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Obwohl der erste Raum im Wesentlichen als Wartebereich diente, war er eingerichtet wie ein Wohnzimmer – ein bequemes Sofa, zwei einladende Sessel, ein niedriger Tisch aus Glas und Chrom, ein langfloriger ovaler Teppich und an den Wänden gerahmte Bilder. In einer Ecke, halb verborgen, stand der Anmeldetresen. Er war geschickt so platziert, dass er nicht zu sehr auffiel. Zwei Kriminaltechniker verrichteten schweigend ihre Arbeit. Hunter sah, dass die Tür zur Praxis keine Alarmsicherung hatte, auch schien sie nicht aufgebrochen worden zu sein. Überwachungskameras gab es, soweit er sehen konnte, nicht. Auch keine Schuhabdrücke auf Teppich oder Auslegware. Zusammen mit Garcia ging er zur Tür auf der anderen Seite des Raums, rechts neben der Anmeldung.

Wie schon bei den zwei vorherigen Tatorten war auch hier das Erste, was Hunter beim Öffnen der Tür sah, das Blut – große Lachen bedeckten den Teppichboden, dünne arterielle Spritzmuster zogen sich kreuz und quer über Wände und Möbel. Hunter und Garcia verharrten einen Moment lang im Türrahmen, als hätte das Grauen dessen, was in diesem Raum passiert war, ein Kraftfeld geschaffen, das sie am Weitergehen hinderte.

Das, was von Littlewoods verstümmeltem Körper übrig war, saß auf einem blutgetränkten Bürostuhl mit Rollen, etwa zweieinhalb Meter von einem großen Rosenholz-Schreibtisch entfernt. Die Leiche hatte weder Arme noch Beine – sie war lediglich ein entstellter, über und über mit schmierigem, dunkelrotem Blut bedeckter Torso samt Kopf. Der Mund stand offen, wie mitten in einem Schrei erstarrt, den niemand mehr gehört hatte. Die Menge an dunkel geronnenem Blut, das aus dem Mund gelaufen war und nun Kinn und Brust verklebte, verriet Hunter, dass der Täter Littlewood die Zunge entfernt hatte. Sein Oberkörper war von tiefen Schnittwunden übersät – ein klares Indiz dafür, dass er gefoltert worden war. Die linke Brustwarze war abgeschnitten worden. Aufgrund des vielen Blutes konnte Hunter es nicht genau erkennen, aber die Haut um die rechte Brustwarze sah irgendwie merkwürdig aus. Beide Lider waren geöffnet. Das rechte Auge blickte starr vor Entsetzen geradeaus, das linke fehlte; wo es gewesen war, befand sich jetzt nur noch eine leere dunkle Höhle. Trotz der Hitze im Zimmer gefror Hunter das Blut in den Adern.

Sein Blick wanderte langsam die zweieinhalb Meter von der Leiche zum Schreibtisch. Computerbildschirm, Bücher und alles andere, was sich zuvor darauf befunden hatte, lagen nun in einem unordentlichen Haufen am Boden. Der Mörder hatte den Schreibtisch als Bühne für sein neuestes makabres Kunstwerk auserkoren.

Littlewoods Arme waren an den Ellbogen durchtrennt worden. Die Unterarme waren einander gegenüber an den beiden Schmalseiten des Schreibtischs aufgestellt. Die Handgelenke schienen gebrochen. Zeige-und Mittelfinger beider Hände waren zu einem V gespreizt, die übrigen Finger, mit Ausnahme der Daumen, waren bei beiden Händen abgeschnitten worden.

Die Mittelhandknochen oberhalb der Zeigefinger waren ausgerenkt, so dass an der Stelle eine widerliche Beule entstanden war, die sich wie ein Geschwulst unter der Haut abzeichnete. Die Handgelenke waren zur Innenseite der Unterarme hin abgewinkelt. Bei der linken Hand waren Zeige-und Mittelfinger lang ausgestreckt, so dass die Fingerspitzen die Tischplatte berührten. Von weitem sah es so aus, wie wenn Kinder Fingermännchen spielen: Die zum V geformten Finger waren die Beine, die Hand der dazugehörige Körper. Der linke Daumen war am Gelenk ausgekugelt und ein Stück nach vorn gebogen.

Bei der rechten Hand berührten die Finger ebenfalls die Tischplatte, allerdings hatte der Mörder hier jeweils die Endglieder abgeschnitten und so die »Beine« verkürzt. Genau wie bei der anderen Hand war auch hier der Daumen am Gelenk ausgekugelt und nach vorn gedrückt worden, zusätzlich musste das Daumenendglied gebrochen worden sein, denn die Daumenspitze zeigte seltsam verdreht zur Zimmerdecke.

Hunter blickte auf, um zu überprüfen, ob der verrenkte Daumen auf etwas Bestimmtes deutete. Nichts. An der Decke waren ein paar Blutspritzer zu sehen, aber das war auch schon alles.

Littlewoods Beine befanden sich nicht auf dem Schreibtisch, sie lagen in der Nähe des Monitors auf dem Fußboden – allerdings nur die Stümpfe, die Füße fehlten. Aus dem rechten Oberschenkel war ein Stück herausgeschnitten. Darüber hinaus schienen die Beine nicht Teil der Skulptur zu sein.

Etwas war diesmal neu, anders als zuvor: Die Skulptur bestand nicht ausschließlich aus abgetrennten Körperteilen, vielmehr hatte der Täter sein Werk durch einen Bürogegenstand ergänzt. Ein kleines Stück von einer der Schreibtischecken entfernt, in einem Abstand von etwa neunzig Zentimetern zu Littlewoods linker Hand – der Hand mit den längeren »Beinen« –, lag ein Buch auf der Tischplatte. Es war dick mit festem Einband, die Seiten blutgetränkt. Der Buchdeckel war aufgeklappt. Drei von Littlewoods abgetrennten Fingern waren auf rätselhafte Art und Weise im Buch platziert worden.

Hunter runzelte nachdenklich die Stirn. Irgendetwas stimmte da nicht.

Er trat näher an den Schreibtisch heran und erkannte, dass es sich gar nicht wirklich um ein Buch handelte, sondern um eine Schachtel, die lediglich als Buch getarnt war. Von weitem sah die Attrappe täuschend echt aus.

Aus der Nähe stellte Hunter nun auch fest, dass die Finger, die in der Buchattrappe lagen, zurechtgeschnitzt und verbogen worden waren. Zwei hingen über die Seiten, der dritte war schräg gegen den Rand der Schachtel gelehnt, so dass die Fingerkuppe oben herausragte. Die Schachtel selbst war mit Blut gefüllt.

Littlewoods rechter Arm mit den kürzeren »Beinen« auf der anderen Schreibtischseite war mit Blick zum Bücherregal in der Ecke aufgestellt worden. Etwa fünfzig Zentimeter vor dem Arm lagen die aus dem Oberschenkel herausgeschnittenen Fleischstücke.

Dr. Hove und Mike Brindle, der Leiter der Kriminaltechnik, standen rechts neben dem Schreibtisch. Sie hatten beim Eintreten der zwei Detectives gerade im Flüsterton miteinander gesprochen.

Hunter blieb stehen. Genau wie bei den vorherigen Skulpturen wirkte auch hier das Ensemble aus Gliedmaßen und Blut auf den ersten Blick vollkommen sinnlos. Die Kombination mit einem Bürogegenstand machte das Ganze noch verwirrender. Er trat einen Schritt nach rechts und beugte sich vor, um die Buchattrappe genauer in Augenschein zu nehmen.

»Es ist definitiv derselbe Täter«, stellte Dr. Hove fest. »Und bei diesem Opfer hat er sich wieder was ganz Neues einfallen lassen.«

Hunter sah nicht in ihre Richtung.

»Was meinen Sie damit?«, fragte Garcia.

Die Rechtsmedizinerin entfernte sich ein paar Schritte vom Schreibtisch. »Sein erstes Opfer hat der Täter mit Medikamenten vollgepumpt, um Herzschlag und Blutfluss zu regulieren, damit es ihm nicht zu schnell verblutet. Aber er hat ihm kein Betäubungsmittel gegeben. Er hat zwar versucht, es so lange wie möglich am Leben zu halten, aber aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Konstitution ist es trotzdem relativ schnell gestorben. Beim zweiten Opfer, Sie erinnern sich, hat der Täter eine andere Methode angewandt.«

»Das durchtrennte Rückenmark«, sagte Garcia.

»Genau. Der Täter hat seinem Opfer die Schmerzempfindung genommen, indem er jede sensible Funktion des Körpers einfach ausgeschaltet hat. Seine Qualen waren anderer – seelischer – Natur. Es musste hilflos mit ansehen, wie ihm nacheinander all seine Gliedmaßen vom Körper abgetrennt wurden. Er hat sich buchstäblich beim Sterben zugesehen, ohne etwas dabei zu fühlen.«

»Und hier?«, wollte Hunter wissen.

Dr. Hove wandte den Blick ab, als fürchte sie sich davor, auch nur daran zu denken.

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