Hunter veränderte seine Position am Boden, und Olivia zielte mit der Pistole auf seinen Kopf. »Lassen Sie das, Detective. Glauben Sie mir, ich kann schießen. Und auf diese Distanz treffe ich auch. Wenn es irgendetwas gibt, was mein Va…«, sie räusperte sich aufgebracht, »was Derek mir beigebracht hat, dann, wie man eine Waffe abfeuert.«
»Mein Nacken tut weh. Ich habe ihn nur gedehnt.«
»Lassen Sie’s.«
»Schon gut, ich lasse es.«
Olivia machte einige Schritte nach links. »Sie haben mir immer noch nicht verraten, wie Sie mir auf die Schliche gekommen sind. Ich weiß jetzt, dass Sie rausgefunden haben, was ich Ihnen mit meinen Schattenbildern sagen wollte. Aber woher wussten Sie, dass ich es war?«
»Nachdem ich Judes Geschichte gehört hatte, hat es in meinem Kopf angefangen zu arbeiten, und mir kam der Verdacht, dass ich das zweite Schattenbild falsch interpretiert hatte. Es war keine Schlägerei, sondern eine Gruppenvergewaltigung. Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass Roxy Ihre Mutter war, aber ich habe vermutet, dass es damals außer Jude und Roxy noch andere Frauen gab. Die auch Kinder hatten, genau wie Roxy. Und dass eines dieser Kinder die Wahrheit erfahren hatte. Aus dem ersten Schattenbild, das Sie uns hinterlassen hatten, konnte man eindeutig ableiten, dass besagtes Kind durch Derek Nicholson von der Sache erfahren haben musste. Eine Beichte auf dem Sterbebett.«
Olivia lachte zornig auf. »Er konnte damit leben, aber nicht damit sterben. Wie grotesk ist denn so was?«
Hunter wusste, dass es viele Menschen gab, die ihr Leben lang eine schwere Schuld mit sich herumtrugen; doch diese Schuld auch mit ins Grab zu nehmen, dazu waren nur die allerwenigsten bereit.
»Wenn Derek Nicholson dieses Kind zu sich nach Hause bestellt hat, um ihm die Wahrheit zu gestehen«, fuhr Hunter fort, »dann musste das zwangsläufig bedeuten, dass er es irgendwie über die Jahre hinweg im Auge behalten hatte – dass er wusste, wer dieses Kind war und wo es sich aufhielt. Ich habe alle Möglichkeiten durchgespielt, und dann hat Jude mich gestern Nacht noch mal angerufen. Ihr war der Name von Roxys Kind wieder eingefallen – Levy.«
Olivia fuhr zusammen.
»Zuerst dachte ich, es wäre der Nachname oder vielleicht ein Jungenname. Er kam mir irgendwie bekannt vor, und als ich mir dann das Hochzeitsfoto von Nicholson und seiner Frau noch mal angeschaut habe, das Ihre Schwester mir gegeben hat, wusste ich plötzlich wieder, wo ich ihn schon mal gehört hatte. Es war ein Kosename. Allison hat Sie so genannt, neulich in Ihrer Wohnung. Ein eher ungewöhnlicher Kosename für jemanden, der Olivia heißt – aber es war Ihr Kosename.«
In Olivias Gesicht erschien ein wehmütiges Lächeln. »Meine Mutter hat mich immer Levy genannt, nie Liv oder Ollie. Ich mochte den Namen. Er war irgendwie anders. Allison war die Einzige, die mich so genannt hat.«
»Danach habe ich mir Ihren Werdegang angeschaut. Sie haben Medizin studiert.«
Olivia zuckte mit den Schultern. »An der UCLA. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es nicht das Richtige für mich ist. Aber das Wissen hat sich als ganz nützlich erwiesen.«
Danach versank sie wieder in Schweigen, also sprach Hunter weiter.
»Ich habe jemanden angerufen, der sich Zugang zur Datenbank der kalifornischen Sozialbehörden verschaffen konnte. Auf diese Weise habe ich rausgefunden, dass Nicholson Sie während seines ersten Ehejahres adoptiert hat. Eine etwas merkwürdige Entscheidung für ein junges Paar, das, soweit bekannt, keinerlei Schwierigkeiten hatte, eigene Kinder zu bekommen. Im Gegenteil, Nicholson hat Sie adoptiert, als seine Frau bereits mit ihrer ersten Tochter schwanger war – mit Allison.«
»Dann wissen Sie ja auch, dass er mich nur aus schlechtem Gewissen adoptiert hat. Wegen dem, was er getan hatte.« Die Wut war in Olivias Stimme zurückgekehrt. »Er hat sich schuldig gefühlt, weil er zu der Gruppe von Tieren gehört hat, die meine Mutter vergewaltigt und getötet haben. Weil er einfach dabei zugesehen und nichts unternommen hat. Weil er hinterher nicht zur Polizei gegangen ist.«
Hunter sagte nichts.
»Wie sollte ich damit weiterleben, Robert, können Sie mir das verraten? Ich hatte nämlich keine Ahnung. Er hat mich auf seinem Sterbebett zu sich gerufen, um mir mitzuteilen, dass mein ganzes Leben eine Lüge war. Dass er und seine Frau mich nicht adoptiert haben, weil sie mir Liebe und Fürsorge schenken wollten, sondern um an mir ihre Schuld abzuarbeiten.«
»Ich denke nicht, dass Dereks Frau von dem Vorfall wusste«, sagte Hunter.
»Das spielt doch überhaupt keine Rolle!«, spie Olivia wutentbrannt. »Er hat sie überredet, mich bei sich aufzunehmen. Er hat ihr gesagt, meine Mutter wäre ein Junkie gewesen und hätte mich verlassen. Er hat ihr gesagt, ich wäre ein armes kleines Ding, das niemand haben wollte, das niemand liebhätte. Dabei gab es doch jemanden, der mich liebhatte, und es gab jemanden, der mich wollte – bis sie sie mir weggenommen haben! Er war derjenige, der mich nicht wollte. Er wollte bloß die Schuld loswerden, die ihn im Innern zerfressen hat. Ich war seine tägliche Wohlfühlpille, seine Anti-Schuld-Medizin. Er musste mich nur ansehen, und schon fand sein krankes Herz Frieden. Er konnte sich sagen, dass alles gut war, weil er dem Kind dieser armen Hure ein besseres Leben ermöglichte. Aber wissen Sie was? Ich wollte dieses bessere Leben nie haben. Ich war vorher glücklich. Ich habe meine Mutter geliebt. Und er hat mir eingeredet, dass sie mich nicht haben wollte. Dass sie einfach abgehauen ist. Achtundzwanzig Jahre lang habe ich sie dafür gehasst, dass sie mich im Stich gelassen hat!«
Endlich erkannte Hunter, was hinter Olivias unglaublicher Brutalität stand: verdrängter Hass. Sie hatte ihre Mutter achtundzwanzig Jahre lang für etwas gehasst, das diese nicht getan hatte. Sobald sie die Wahrheit herausgefunden und begriffen hatte, dass sie ihr ganzes Leben lang belogen worden war, hatte dieser Hass auf einmal neue Nahrung erhalten – und ein neues Ziel.
In achtundzwanzig Jahren konnte sich sehr viel Hass anstauen.
Eine Träne lief Olivias Wange hinab, und bei den nächsten Worten zitterte ihre Stimme.
»Ich kann mich noch an sie erinnern – an meine Mutter. Wie schön sie war. Ich weiß noch, wie wir jeden Abend, bevor ich ins Bett musste, Schattentheater gespielt haben. Sie war unglaublich geschickt. Sie konnte alles nachmachen – Tiere, Menschen, Engel … einfach alles. Wir hatten nicht viel Geld, deswegen hatte ich nie richtiges Spielzeug. Unser Schattentheater war mein Spielzeug. Wir haben stundenlang dagesessen und uns Geschichten ausgedacht. Alberne kleine Theaterstücke an die Wand geworfen. Kerzenlicht und unsere Hände, mehr haben wir dafür nicht gebraucht. Wir waren glücklich.«
Hunter schloss einen Moment lang die Augen. Deswegen hatte sie die abgetrennten Gliedmaßen ihrer Opfer zu Schattenbildern geformt – als makabren Tribut an ihre Mutter. Auch dies war ein Weg gewesen, ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen.
»Er hat nie mit mir gespielt, wissen Sie?«, sagte Olivia kopfschüttelnd. »Als ich noch klein war, ist er nie mit mir in den Park gegangen oder auf den Spielplatz. Er hat mir nie vorgelesen oder mich auf seinen Schultern reiten lassen oder so getan, als würden wir zusammen Tee trinken, so wie andere Väter. Ich habe immer ganz allein Schattentheater gespielt.«
Hunter ließ sie weiterreden. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Nachdem er es mir gesagt hat, bin ich nach Hause gefahren und habe drei Tage lang nur geheult. Ich hatte keine Ahnung, wie ich weitermachen sollte. Mein ganzes Leben war eine Lüge gewesen, eine gute Tat, damit mein Vater nachts ruhig schlafen konnte. Ich habe nie die Liebe bekommen, die ein Kind verdient hat. Nur von meiner Mutter. Und jetzt wusste ich, dass alle vier, die sie damals in Stücke gehackt und ins Meer geworfen haben wie Abfall – dass diese vier Menschen inzwischen Familie hatten, eine Karriere … dass sie für das, was sie getan hatten, nicht einen Funken Scham oder Reue empfanden. Und dass sie nie ihre gerechte Strafe erhalten hatten. Das war das Allerschlimmste.«
Hunter wusste, dass es nur wenige Menschen gab, die an dem, was Olivia widerfahren war, nicht innerlich zerbrochen wären. Und dass selbst diese Menschen für immer gezeichnet wären.
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass mir Dereks Geständnis nichts genützt hätte, um diese Schweine vor Gericht zu bringen. Es ist vor achtundzwanzig Jahren passiert, und ich hatte keine Beweise, nur das Wort eines Sterbenden. Die Polizei hätte nichts unternommen und auch die Staatsanwaltschaft nicht oder sonst jemand. Niemand hätte mir geglaubt. Ich hätte einfach weiterleben müssen wie bisher, so wie ich die letzten achtundzwanzig Jahre gelebt hatte.« Sie schüttelte den Kopf. »Das konnte ich nicht. Hätten Sie das gekonnt?«
Hunter dachte an die Zeit zurück, kurz nachdem sein Vater in der Bank of America niedergeschossen worden war. Er war damals noch nicht bei der Polizei gewesen. Aber er konnte sich noch gut an seinen Zorn erinnern. Ein Zorn, der immer noch in ihm schlief. Und Polizist hin oder her, sollte er jemals denen begegnen, die seinen Vater auf dem Gewissen hatten, würde er sie töten – ohne einen Augenblick des Zögerns.
»Ich war so kurz davor, mich umzubringen.« Olivias Worte katapultierten Hunter zurück ins Hier und Jetzt. »Und dann ist mir eins klargeworden: Wer sich selbst töten kann, der kann töten. So einfach ist das. Und ich habe mir geschworen, dass ich selbst für Gerechtigkeit sorgen würde, ganz egal, was auch geschieht. Für meine Mutter. Sie hat Gerechtigkeit verdient.«
Ihr Blick geisterte ziellos durch den Raum.
»Die Idee ist mir wie im Traum gekommen. Als wäre meine Mutter da gewesen und hätte mir gesagt, was ich tun soll. Als hätte sie mir den Weg gezeigt. Mein Va…« Wieder flackerte dieser unbändige Zorn in ihren Zügen auf. »Derek Nicholson hatte ein Faible für Mythologie. Er las ständig irgendwelche Bücher darüber und warf mit Zitaten um sich. Da fand ich es nur angemessen, aus ihm ein mythologisches Symbol zu machen.« Sie zog den Schlitten von Hunters Waffe zurück und lud sie durch.
Es war Zeit für den letzten Akt.