6

Ein drückendes Schweigen breitete sich aus. Hunter machte ein paar Schritte auf die Wand zu und betrachtete sehr ausgiebig die Buchstaben.

»Was hat der Täter zum Schreiben benutzt, einen mit Blut getränkten Lappen?«, fragte er.

»Das wäre auch meine Vermutung«, stimmte Dr. Hove ihm zu. »In ein, zwei Tagen wird das kriminaltechnische Labor Genaueres sagen können.« Sie drehte sich von der Wand weg und wandte sich abermals zum Bett. Ihre Stimme zitterte vor Bestürzung. »Das da ist jenseits von Gut und Böse, Robert. Schlimmer als jeder Mord, mit dem ich bis jetzt zu tun hatte. Der Täter muss stundenlang hier im Zimmer gewesen sein. Er hat sein Opfer zuerst gefoltert und dann in Stücke geschnitten. Und als wäre das nicht genug, hat er uns auch noch das da hinterlassen.« Sie wies auf die blutige Skulptur. »Und er hat noch Zeit gefunden, eine Botschaft an die Wand zu schreiben.« Sie sah zu Garcia. »Wie alt ist die junge Frau noch gleich? Die Pflegerin?«

»Dreiundzwanzig.«

»Sie wissen besser als jeder andere, Robert, dass sie Monate, vielleicht sogar Jahre in psychotherapeutischer Behandlung verbringen wird, wenn sie das hier irgendwie verarbeiten will. Falls man so etwas überhaupt verarbeiten kann. Der Täter war im Zimmer, als sie zurückgekommen ist, um ihr Buch zu holen. Wenn sie Licht gemacht hätte, dann hätten wir jetzt zwei Leichen, und sie wäre auch Teil dieses widerwärtigen Dings da.« Wieder deutete sie auf die Skulptur. »Ihre Laufbahn als Krankenschwester ist vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat, und wahrscheinlich wird sie ihr Leben lang psychisch labil bleiben. Von den Alpträumen und schlaflosen Nächten will ich gar nicht reden. Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie zermürbend so etwas sein kann.«

Es war kein großes Geheimnis, dass Hunter unter chronischer Hyposomnie litt. Angefangen hatte sie kurz nach dem Krebstod seiner Mutter. Er war damals sieben Jahre alt gewesen.

Hunter war als einziges Kind armer Eltern in Compton, einem sozialen Brennpunktbezirk im Süden von Los Angeles, aufgewachsen. Da er außer seinem Vater keine Familie hatte, war er in seiner Trauer um seine Mutter ganz allein gewesen. Sie fehlte ihm so sehr, dass es ihm körperliche Schmerzen bereitete.

Es fing nach der Beerdigung an. Immer öfter fürchtete er sich vor seinen Träumen, denn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er das Gesicht seiner Mutter vor sich. Er sah sie weinen, sah, wie sie ihn mit schmerzverzerrten Zügen um Hilfe anflehte und für ihren Tod betete. Er sah ihren einst gesunden, starken Körper, nun so schwach und aufgezehrt, dass sie nicht einmal mehr aus eigener Kraft sitzen konnte. Er sah ihr Gesicht, das früher so wunderschön gewesen war, mit dem strahlendsten Lächeln, das man sich überhaupt vorstellen konnte, und das sich in ihren letzten Lebensmonaten bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Und trotzdem hatte er auch dieses Gesicht über alles geliebt.

Der Schlaf wurde für ihn zu einem Gefängnis, dem er um jeden Preis entfliehen wollte. Nicht mehr zu schlafen war die logische Antwort seines Körpers, um die Angst und die schrecklichen Alpträume, die ihn nachts quälten, abzustellen. Ein simpler Abwehrmechanismus.

Hunter wusste nicht, was er auf Dr. Hoves Bemerkung erwidern sollte.

»Wer um alles in der Welt ist zu so was fähig?« Angewidert schüttelte sie den Kopf.

»Jemand mit einer Menge Hass«, sagte Hunter leise.

Plötzlich wurden sie durch lautes Rufen aufgeschreckt, das aus dem Erdgeschoss zu ihnen nach oben drang. Es war eine Frauenstimme, die sich rasch bis zur Hysterie steigerte. Hunter warf Garcia einen besorgten Blick zu.

»Eine der Töchter«, sagte er und strebte dem Ausgang zu. »Sorgt dafür, dass die Tür hier zubleibt.« Er verließ das Zimmer, durchquerte rasch den Flur und erreichte die Treppe. Am unteren Treppenabsatz, halb von zwei uniformierten Polizisten verdeckt, stand eine Frau. Sie war vielleicht um die dreißig und hatte langes blondes Haar, das ihr in sanften Wellen über die Schultern fiel. Ihr Gesicht war herzförmig mit blassgrünen Augen, markanten Wangenknochen und einer zierlichen Stupsnase. In ihrer Miene lag ein Ausdruck blanker Verzweiflung. Hunter war bei ihr, bevor sie sich von den Polizisten losreißen konnte.

»Ist schon gut«, sagte er und hob die rechte Hand. »Ich kümmere mich darum.«

Die Polizisten rückten von der Frau ab.

»Was ist hier los? Wo ist mein Vater?« Ihre Stimme war heiser vor Angst und Sorge.

»Ich bin Detective Robert Hunter vom LAPD«, sagte Hunter mit größtmöglicher Ruhe.

»Es ist mir völlig egal, wer Sie sind. Wo ist mein Vater?«, fragte die Frau erneut und versuchte sich an Hunter vorbeizudrängen.

Dieser machte einen kleinen Schritt rückwärts und versperrte ihr den Weg. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick, und er schüttelte sachte den Kopf. »Es tut mir leid.«

Sie schloss die tränenfeuchten Augen und fuhr sich mit der Hand zum Mund. »O Gott, Daddy …«

Hunter ließ ihr einen Moment Zeit.

Sie erstarrte, dann schaute sie Hunter an, als sei ihr soeben etwas eingefallen. »Was machen Sie hier? Wieso ist die Polizei im Haus? Warum ist draußen alles abgesperrt?«

Seit die Ärzte vier Monate zuvor die Krankheit bei Derek Nicholson diagnostiziert hatten, war seine Familie auf das Unvermeidliche vorbereitet. Das Ende war absehbar gewesen, insofern kam der Tod des Vaters für seine Tochter nicht wirklich überraschend. Die näheren Umstände hingegen schon.

»Tut mir leid, ich weiß Ihren Namen gar nicht«, sagte Hunter.

»Olivia. Olivia Nicholson.«

Hunter hatte bereits die weiße Stelle an der Haut ihres Ringfingers bemerkt. Entweder war sie kürzlich Witwe geworden oder geschieden. Die meisten Witwen in Amerika haben es nicht eilig, ihren Ehering und den Namen ihres verstorbenen Mannes abzulegen, außerdem sah Olivia noch zu jung aus, um Witwe zu sein, es sei denn, ein tragischer Unfall war der Grund. Hunter tippte auf geschieden.

»Könnten wir uns vielleicht irgendwo unterhalten, wo wir ungestört sind, Ms Nicholson?«, schlug Hunter vor, während er gleichzeitig in Richtung Wohnzimmer deutete.

»Wir können uns hier unterhalten«, gab sie herausfordernd zurück. »Was geht hier vor? Was hat das alles zu bedeuten?«

Hunters Blick schweifte zu den beiden Polizisten, die noch immer in der Nähe der Treppe standen und die Szene neugierig verfolgten. Beide verstanden den Wink sofort und zogen sich in Richtung Haustür zurück. Hunter richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Olivia.

»Ihr Vater ist nicht an seiner Krankheit gestorben.« Er wartete, bis Olivia seine Worte vollständig erfasst hatte, erst dann fuhr er fort. »Er wurde ermordet.«

»Was? Das … das ist doch absurd.«

»Bitte, setzen wir uns doch irgendwo hin«, bat Hunter noch einmal.

Olivia atmete aus. Wieder traten ihr Tränen in die Augen. Endlich gab sie nach und folgte Hunter ins große Wohnzimmer. Hunter wollte nicht, dass sie sich im selben Raum aufhielt wie die Pflegerin.

Olivia nahm in einem hellbraunen Sessel am Fenster Platz. Hunter wählte das Sofa gegenüber.

»Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«, fragte er.

»Ja, bitte.«

Hunter wartete an der Tür, während ein Uniformierter zwei Gläser mit Wasser holte. Eins davon reichte er Olivia, die es in einem Zug austrank.

Hunter setzte sich wieder und erklärte mit ruhiger, fester Stimme, dass sich in den frühen Morgenstunden jemand Zutritt zum Haus und zu Mr Nicholsons Schlafzimmer verschafft habe.

Olivia zitterte und schluchzte die ganze Zeit und wollte – verständlicherweise – kein Wort glauben.

»Wir wissen noch nicht, warum Ihr Vater ermordet wurde. Wir wissen auch nicht, wie der Täter ins Haus gelangt ist. Im Augenblick gibt es eine ganze Wagenladung voller Fragen und keine Antworten. Aber wir werden alles daransetzen, sie zu finden.«

»Mit anderen Worten, Sie haben keinen blassen Schimmer, was passiert ist«, gab sie aufgebracht zurück.

Hunter schwieg.

Olivia erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich verstehe das nicht. Wer sollte meinen Vater umbringen wollen? Er hatte Krebs. Er war doch … schon so gut wie tot.« Zum dritten Mal füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Noch immer sagte Hunter nichts.

»Wie?«, fragte sie.

Hunter sah sie an.

»Wie wurde er ermordet?«

»Für die genaue Todesursache müssen wir die Autopsie abwarten.«

Olivia runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie dann, dass es Mord war? Wurde er erschossen? Erstochen? Erwürgt?«

»Nein.«

Sie machte ein verwirrtes Gesicht. »Woher wissen Sie es dann?«

Hunter stand auf und ging zu ihr. »Wir wissen es.«

Ihr Blick glitt zurück zur Treppe. »Ich will hoch in sein Zimmer.«

Hunter legte ihr sanft die Hand auf die linke Schulter. »Bitte, vertrauen Sie mir, Ms Nicholson. Wenn Sie in sein Zimmer gehen, wird das keine Ihrer Fragen beantworten. Und es wird Ihnen auch nicht in Ihrem Kummer helfen.«

»Wieso nicht? Ich will wissen, was mit ihm passiert ist. Was verheimlichen Sie mir?«

Hunter zögerte kurz, aber er wusste, dass sie ein Recht hatte, es zu erfahren. »Er wurde verstümmelt.«

»O Gott!« Ihre Hände flogen an ihren Mund.

»Ich weiß, dass Sie und Ihre Schwester gestern Abend hier waren. Sie haben mit Ihrem Vater zu Abend gegessen, ist das richtig?«

Olivia zitterte so heftig, dass sie es kaum fertigbrachte zu nicken.

»Bitte«, sagte Hunter. »Behalten Sie Ihren Vater so in Erinnerung, wie Sie ihn bei diesem Abendessen erlebt haben.«

Daraufhin brach Olivia in hemmungsloses Schluchzen aus.

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