltes Papier heraus. »Ganz nagelneu,« sagte er, »das könnt' Euch kein Mensch sonst zeigen. Des Herzogs Rede über den Porteous-Rummel wird seit ein paar Tagen in den Straßen von London verkauft. Ein Bekannter von mir hat's im Schloßhofe gefunden, dicht vor der Nase des Königs. Ich hab's mit einem Wechsel, den der Mann prolongiert haben will, in einem Briefe bekommen. Du, Frau, sieh doch einmal nach, wie es damit steht!«

Die brave Frau Saddletree war aber dermaßen mit der armen Effie und ihrem Schicksale befaßt gewesen, daß sie sich in den letzten Tagen um die Geschäfte wenig gekümmert hatte. Erst die Worte Wechsel und prolongieren weckten ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm den Brief, den Saddletree ihr hinhielt, wischte sich die Augen, setzte sich die Brille auf und suchte sich über den Fall zu informieren, so gut es ihr mit ihren noch von Tränen umflorten Augen möglich war.

Nach einer Weile riß sie Saddletree auf die Seite, ihn jäh in dem Vortrage der herzoglichen Rede unterbrechend. »Aber was fällt Dir ein, Mann? Hier stehst Du und schwatzest vom Herzog von Argyle, und dabei will uns der Hasenfuß in London um bare 60 Pfund bringen? Welcher Herzog wird sie uns ersetzen? Mir wär's schon lieber, der Herzog bezahlte, was er selbst schuldig ist. Er steht auch noch mit tausend Pfund Schottisch in der Kreide. Er mag ein ganz gerechter Herr sein, auch einer, mit dem es sich umgehen läßt, aber wie kann ein Mensch von Herzögen, Wechseln undsoweiter faseln, wenn man in der Nebenstube solch arme Leute hat, wie Jeanie Deans mit ihrem Vater?

Aber, Nachbarn, verzeiht doch, bitte! Ich will euch ja gar nicht stören. Bloß meinem Manne macht das Gericht noch ganz den Kopf verdreht, das werden wir alle noch erleben!«

Sie eilte in die andere Stube, wo Deans mit seiner Tochter einstweilen Unterkunft gefunden hatte, und sah mit Freude, wie sich die Nachbarn langsam aus ihrem Hause entfernten.

Ende des ersten Bandes

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