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Einen Moment lang sagte keiner ein Wort. Jude hatte soeben den Beweis geliefert, dass sich Derek Nicholson, Andrew Dupek und Nathan Littlewood tatsächlich gekannt hatten und regelmäßig zusammen unterwegs gewesen waren. Außerdem schien Hunters Theorie nun auch in dem Punkt bestätigt, dass die Gruppe tatsächlich noch ein viertes Mitglied gehabt hatte.

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie sich an keine weiteren Namen erinnern können?«, fragte Hunter schließlich und brach damit das Schweigen.

Jude fuhr sich mit der Zunge über die spröde Unterlippe. »Darüber zerbrech ich mir den Kopf, seit ich die Bilder in der Zeitung gesehen hab und mir klargeworden ist, wer die drei sind. Das war so ein Abend, den man so schnell wie möglich wieder vergessen möchte. Eigentlich hab ich seit Jahren nicht mehr dran gedacht. Wie gesagt, ich bin davor schon von vielen anderen Arschlöchern verdroschen worden.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Mehr wollte ich gar nicht sagen. Keine Ahnung, ob Ihnen das irgendwie weiterhilft, aber wenigstens bin ich es jetzt losgeworden und kann hoffentlich wieder schlafen.«

»Eine Sache noch«, sagte Hunter, bevor Jude aufstehen konnte. »Haben Sie die vier je wiedergesehen? Oder einen von ihnen?«

Jude blickte auf ihre knochigen Hände herab. Ihr hellrosa Lack war an jedem Nagel abgeblättert. »Ich hab Arschloch danach noch mal gesehen, ein paar Monate später. Ich hab Ihnen ja gerade gesagt, dass ich noch im selben Jahr ausgestiegen bin.«

»Wo haben Sie ihn gesehen?« Die Frage kam von Garcia.

»Am selben Ort, unten am Hollywood Boulevard. Er hat ein anderes Mädchen aufgegabelt.« Sie stutzte kurz und machte ein Geräusch, das sich anhörte wie ein gedämpftes Auflachen. »Hm.«

»Gibt es noch was?« Hunter hatte ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet.

Jude schwieg, während sie ihr Gedächtnis nach einer alten Erinnerung durchforstete. Sie legte die Handtasche wieder weg. »Da war dieses Mädchen, das gerade am Strip angefangen hatte. Roxy hat sie sich genannt. Sie war neu, deswegen haben die anderen Mädchen sie von den guten Plätzen weggejagt. Ich hab ihr gesagt, sie kann mit an meiner Ecke stehen.« Jude legte den Kopf schief. »Ich wusste ja, wie schwer es auf dem Strich sein kann, vor allem wenn man neu ist. Ich wollte ihr halt ein bisschen helfen. Sie war nett. Nicht atemberaubend hübsch, aber ganz niedlich. Allerdings ziemlich dünn. Ich hab ihr gesagt, sie braucht ein bisschen Speck auf den Rippen. Männer mögen Kurven, das ist nun mal eine Tatsache. Aber ihr größtes Problem war, dass sie total nervös war und keine Ahnung hatte, wie sie richtig stehen soll.«

Weder Hunter noch Garcia sagten etwas. Jude erklärte es ihnen trotzdem.

»Auf dem Strich muss man sich richtig präsentieren, und das hängt alles davon ab, wie man steht und wie man guckt. Wenn man falsch dasteht, wird man nie angesprochen. So funktioniert das eben. Na ja, nach einer Stunde oder so hat sie mir leidgetan. Ich hab ihr einen Kaffee spendiert und beschlossen, ihr ein paar Tipps zu geben. Das war ihr erster Abend auf dem Strich. Sie hat mir gesagt, dass sie alles versucht hat, aber nirgendwo einen Job kriegt. Sie war völlig am Ende, deswegen hat sie irgendwann beschlossen, anschaffen zu gehen. Aber sie war kein Junkie. Einen Drogenabhängigen erkenne ich auf den ersten Blick.«

Hunter und Garcia wussten, dass Prostitution und Drogenmissbrauch meistens Hand in Hand gingen.

Erneut blickte Jude auf ihre Hände. »Sie war nicht deshalb am Ende, weil sie Drogen brauchte. Wenigstens nicht die Art von Drogen.«

Hunter sah sie fragend an.

»Sie hat mir erzählt, dass sie ein krankes Kind zu Hause hat. Sie brauchte Geld für Medikamente. Sie hatte richtig Angst um ihr Kind. Hat gesagt, dass sie es nur einen Abend machen müsste, vielleicht auch zwei, dann hätte sie genug für die Medikamente zusammen.« Jude schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerung zu vertreiben. »Na ja, ich hab ihr jedenfalls ein paar Tricks gezeigt, und dann sind wir zurück zu meinem Platz an der Ecke.«

»Verstehe«, sagte Garcia. »Und dann?«

»Später an dem Abend hatte ich einen Freier – eine schnelle Nummer um die Ecke, zwanzig Minuten. Als ich zurückkam, hab ich gesehen, wie sie gerade in einen Wagen gestiegen ist. Sie hat mir zugewinkt, als sie an mir vorbeigefahren sind, und da hab ich gesehen, wer am Steuer sitzt. Dupek, das Arschloch. Ich hab noch versucht, sie anzuhalten, aber der Wagen fuhr zu schnell.«

»Und was ist dann passiert?«, fragte Hunter.

»Keine Ahnung. Sie ist an dem Abend nicht mehr wiedergekommen.« Jude zuckte mit den Schultern. »Am Abend danach auch nicht. Jedenfalls nicht an meine Ecke. Ich hab mir ein bisschen Sorgen gemacht. Ich dachte, vielleicht ist ihr das Gleiche passiert wie mir. Dass dieselben vier Scheißkerle über sie hergefallen sind. Ich hab ja gesagt, es hat danach eine Woche gedauert, bis ich wieder arbeiten konnte, und ich war viel kräftiger als sie. Ich hab sie nie wiedergesehen. Aber vielleicht hat sie nach der Nacht auch aufgehört. Hoffe ich wenigstens. Sie hat gesagt, sie bräuchte es nur ein Mal zu machen. Oder sie hat Schiss bekommen. Das ist häufig so bei den Neuen. Sobald sie ihren ersten gewalttätigen Freier kriegen – und den kriegen früher oder später alle –, stellen sie fest, dass der Strich doch nicht das Richtige für sie ist. Arschloch und seine Freunde hab ich danach auch nicht wiedergesehen.«

Hunter wollte noch mehr wissen. »Hat diese Roxy Ihnen jemals gesagt, wie ihr Kind heißt?«

»Bestimmt, aber ich hab’s vergessen. Das ist achtundzwanzig Jahre her.« Erneut machte Jude Anstalten, aufzustehen und zu gehen.

Hunter erhob sich ebenfalls und hielt ihr eine Visitenkarte hin. »Falls Ihnen noch was einfällt, einer der Namen zum Beispiel, würden Sie mich bitte anrufen? Egal um welche Uhrzeit.«

Jude sah Hunters Karte an, als wäre sie giftig. Nach langem Zögern nahm sie sie schließlich und verließ das Café.

Hunters einziger Gedanke war, dass er sich geirrt hatte. Das Schattenbild von Andrew Dupeks Boot stellte keine Schlägerei dar. Sondern eine Vergewaltigung.

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