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Da war etwas in Dr. Hoves Verhalten und Tonfall, das die Detectives zutiefst beunruhigte. Sie folgten ihr zum zweiten Sektionstisch.

»Ich habe absolut keinen Zweifel, dass alles, was in dem Zimmer passiert ist, geplant war, und zwar bis ins letzte Detail.« Sie zog das weiße Laken beiseite. Die widerliche Skulptur, die der Mörder am Tatort zurückgelassen hatte, war in ihre Einzelteile zerlegt worden. Derek Nicholsons abgetrennte Gliedmaßen lagen nun fein säuberlich in einer Reihe auf dem kalten Metalltisch. Auch das Blut war abgewaschen worden.

»Keine Sorge«, wandte sich Hove an Hunter, da sie seine Unruhe bemerkt hatte. »Das Labor hat genügend Fotos gemacht und alles ausgemessen, um die Nachbildung anzufertigen, die Sie haben wollten. Sie müsste morgen oder übermorgen fertig sein.«

Hunter und Garcia starrten auf die Gliedmaßen.

»Sind Sie aus der Skulptur irgendwie schlau geworden, Doc?«, wollte Garcia wissen.

»Kein bisschen. Und ich musste sie eigenhändig auseinandernehmen.« Sie hatte einen Frosch im Hals und hustete, um ihn loszuwerden. »Ich habe unter den Fingernägeln geschabt. Keine Haare oder Hautfetzen, nur Schmutz und Exkremente.«

»Exkremente?« Garcia verzog das Gesicht.

»Seine eigenen«, sagte Hove. »Bei starken Schmerzen, wie zum Beispiel während einer Amputation ohne Betäubung, verliert der Mensch die Kontrolle über Blase und Darm. Und genau das ist hier das Sonderbare.«

»Was?«, fragte Garcia.

»Er war sauber«, antwortete Hunter an Hoves Stelle. »Als wir an den Tatort kamen, hätte das Bettlaken mit Urin und Kot verschmutzt sein müssen. War es aber nicht.«

»Aufgrund der Krankheit und seiner eingeschränkten Mobilität war der Gang zur Toilette für Nicholson eine recht aufwendige Prozedur.« Jetzt sprach wieder Dr. Hove. »Seine Pflegerinnen haben ihm dabei geholfen. Wenn sie nicht da waren, trug er Windeln für Erwachsene.«

»Die Spurensicherung hat eine in eine Plastiktüte gewickelte schmutzige Windel im Mülleimer im Erdgeschoss gefunden.«

Garcia machte große Augen. »Der Täter hat ihn saubergemacht?«

»Nicht direkt saubergemacht, aber irgendjemand hat seine schmutzige Windel entsorgt.«

Mehrere Sekunden lang sagte keiner ein Wort. Dann fuhr Dr. Hove mit ihrem Bericht fort. »Ich glaube deshalb, dass der Mörder sich mit Chirurgie auskennt, weil ich die hier gefunden habe.« Sie deutete auf eine Stelle nahe der Schnittkante an einem der abgetrennten Arme. »Sie sind mir erst aufgefallen, nachdem ich das Blut abgewaschen hatte.«

Hunter und Garcia traten einen Schritt näher. Auf der gummiartigen Haut war ganz schwach eine schwarze Filzstiftlinie zu erkennen. Sie verlief in einem unvollständigen Kreis um den Arm herum, und zwar ziemlich genau an der Stelle, wo die Amputation vorgenommen worden war.

»Bei komplizierten chirurgischen Eingriffen wie Amputationen, wo der Schnitt sehr präzise gesetzt werden muss, ist es nicht ungewöhnlich, dass der Chirurg, oder wer auch immer den Eingriff vornimmt, die Stelle vorher mit einem Stift anzeichnet.«

»Aber das würde jemand, der die Informationen aus einem Buch oder aus dem Internet hat, doch genauso machen, Doc«, gab Garcia zu bedenken.

»Stimmt«, räumte sie ein. »Aber jetzt schauen Sie sich mal das hier an.« Sie ging zurück zum ersten Sektionstisch mit Derek Nicholsons Torso. Hunter und Garcia folgten ihr. »Während einer Amputation ist es lebenswichtig, dass alle größeren Blutgefäße, wie die Arteria brachialis im Arm oder die Arteria femoralis im Oberschenkel, ordnungsgemäß abgebunden werden, da sonst der Patient innerhalb kürzester Zeit verblutet.«

»Sie waren aber nicht abgebunden«, sagte Hunter und beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Das habe ich am Tatort überprüft. Keine Fäden, keine Knoten.«

»Das liegt daran, dass der Täter die Blutung nicht durch Ligieren gestoppt hat, so wie es die meisten Ärzte machen würden. Die rechte Oberarmarterie wurde abgeklemmt. Er hat eine Arterienklemme benutzt. Die Abdrücke sind unter dem Mikroskop zu sehen.«

Hunter richtete sich auf. »Nur beim rechten Arm?«

Dr. Hove rückte ihre Operationshaube zurecht. »Ja, allerdings. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das Herz des Opfers schon aufgehört hatte zu schlagen, bevor der Mörder eine weitere Extremität abnehmen konnte. Tatsache ist, Robert, dass der Mörder das Leiden seines Opfers so sehr in die Länge gezogen hat, wie er nur irgendwie konnte. Um das zu erreichen, musste er – wohlgemerkt ohne die Hilfe eines OP-Teams – die Amputationen rasch und sauber durchführen und danach schnellstmöglich den Blutfluss stoppen.«

»Und Sie sind sicher, dass er keine chirurgische Säge benutzt hat? So eine ähnliche wie die, die Sie hier im Institut verwenden?«, hakte Garcia nach.

»Ganz sicher«, lautete Hoves Antwort. Gleichzeitig griff sie nach einer Mopec-Autopsiesäge, die hinter ihr auf dem Tresen lag. »Tragbare Autopsiesägen haben kleine, runde Sägeblätter mit extrem feiner Zahnung.« Sie zeigte ihnen das Gerät. »Je feiner die Zahnung, desto akkurater der Schnitt und desto einfacher ist es, auch Härteres zu schneiden, zum Beispiel Knochen und Muskeln bei voll ausgebildeter Totenstarre.«

Beide Detectives inspizierten flüchtig die Säge samt Sägeblatt.

»Aber für eine Amputation ist eine Autopsiesäge nicht groß genug. Man braucht eine Säge, die mindestens so breit ist wie der Körperteil, den man amputieren will. Außerdem hinterlassen kreisförmige Sägeblätter sehr charakteristische Formspuren, glatter als die der meisten anderen Sägen.«

»Und in unserem Fall gibt es solche Formspuren nicht«, mutmaßte Hunter.

»Richtig. Was wir hier haben, ist eine Riefung, verursacht durch zwei sehr scharfe parallele Klingen, die sich entgegengesetzt zueinander vor-und zurückbewegen.«

Hunter gab ihr die Autopsiesäge zurück. »Sie meinen … so wie bei einem elektrischen Tranchiermesser.«

»Schneiden die denn durch Knochen?«, fragte Garcia.

»Die leistungsstärksten Elektromesser können durch eine gefrorene Rinderkeule schneiden«, erklärte die Medizinerin. »Erst recht wenn die Klingen neu sind.«

»Wissen wir, ob das Opfer ein solches Messer im Haus hatte?«, wollte Garcia wissen.

»Wenn der Täter wirklich so ein Messer benutzt hat«, sagte Hunter, »dann kam es nicht aus der Küche des Opfers. Er hat es mitgebracht.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Wenn er das Amputationsinstrument nicht mitgebracht hätte, würde das doch darauf hindeuten, dass die Amputationen nicht geplant waren und der Täter unvorbereitet in Nicholsons Haus eingedrungen ist.«

»Und wenn unser Täter eins nicht war, dann unvorbereitet«, bekräftigte Dr. Hove. »Wo wir gerade davon sprechen: Um die Einzelteile seiner Skulptur zusammenzuhalten, hat der Täter nicht nur Draht benutzt, sondern auch ein superschnelles Haftmittel, wie Sekundenkleber.«

»Sekundenkleber?« Fast hätte Garcia gelacht.

Hove nickte. »Ideal für den Zweck – leicht aufzutragen, trocknet blitzschnell, klebt auch an der Haut und hat eine extrem starke Haftkraft. Aber eins will mir bei der ganzen Sache nicht in den Kopf: Dieser Mord war vollkommen sinnlos.«

»Sind nicht alle Morde sinnlos?«, konterte Hunter.

»Mag sein. Was ich damit sagen will, ist, dass es absolut überflüssig war, diesen Menschen zu töten.« Hove ging zu einer Tabelle an der Wand, auf der das Gewicht von Gehirn, Herz, Lunge, Leber, Nieren und Galle des Toten verzeichnet waren. Auf dem Tresen daneben lag ein Plastikbeutel, der mehrere Organe des Opfers enthielt. Sie griff danach und hob ihn hoch. »Der Krebs hatte seine Lunge so gut wie zerfressen. Er hätte vielleicht noch eine Woche gelebt, maximal zwei. Und eine solch umfassende Schädigung der Lunge bedeutet Schmerzen, starke Schmerzen. Er lag doch ohnehin schon im Sterben und musste enorm leiden. Warum ihn dann noch auf so eine bestialische Weise töten?«

Hunter und Garcia schwiegen.

Darauf hatten auch sie keine Antwort.

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