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Die Reaktion erfolgte innerhalb eines Wimpernschlags und in perfekter Übereinstimmung. Um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, machte Hunter einen Schritt nach links, Garcia einen nach rechts. Zeitgleich zogen sie ihre Waffen und zielten beide auf Titos Brust. Es ging alles so blitzschnell, dass Tito mitten in der Bewegung erstarrte.

»Sachte, Spitzenhöschen«, warnte Garcia. »Zeig mir deine Hände. Schön langsam.«

»Hey, hey.« Tito wich zurück und reckte beide Arme in die Luft. In einer Hand hielt er die Fernbedienung für eine Stereoanlage. »Scheiße, Mann, was geht denn bei euch ab? Ich wollte nur die Musik leiser machen.« Sein Kinn zuckte kaum merklich zur rechten Schulter – derselbe nervöse Tic, der ihn sieben Jahre zuvor auf den Überwachungsbändern des Raubüberfalls verraten hatte.

Hunter und Garcia sicherten ihre Pistolen und steckten sie zurück ins Halfter.

»Was geht denn bei dir ab?«, gab Garcia zurück. »Du müsstest doch wissen, dass man im Beisein von Polizisten keine plötzlichen Bewegungen macht. Das wird dich noch umbringen.«

»Bis jetzt ist mir ja nix passiert.«

»Setz dich, Tito«, sagte Hunter und zog einen Stuhl vom runden Holztisch heran, der in der Mitte des kleinen Wohnzimmers stand. Titos Wohn-Esszimmer war muffig und düster, und wer auch immer es eingerichtet hatte, litt unter ernsten Geschmacksverirrungen und war vermutlich halb blind. Die Wände waren in einem schmutzigen Beige gestrichen, das möglicherweise früher einmal Weiß gewesen war. Der Laminatboden hatte so viele Kratzer, dass man annehmen musste, Tito führe in der Wohnung Schlittschuh. Es stank nach Gras und Alkohol.

Tito zögerte und bemühte sich, eine grimmige Miene aufzusetzen.

»Hinsetzen, Tito«, wiederholte Hunter. Sein Tonfall änderte sich nicht, aber sein Blick verlangte Gehorsam.

Also setzte sich Tito hin und ließ sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls sacken wie ein bockiger Schuljunge. Seine Arme und sein schwabbeliger Oberkörper waren mit Tattoos bedeckt. Seinen kahlrasierten Schädel zierten mehrere Narben. Hunter vermutete, dass er sich die meisten davon im Gefängnis geholt hatte.

»Das ist doch Verarsche, Mann«, brummte Tito und fummelte nervös an einem gelben Plastikfeuerzeug herum. »Ihr habt kein Recht, einfach so bei mir reinzuplatzen. Ich hab eine absolut weiße Weste. Da könnt ihr meinen Bewährungshelfer fragen. Der wird das bestätigen.«

»Klar hast du das, Tito«, entgegnete Hunter. Er fing seinen Blick ein und tippte sich dreimal an die Nase. »Schneeweiß.«

Tito wischte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenlöcher und betrachtete dann die Fingerspitzen, an denen ein weißes Pulver klebte. Er rieb sich weitere vier-oder fünfmal die Nase und schnaubte dabei jedes Mal laut, um auch die letzten Reste loszuwerden. »Mann, das ist doch Katzenpisse. Wir haben da drinnen nur ein bisschen Spaß gehabt, ihr wisst doch, wie das ist. Nichts Krasses, Mann. Nur was, um uns in Schwung zu bringen. Ich hab heute frei. Wir haben bloß ein bisschen Dampf abgelassen, alles klar?«

»Reg dich ab, Tito. Wir sind nicht hier, um dich festzunehmen oder deine kleine Party da drinnen zu sprengen«, sagte Garcia mit einer Kopfbewegung in Richtung Schlafzimmer. »Steck einfach mal für fünf Minuten deine Latte weg, wir wollen uns wirklich nur unterhalten.«

»Ihr seid wohl auf’m Trip, Alter. Wenn ich eine Latte hätte, würde der Tisch umkippen.« Er feixte. »Ja, genau. Ich bin so heiß, ich kann mit der flachen Hand eine Hose bügeln.«

»Okay, von mir aus, Dr. Dauersteif«, sagte Hunter, der Tito direkt gegenüberstand. »Wir müssen dir nur ein paar Fragen stellen, dann bist du uns wieder los.«

»Fragen worüber?«

»Über einen Mithäftling aus dem Staatsgefängnis in Lancaster.«

»Scheiße, Alter, seh ich aus wie die Auskunft?«

Garcia klatschte einmal in die Hände, um Titos Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Jetzt pass mal gut auf, Alter, ich sage es nämlich nur einmal. Ich habe gesagt, wir sind nicht hier, um dich hochzunehmen, aber ich kann meine Meinung auch ganz schnell ändern. Bestimmt würde dein Bewährungshelfer sehr gerne von deinen kleinen Drogenpartys erfahren. Wie würde es dir gefallen, den Rest deiner dreieinhalb Jahre im Knast abzusitzen?«

»Oder sogar noch länger«, ergänzte Hunter. »Wenn man dich wegen Drogenbesitzes und möglicherweise Drogenhandels drankriegt, kommen noch mindestens zwei Jahre dazu.«

Tito biss sich auf die Lippe. Er wusste, dass er in der Patsche saß.

»Pass auf, Tito, wir würden einfach gerne erfahren, ob du weißt, wo wir einen gewissen Ken Sands finden können.«

Tito riss die Augen auf wie ein Haifisch sein Maul. »Ihr wollt mich wohl verarschen.«

»Daraus schließe ich, dass du ihn kennst«, sagte Garcia.

»Klar kenn ich den. Jeder in Block A hat den gekannt. Der war krass drauf, Mann. Und ich meine echt krass drauf, kapiert? Ist er ausgebrochen?«

»Nein, er wurde vor sechs Monaten entlassen«, sagte Hunter. »Er hat seine Strafe abgesessen.«

»Und schon sind wieder die Cops hinter ihm her.« Tito lachte. »Wen wundert’s.«

»Ihr zwei wart Freunde da drinnen?«

»Schwachsinn, Mann. Ich kannte ihn, aber ich hab schön brav einen Bogen um ihn gemacht. Der Typ hatte ein Temperament wie eine Atombombe. Hatte einen Hass auf alles und jeden. Aber schlau war der. Immer wenn die Schließer kamen, hat er einen auf lammfromm gemacht. Höflich und respektvoll. Er hat in Lanc fast nie Ärger gekriegt. Und er hatte ständig Bücher dabei. Der Typ hat gelesen wie ein Bekloppter. Wie ein Mann auf einer Mission, klar, was ich meine? Aber er hatte einen gewissen Ruf, und niemand ist ihm zu nahe gekommen.«

»Ruf?«, hakte Garcia nach.

Wieder zuckte Titos Kopf. »Da war mal dieser Typ, der über ihn gelästert hat. Ihr kennt ja die Sorte, Gorillas mit jeder Menge Muskeln, die sich für König Arschtreter halten. Na ja, der Typ hat Ken vor allen anderen runtergemacht. Zuerst hat Ken gar nicht drauf reagiert. Er hat auf den richtigen Moment gewartet. Er hatte viel Geduld. Hat nie was überstürzt. Na ja, irgendwann kam der Moment, und er hat den Typen allein in der Dusche erwischt. Der hat Ken nicht mal kommen sehen. Niemand hat was mitbekommen, und sowieso war so viel Zeit vergangen, seit der Typ über Ken gelästert hatte, dass man die zwei Sachen gar nicht in Zusammenhang gebracht hat. Ken hat nie Ärger dafür gekriegt.«

Hunter und Garcia wussten, dass solche Vorfälle in Gefängnissen an der Tagesordnung waren.

Tito schüttelte den Kopf und begann erneut mit seinem Feuerzeug zu spielen. »Der Typ vergisst niemals, Mann. Wenn der es auf dich abgesehen hat, dann kannst du einpacken, und zwar in drei Lagen Geschenkpapier mit Schleife obendrauf. Weil er dich nämlich garantiert kriegen wird.« Tito hustete wie ein Lungenkranker. »Ich war im Hof, als der Gorilla Ken runtergemacht hat. Ich hab den Blick in Kens Augen gesehen. Den werd ich nicht so schnell vergessen. Da hab sogar ich Schiss gekriegt, obwohl ich mit der Sache gar nix zu tun hatte. Als hätte er den Teufel im Leib oder so was. Ich hab seinen Namen nicht mehr gehört, seit ich aus Lancaster raus bin. Und ich wär auch nicht böse, wenn ich ihn nie wieder hören müsste. Der Typ ist ’ne ganz üble Nummer, Leute.«

»Wir müssen ihn finden.«

»Und wieso fragt ihr da mich? Ihr seid doch die Ermittler, oder nicht? Ermittelt halt.«

»Genau das tun wir doch, Einstein.« Garcia schlenderte in Richtung Küchenecke. Dort mischte sich der Geruch von Marihuana mit dem von geronnener Milch. In der uralten Spüle türmte sich schmutziges Geschirr. Die Arbeitsflächen waren mit Papptellern, Essensschachteln und leeren Bierdosen übersät. »Deine Deko-Ideen gefallen mir«, meinte Garcia und öffnete die Kühlschranktür. »Bier?«

»Du fragst mich, ob ich mein eigenes Bier trinken will?«

»Ich will nur höflich sein, aber du vermasselst es mir total.« Garcia knallte die Kühlschranktür wieder zu und trat auf das Pedal des Mülleimers. Als der Deckel sich hob, entwich eine überwältigende Cannabiswolke. »O Gott!« Garcia wich einen Schritt zurück und verzog das Gesicht. »Sind das etwa die Stummel von Joints? Da müssen ja mindestens hundert Stück drin sein.«

»Hey, Mann, was soll der Scheiß?«

»Tito.« Hunter setzte sich vor Tito hin – so war seine Haltung weniger bedrohlich. Er wollte, dass Tito sich ein bisschen entspannte. »Wir müssen Sands wirklich dringend finden, verstehst du?«

»Woher soll ich wissen, wo der steckt, verdammt? Wir waren ja nicht befreundet oder so.«

»Aber du warst mit anderen befreundet, die möglicherweise das eine oder andere wissen.« Hunter beobachtete, wie Titos Pupillen sich bewegten. Er versuchte sich zu erinnern. Sekunden später kamen sie zur Ruhe, und sein Blick wurde starr. Ihm war jemand eingefallen.

»Ich hab keine Ahnung, wen ich da fragen soll, Mann.«

»Doch, die hast du«, konterte Hunter.

Titos und Hunters Blicke kreuzten sich einen Moment lang.

»Hör zu, Kumpel.« Garcia umrundete den Tisch. »Alles, was wir wollen, sind ein paar Informationen. Wir müssen wissen, wo wir Sands finden können, es ist sehr wichtig. Im Gegenzug dafür bekommst du nicht innerhalb der nächsten Stunde Besuch von deinem Bewährungshelfer oder unseren Kollegen von der Drogenfahndung. Ich bin mir sicher, dass die deine Wohnung liebend gern durchsuchen würden, vor allem das Zimmer mit deinen zwei jungen Bekannten drin.«

»Das ist doch Arschwichse, Mann.«

»Tja, was anderes haben wir leider nicht im Angebot.«

»Kacke.« Noch ein nervöses Zucken, gefolgt von einem tiefen Seufzer. »Ich schau mal, was ich rausfinden kann. Aber ich brauch Zeit.«

»Die hast du. Bis morgen.«

»Das ist doch wohl ein Scherz!«

»Sehen wir so aus, als würden wir Scherze machen?«, fragte Garcia.

Tito zögerte.

Garcia suchte nach seinem Handy.

»Okay, Leute, ich seh mal, was sich machen lässt. Ich meld mich morgen bei euch. Könnt ihr euch jetzt verpissen?«

»Noch nicht ganz«, sagte Hunter. »Da ist noch jemand anders.«

»Ich glaub’s ja wohl nicht.«

»Ein anderer Mithäftling. Raul Escobedo. Schon mal von dem gehört?«

Auf der Fahrt zu Titos Wohnung hatte Hunter Garcia von seinem Treffen mit Seb Stokes und von Raul Escobedo berichtet.

»Wer?« Titos Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Sein Name ist Raul Escobedo«, wiederholte Hunter. »Er hatte ebenfalls ein Zimmer in Lancaster. Sexualstraftäter.«

»Ein Vergewaltiger?« Tito sah ihn verdattert an.

»Genau.«

»Nee, Mann, bist du drauf oder was? Tun sie neuerdings Hasch in eure Donuts?«

»Ich esse keine Donuts.«

»Ich auch nicht«, sagte Garcia.

»Ich war in Block A, Alter, da sitzen die echt krassen Wichser und die Typen, die Einzelhaft gekriegt haben. Auf keinen Fall würden sie einen Vergewaltiger zu uns stecken, klar? Es sei denn, die Bullen wollen, dass er abkratzt. Der wäre innerhalb der ersten Stunde in den Arsch gefickt und tot.«

Tito sagte die Wahrheit. So ging es in den Gefängnissen Kaliforniens zu, und Hunter wusste das. Jeder Häftling, egal welches Verbrechen er begangen hatte, hasste Vergewaltiger. Sie galten als allerniedrigster Abschaum – als Feiglinge, die nicht den Mumm hatten, ein richtiges Verbrechen zu begehen, und die nur dann eine Frau abbekamen, wenn sie Gewalt anwendeten. Außerdem hatte jeder Gefangene eine Mutter, eine Schwester, Tochter, Ehefrau oder Freundin – jemanden, der selbst zum Opfer eines Vergewaltigers werden konnte. Normalerweise wurden Vergewaltiger in einem eigenen Flügel untergebracht, weit weg von den übrigen Häftlingen. Die Gefahr war zu groß, dass ihre Mitgefangenen es ihnen mit gleicher Münze heimzahlten und sie danach brutal ermordeten. Dergleichen war schon oft vorgekommen.

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